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Schwerpunkt

Armutsbericht 2024: Armut in der Inflation

Ein 20-Euro-Geldschein vor dunklem Hintergrund, der Schein löst sich in seine Bestandteile auf.
AdobeStock/Ilja
Seit 1989 veröffentlicht der Paritätische Gesamtverband regelmäßig seine "Paritätischen Armutsberichte" zu unterschiedlichen Schwerpunkten.

Paritätischer Armutsbericht 2024: Armut in der Inflation.

Die Armut in Deutschland verharrt auf hohem Niveau, so das Ergebnis des neuen Paritätischen Armutsberichts: 16,8 Prozent der Bevölkerung leben nach den jüngsten Zahlen in Armut, wobei sich im Vergleich der Bundesländer große regionale Unterschiede zeigen. Fast zwei Drittel der erwachsenen Armen gehen entweder einer Arbeit nach oder sind in Rente oder Pension, ein Fünftel der Armen sind Kinder. Der Paritätische sieht wesentliche armutspolitische Stellschrauben daher insbesondere in besseren Erwerbseinkommen, besseren Alterseinkünften und einer Reform des Kinderlastenausgleichs.

„Die Befunde sind durchwachsen, aber einen Grund zur Entwarnung gibt es nicht”, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. So scheine der Trend stetig wachsender Armut auf Bundesebene zwar auf den ersten Blick gestoppt, aber noch lange nicht gedreht. Nach dem Armutsbericht müssen 14,2 Millionen Menschen in diesem reichen Land zu den Armen gezählt werden. 2022 waren damit fast eine Million Menschen mehr von Armut betroffen als vor Pandemie, Energie- und Preiskrise im Jahr 2019 und 2,7 Millionen mehr als 2006. Insbesondere Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Menschen mit schlechten Bildungsabschlüssen oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind von Armut betroffen. Auf einen neuen traurigen Rekordwert ist nach der Studie zudem die Kinderarmut gestiegen: Mehr als jedes fünfte Kind ist mittlerweile von Armut betroffen (21,8 Prozent). Unter Alleinerziehenden lag die Armutsquote bei 43,2 Prozent.

Galerie: Zentrale Ergebnisse des Paritätischen Armutsberichtes 2024 (für größere Ansicht anklicken)

Im Vergleich der Bundesländer zeigen sich große regionale Unterschiede. Während in Bayern jede achte Person von Armut betroffen ist, ist es in Sachsen-Anhalt, Nordrhein- Westfalen und Hamburg jede fünfte Person, in Bremen sogar fast jede dritte. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Armut in Berlin besonders stark gesunken (von 20,1 auf 17,4 Prozent), während sie in Hamburg, in Schleswig-Holstein und im Saarland besonders stark gestiegen ist.

Der Paritätische fordert die Bundesregierung zu einer entschlossenen Armutspolitik auf. Dazu gehört aus Sicht des Verbandes unter anderem die Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro, der Ausbau der Kinderbetreuung, eine Kindergrundsicherung, die vor Armut schützt und eine solidarische Pflegeversicherung als Vollversicherung.

Galerie: Grafiken aus dem Armutsbericht 2024 (für größere Ansicht anklicken)

Methodische Hinweise

Die Armutsquoten, mit denen in diesem Bericht gearbeitet werden, beruhen auf dem sogenannten Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes. Der
Mikrozensus ist die mit Abstand valideste Datengrundlage zur Berechnung von Armutsquoten in Deutschland (Näheres zum Mikrozensus: Statistisches Bundesamt (2023): Qualitätsbericht Mikrozensus 2022.).  Beim Mikrozensus (kleine Volkszählung) wird nach einer Zufallsstichprobe jährlich etwa ein Prozent aller Haushalte in Deutschland befragt (367.000 Haushalte bzw. 733.000 Personen). Der Stichprobenumfang ist damit weitaus größer als beim Sozioökonomischen Panel des DIW mit rund 15.000 Haushalten und 30.000 Personen, das ebenfalls zur Berechnung von Armutsquoten herangezogen wird. Ein weiterer ganz entscheidender
Vorteil des Mikrozensus liegt in der Tatsache, dass die Teilnahme gesetzlich verpflichtend ist. Für die wesentlichen Fragen, so auch über das Nettoeinkommen
des Haushaltes, besteht Auskunftspflicht. Entsprechend gering ist in den vergangenen Jahren die Zahl der statistischen Ausfälle von Befragten gewesen. Bis einschließlich 2019 gab es zusätzlich die gesondert erhobene EU-Einkommensstatistik EU-SILC, bei der 14.000 Haushalte befragt wurden. Diese ist 2020 in den Mikrozensus integriert worden. Im Kernprogramm wird dabei die einprozentige Stichprobe des Mikrozensus befragt, während für zusätzliche Befragungen zur Arbeitsmarktintegration, zu Einkommens- und Lebensbedingungen sowie zu Informations- und Kommunikationstechnologien Unterstichproben gezogen werden (Hundeborn, Janina / Enderer, Jörg (2019): Die Neuregelung des Mikrozensus ab 2020, in: WISTA Wirtschaft und Statistik 6/2019, S. 9-17.).

Ab dem Erhebungsjahr 2020 werden sowohl Erst- als auch Endergebnisse des Mikrozensus veröffentlicht. Die Armutsquoten dieses Berichts basieren auf den Endergebnissen aus dem Kernprogramm des Mikrozensus 2022. Die Mikrozensusergebnisse ab 2020 sind auf Grund einer neuen Erhebungsweise (Einführung eines elektronischen Selbsterhebungsinstruments) und Modifikationen in der Hochrechnung nur eingeschränkt mit denen aus 2019 und früher vergleichbar. Dies muss bei einer Gegenüberstellung und Interpretation der Ergebnisse aus den Erhebungen ab 2020 mit den Vorjahren bedacht werden, auch wenn die Validität der
Armutsquoten ab 2020 gegeben ist.

Das Statistische Bundesamt und auch dieser Armutsbericht folgen einer etablierten EU-Konvention, was die Definition und die Berechnung von Armut anbelangt. In Abkehr von einem sogenannten absoluten Armutsbegriff, der Armut an existenziellen Notlagen wie Obdachlosigkeit oder Nahrungsmangel festmacht, ist der in Wissenschaft und Politik etablierte Armutsbegriff ein relativer. Arm sind demnach alle, die über so geringe Mittel verfügen, „dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“, wie es im entsprechenden Kommissionsbericht der EU von 1983 heißt (Kommissionsbericht der europäischen Gemeinschaft (1983): Schlußbericht
der Kommission an den Rat über das erste Programm von Modellvorhaben und
Modellstudien zur Bekämpfung der Armut. Brüssel.).

Dieser EU-Konvention folgend zählt dieser Bericht jede Person als einkommensarm, die mit ihrem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Dabei handelt es sich um das gesamte Nettoeinkommen des Haushaltes inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag, anderer Transferleistungen oder sonstiger Zuwendungen.

Das Konzept relativer Einkommensarmut zeichnet sich durch die Annahme aus, dass in unterschiedlich wohlhabenden Gesellschaften Armut sehr unterschiedlich aussehen kann und vor allem durch gesellschaftlichen Ausschluss, mangelnde Teilhabe und nicht erst durch Elend gekennzeichnet ist. Es geht weiter davon aus, dass Armut ein dynamisches gesellschaftliches Phänomen ist. Mit zunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft verändern sich Lebensweisen und es können neue Barrieren der Teilhabe entstehen, wenn dieser Wohlstand nicht alle relativ gleichmäßig erreicht. So kann nach diesem Konzept auch – oder gerade – bei wachsendem Reichtum (und zunehmender Einkommensspreizung) Armut in einer Gesellschaft durchaus zunehmen, selbst wenn die Kaufkraft aller im Durchschnitt steigen sollte. Das Konzept der relativen Einkommensarmut setzt damit ein soziologisch anspruchsvolles Verständnis für den Zusammenhang von Wohlstandssteigerung, sich herausbildenden „Lebensweisen“ und Alltagsvollzügen und damit korrespondierenden Ausgrenzungsprozessen voraus (Vgl. zum Konzept der relativen Einkommensarmut ausführlich: Schneider, Ulrich (2015): Armut kann man nicht skandalisieren, Armut ist der Skandal, in: Schneider, Ulrich (Hg.): Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen. Frankfurt am Main.).

Mit der Präferierung des Konzeptes relativer Einkommensarmut soll die Relevanz von Konzepten eines Lebenslagenansatzes oder solchen, die Armut als „Mangel an Teilhabe“ oder „Mangel an Verwirklichungschancen begreifen“, keinesfalls in Abrede gestellt werden. Ebenso wenig wird die Relevanz öffentlicher Infrastruktur oder nicht-monetärer Ressourcen angezweifelt. Doch trägt das Konzept relativer Einkommensarmut der Tatsache Rechnung, dass Geld und Einkommen tatsächlich die entscheidende „Schlüsselressource“ darstellen, geht es um Teilhabemöglichkeiten und Verwirklichungschancen in dieser Gesellschaft (Siehe dazu auch Christoph Butterwegge (2015): Armut – sozialpolitischer Kampfbegriff oder ideologisches Minenfeld? – Verdrängungsmechanismen, Beschönigungsversuche, Entsorgungstechniken, in: Ulrich Schneider (Hg.), Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen. Frankfurt am Main.)

Aus Sicht des Paritätischen ist die 60-Prozent-Schwelle ein sehr guter Indikator, um Armut methodisch zu definieren und messbar zu machen. Mit der 60-Prozent-Marke wird eine Schwelle markiert, bei deren Unterschreiten Teilhabe an der Mitte dieser Gesellschaft in den meisten Fällen nicht mehr möglich und faktische Ausgrenzung die Folge ist. Der Paritätische Armutsbericht 2018 sowie die Studie „Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Lebens mit Hartz IV” aus 2020 (Aust, Andreas (2020): Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Leben mit Hartz IV. Berlin: Der Paritätische Gesamtverband.) konnten auf Grundlage der Daten des DIW aufzeigen, dass Arme, gemessen an der 60-Prozent-Schwelle, in der Regel über keinerlei finanzielle Rücklagen verfügen, vielfache Versorgungslücken und Entbehrungen aufweisen und schließlich hinsichtlich der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben „fundamental eingeschränkt“ sind (Der Paritätische Gesamtverband (2018): Wer die Armen sind. Der Paritätische Armutsbericht 2018. Berlin, S. 41 ff.). Unterhalb der 60-Prozent-Schwelle herrscht damit Armut. Die häufig synonym verwandte Bezeichnung der „Armutsgefährdung“ übernimmt dieser Bericht nicht, da dieser Begriff angesichts der Einkommen, um die es konkret geht und der sich dahinter verbergenden massiven Armutsprobleme als Euphemismus angesehen werden muss.

Bei der Berechnung der Armutsquoten sind zwei statistische Besonderheiten zu beachten: Beim mittleren Einkommen handelt es sich nicht um das geläufige Durchschnittseinkommen. Dieses wird ermittelt, indem man alle Haushaltseinkommen addiert und die Summe dann durch die Anzahl der Haushalte teilt (arithmetisches Mittel). Es wird stattdessen der sogenannte Median, der mittlere Wert, errechnet: Alle Haushalte werden nach ihrem Einkommen der Reihe nach geordnet, wobei das Einkommen des Haushalts in der Mitte der Reihe den Mittelwert bzw. Median darstellt.

Der Unterschied zwischen arithmetischem Mittel und Median kann sehr groß sein. Ein Beispiel: Verfügen fünf Haushalte jeweils über ein Einkommen von 700 Euro, 1.300 Euro, 1.900 Euro, 6.500 Euro und 9.000 Euro, so haben sie im Durchschnitt (700 + 1.300 + 1.900 + 6.500 + 9.000) : 5 = 3.880 Euro. Der mittlere Wert (Median) wäre jedoch 1.900 Euro. Die mit dem Median errechnete Armutsschwelle und die sich daraus ableitenden Armutsquoten sind damit sehr „stabil“: Die Haushalte im oberen Bereich können reicher und reicher werden. Solange der Haushalt in der Mitte der Rangreihe keinen Einkommenszuwachs hat, hat dies keinerlei Einfluss auf die Armutsquoten.

Der erste Armutsbericht der Bundesregierung aus dem Jahre 2001 wies noch beide Armutsquoten aus, die mit dem arithmetischen Mittel und die mit dem Median errechnete, und tatsächlich lag die erstere (10,2 Prozent) deutlich höher als die letztere (6,2 Prozent). Seitdem wird nur noch der Median ausgewiesen (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (2001): Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bonn, S. 26/29.)

Die andere wichtige statistische Besonderheit betrifft die Berechnung des Haushaltseinkommens selbst. Um Haushalte unterschiedlicher Größe in ihrem Einkommen und in ihren Bedarfen vergleichbar zu machen, wird das sogenannte Pro-Kopf-Haushaltsäquivalenzeinkommen ermittelt. Dabei wird das Gesamteinkommen eines Haushalts nicht einfach durch die Zahl der Haushaltsmitglieder geteilt, um das Pro-Kopf-Einkommen zu ermitteln, es wird vielmehr jedem Haushaltsmitglied eine Äquivalenzziffer zugeordnet. Das erste erwachsene Haushaltsmitglied bekommt eine 1, alle weiteren Haushaltsmitglieder ab vierzehn Jahren eine 0,5 und unter vierzehn Jahren eine 0,3. Beträgt das Haushaltseinkommen eines Paares mit zwei Kindern unter 14 Jahren 4.000 Euro, ist das so gewichtete Pro-Kopf-Einkommen also nicht etwa 4.000 : 4 = 1.000 Euro, sondern 4.000 : (1 + 0,5 + 0,3 + 0,3) = 1.905 Euro. Es wird also nicht durch die Zahl der Personen, sondern durch die Summe der Äquivalenzziffern (in diesem Falle 2,1) geteilt. Damit soll der Annahme Rechnung getragen werden, dass Mehrpersonenhaushalte günstiger haushalten können als Singles und dass Kinder angeblich keine so hohen Bedarfe haben wie Erwachsene oder Jugendliche. Die Setzung dieser Äquivalenzziffern entspricht einer Konvention, die nicht unbedingt reale Verhältnisse beschreibt. Umgekehrt wird zur Bestimmung der 60-Prozent-Armutsschwelle für diesen vierköpfigen Haushalt von zwei Erwachsenen und zwei kleineren Kindern die 60-Prozent-Schwelle eines Singles nicht etwa mit 4, sondern wiederum mit der Summe der Äquivalenzziffern 2,1 multipliziert. In Euro lag der so ermittelte Wert, den die amtliche Statistik als Armutsgefährdungsschwelle bezeichnet, 2022 für Singles bei 1.186 Euro, für Alleinerziehende mit einem kleinen Kind bei 1.542 Euro und für einen Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern bei 2.490 Euro (Tabelle 8).

Bei der Berechnung der Armutsquoten werden dabei alle Personen gezählt, die in Haushalten leben, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. Da bei den Armutsanalysen das Haushaltseinkommen herangezogen wird, ein entsprechender Wert für Personen in Gemeinschaftsunterkünften jedoch nicht vorliegt, werden lediglich Menschen gezählt, die einen eigenen Haushalt führen. Dies ist insofern von Bedeutung, als damit große relevante Gruppen außen vor bleiben. Sie reichen von wohnungslosen Menschen über Menschen in Pflegeeinrichtungen oder in Wohnheimen der Behindertenhilfe bis hin zu Strafgefangenen oder Geflohenen in Gemeinschaftsunterkünften.

Gelegentlich wird eingewandt, dass doch beispielsweise in Duisburg ein ganz anderes Preisniveau herrschen würde als etwa in München und auch aus diesem Grunde eine gemeinsame Armutsschwelle für München, Berlin und Duisburg in die Irre führen müsse. Dieser Einwand ist durchaus diskussionswürdig und theoretisch sehr berechtigt. Das Problem liegt allerdings darin, dass eine tragfähige Kaufkraftbereinigung regionaler Armutsquoten mangels geeigneter Daten trotz wissenschaftlichen Fortschritts in diesem Bereich derzeit schlicht nicht möglich ist.

Der aktuell wohl vielversprechendste Ansatz hierzu entstammt einem Modellversuch vom IW Köln und dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR / IW Köln (2023): Regionaler Preisindex für Deutschland – ein neuer Erhebungsansatz mit Big Data, Bonn/Köln.). Auf Grundlage von online verfügbaren Daten zu Preisen verschiedener Güter, die sich am Warenkorb des Statistischen Bundesamts zur Berechnung des Preisindex für Lebenshaltung orientieren, berechnen sie regionale Preisindizes auf Ebene von Landkreisen und kreisfreien Städten.

Um diese Daten für die Berechnung kaufkraftbereinigter regionaler Armutsquoten zu nutzen, besteht allerdings die Hürde, dass die Studie mit einem einheitlichen Warenkorb für alle Haushalte arbeitet. Damit werden gleich mehrere empirische Voraussetzungen, die zur Berechnung von regionalen Lebenshaltungskosten armer Haushalte gegeben sein müssten, nicht erfüllt: Es bleibt außer Acht, dass Warenkörbe regional sehr unterschiedlich aussehen. So dürfte in ländlichen Gegenden weniger Geld für das Wohnen, dafür aber mehr Geld für Mobilität ausgegeben werden, um ein einfaches Beispiel zu bemühen. Weiterhin wird ausgeblendet, dass der Warenkorb eines einkommensschwachen Haushaltes zwangsläufig anders aussieht als der eines Durchschnittsverdienenden. Man benötigte spezifische Warenkörbe, wie sie vom Statistischen Bundesamt bis 2003 auch tatsächlich noch bereitgestellt wurden, etwa die Lebenshaltungskosten für Haushaltstypen wie „4-Personen-Haushalte von Beamten und Angestellten mit höherem Einkommen“ oder „2-Personen-Haushalte von Renten- und Sozialhilfeempfängern mit geringem Einkommen“. Seitdem gibt es jedoch lediglich einen Verbraucherpreisindex für alle, obwohl das Verbrauchsverhalten und die Konsumgewohnheiten je nach verfügbarem Einkommen ganz erheblich differieren. Auch wenn das Erkenntnisinteresse entsprechender Studien durchaus nachvollziehbar ist, sind derartige Berechnungen angesichts der weiterhin mangelnden Datenlage aus methodischen Gründen für die Berechnung regionaler, kaufkraftbereinigter Armutsquoten nicht geeignet.

Regelmäßig wird bei der Berechnung von Armutsquoten neu die Frage gestellt, ob es wirklich sinnvoll sei, eine einheitliche Armutsschwelle für die gesamte Bundesrepublik als Messlatte anzusetzen. Können Einkommensverhältnisse in Mecklenburg-Vorpommern überhaupt mit denen in Bayern oder Baden-Württemberg verglichen werden? Darf man Bremen und Hamburg „über einen Kamm scheren“? Muss nicht jedes Bundesland mit seiner eigenen Armutsschwelle vermessen werden?

Diese Frage ist berechtigt. Sie ist jedoch nicht nur methodischer, sondern mindestens genauso politischer Natur. Wenn für jedes Bundesland das jeweils spezifische Einkommensniveau zur Grundlage der Berechnungen gemacht wird und damit auch eigene Armutsschwellen, kann im strengen Sinne überhaupt kein Ländervergleich mehr vorgenommen werden, da der gemeinsame Maßstab, das mittlere Einkommen aller in Deutschland Lebenden, abhanden kommt. Bei einer solchen Betrachtung hätte Mecklenburg-Vorpommern schlagartiger weniger Armut als Bayern. Hat Mecklenburg-Vorpommern bei bundesweiter Betrachtung eine Armutsquote von 18,8 Prozent und Bayern von gerade einmal 12,6 Prozent, so wären es bei einer rein regionalen Betrachtung in Mecklenburg-Vorpommern nur noch 14,3, in Bayern aber 15,1 Prozent. Für diesen Bericht bleibt deshalb die grundgesetzlich verankerte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und damit die Orientierung am Bundesmedian die Richtschnur.

Fragen und Antworten zum Armutsbericht

Die Armutsquoten im Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes beruhen auf dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes. Beim Mikrozensus wird nach einer Zufallsstichprobe jährlich etwa ein Prozent aller Haushalte in Deutschland befragt: circa 367.000 Haushalte bzw. 733.000 Personen. Der Mikrozensus ist die mit Abstand valideste Datengrundlage zur Berechnung von Armutsquoten in Deutschland. Der große Stichprobenumfang erlaubt eine tiefe fachliche und regionale Auswertung.

Das Statistische Bundesamt veröffentlicht auf Basis des Mikrozensus zwei unterschiedliche Armutsgefährdungsquoten. Der Paritätische nutzt jene Quote, die auf dem Mikrozensus-Kernprogramm beruht. Sie erlaubt tiefere fachliche und regionale Auswertungen und liefert die aktuelleren Daten. Daneben veröffentlicht das Statistische Bundesamt eine Armutsgefährdungsquote auf Grundlage einer Unterstichprobe des Mikrozensus zu Einkommen und Lebensbedingungen (MZ-SILC). Diese erlaubt einen EU-weiten Vergleich der Quoten. Neben dem geringeren Stichprobenumfang im Vergleich zum Mikrozensus-Kernprogramm ist zu beachten, dass bei “MZ-SILC” das Einkommensreferenzjahr des Vorjahres der Erhebung maßgeblich ist. Die Armutsgefährdungsquoten 2022 beziehen sich bei dieser Erhebung also auf die Einkommen aus dem Jahr 2021.

Der Armutsbericht des Paritätischen bezeichnet jede Person als einkommensarm, die mit ihrem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Dem Armutsbericht liegt also das Konzept relativer Einkommensarmut zugrunde. Es zeichnet sich durch die Annahme aus, dass in unterschiedlich wohlhabenden Gesellschaften Armut sehr unterschiedlich aussehen kann und vor allem durch gesellschaftlichen Ausschluss, mangelnde Teilhabe und nicht erst durch Elend gekennzeichnet ist. Es geht weiter davon aus, dass Armut ein dynamisches gesellschaftliches Phänomen ist. Mit zunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft verändern sich Lebensweisen und es können neue Barrieren der Teilhabe entstehen, wenn dieser Wohlstand nicht alle relativ gleichmäßig erreicht. Mit diesem Armutsbegriff folgt der Paritätische wie auch das Statistische Bundesamt der in Wissenschaft und Politik etablierten Definition von Armut.

Der Paritätische nutzt nicht den häufig verwandten Begriff der „Armutsgefährdung“, da dieser angesichts der Einkommen, um die es konkret geht und der sich dahinter verbergenden massiven Armutsprobleme, als Euphemismus angesehen werden muss. Mit der 60-Prozent-Marke wird eine Schwelle markiert, bei deren Unterschreiten Teilhabe an der Mitte dieser Gesellschaft in den meisten Fällen nicht mehr möglich und faktische Ausgrenzung die Folge ist. Der Paritätische Armutsbericht 2018 sowie die Studie „Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Lebens mit Hartz IV” aus 2020 konnten auf Grundlage der Daten des DIW aufzeigen, dass Arme, gemessen an der 60-Prozent-Schwelle, in der Regel über keinerlei finanzielle Rücklagen verfügen, vielfache Versorgungslücken und Entbehrungen aufweisen und schließlich hinsichtlich der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben „fundamental eingeschränkt“ sind. Unterhalb der 60-Prozent-Schwelle herrscht damit Armut.