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Nur noch schnell ein Leben retten

Bei einem Notfall wählt man die 112 und dann kommt der Rettungsdienst. Mit dem Smartphone in der Tasche kann man aber bekanntlich nicht nur telefonieren. Im Notfall kann man jetzt auch eine App nutzen, der Arbeiter-Samariter-Bund in Schleswig-Holstein macht‘s vor.

Bea Klatte kniet auf dem Boden und presst auf den Brustkorb der vor ihr liegenden Gestalt. Um sie herum stehen Männer und Frauen in den blauen Uniformen der Freiwilligen Feuerwehr Vaale-Nutteln. Die Stimmung ist entspannt, dies ist nur eine Übung. Dennoch wissen alle im Raum, worum es geht: Leben zu retten.

Das klappt in Deutschland seltener als anderswo. Jährlich sterben bundesweit 100.000 Menschen am so genannten plötzlichen Herztod. Viele wären zu retten, wenn Anwesende buchstäblich beherzter eingreifen würden. In Schleswig-Holstein sorgt der Landesverband des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) in einem Modellversuch dafür, dass Ersthelfer schnell zum Einsatzort gelangen. Dabei hilft eine App. Schon 6000 Freiwillige haben sich den digitalen Alarmknopf heruntergeladen. Klatte beendet die Wiederbelebung der Trainingspuppe und streicht sich das Haar aus der Stirn: Ob Übung oder nicht, die Prozedur ist anstrengend. Pressen, kurz loslassen, wieder pressen – das ist der Überlebensrhythmus. Es gibt Musikstücke, deren Takt wie gemacht dafür ist, etwa der Disco-Klassiker „Stay-stay-stay-stay – staying alive“. Klattes Vorschlag, man könne auch die ACDC-Hymne „Highway to hell“ im Takt mitsumen, stößt beim Übungsnachmittag in dem kleinen Ort im südlichen Schleswig-Holstein auf Protest der Feuerwehrleute: „Zu makaber.“

54 Mitglieder hat die Wehr, alles Ehrenamtliche. Zu rund 20 Einsätzen müssen sie pro Jahr ausrücken, berichtet Feuerwehrmann Thomas Schallhofer. Meist gehe es um technische Hilfen oder Unfälle mit Tieren: „Eine Kuh im Weiler hatten wir schon, und neulich steckte ein Pferdehuf im Gestänge fest.“ Aber sie haben auch schon die harten Einsätze erlebt, Brände, Unfälle mit Schwerverletzten und Sterbenden. Dafür trainieren sie. Über 1000 Gemeinden gibt es in Schleswig-Holstein, viele Dörfer und Gehöfte, die einsam zwischen Äckern liegen. Weite Wege für Rettungswagen, mit gefährlichen Folgen, denn bei einem Herzstillstand beginnt das Gehirn schnell abzusterben. Drei Minuten ohne Sauerstoff gelten als Grenze, bis zu der ein Mensch ohne größere Schäden vom Tod zurückgeholt werden kann.

Unsicherheit bei Nicht-Profis

„Mich erschreckt am meisten, dass fast immer andere Leute beobachten, wenn jemand mit einem Herzstillstand zusammenbricht“, sagt Übungsleiterin Bea Klatte, die ehrenamtlich für den ASB tätig ist. Auch im eigenen Umfeld hat sie einen solchen Fall erlebt: „Der Vater einer Freundin fiel um, Familienmitglieder und Freunde fanden ihn – keiner hat mit der Wiederbelebung begonnen.“ Deutschland steht bei der Zahl so genannter Laienrettungen im europäischen Vergleich weit hinten: Nur in rund 30 Prozent der begonnenen Reanimationen trauen sich Nicht-Profi s zu helfen. In Holland und den skandinavischen Ländern sind es 60 bis 80 Prozent. „Hier setzt unser Projekt an“, sagt Stephan Andersen, Referent für Notfallversorgung beim ASB Schleswig-Holstein. Denn die mangelnde Hilfsbereitschaft entstehe nicht aus bösem Willen, sondern aus Unsicherheit.

So geht es im Projekt „Saving Life“, für das sich der ASB und die Dansk Folkehjælp (Dänische Volkshilfe) zusammengetan haben, zuerst darum, neue Ersthelfer auszubilden. Mit finanzieller Unterstützung aus EU-Mitteln bieten beide Vereine in Deutschland und Dänemark über mehrere Jahre je 190 Erste-Hilfe-Kurse an. Die Zielgruppe sind hauptsächlich Menschen, die sich mit Notfall-Situationen auskennen, etwa Feuerwehrleute. „Wir haben gehofft, dass viele von ihnen bereit sind, auch den zweiten Schritt zu gehen“, sagt Andersen. „Und bisher läuft es tatsächlich noch besser als erwartet.“ Dieser zweite Schritt ist der Kern des Projekts „Saving Life“. Die Paritätische Mitgliedsorganisation hat eine App entwickeln lassen, mit der ausgebildete Ersthelfer über die Leitstelle informiert und zu einem Bewusstlosen geleitet werden. Die „Saving Life“-Smartphone- Applikation ähnelt der Ersthelfer-App „Meine Stadt rettet“ der Münchener Firma Ecorium. Kein Zufall, erklärt Andersen: Tatsächlich arbeiten der ASB-Landesverband und Ecorium zusammen. Dritter Partner ist das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein mit dem Institut für Rettungs- und Notfallmedizin (IRuN) in Kiel.

Das Verfahren ist für die Beteiligten einfach: Freiwillige installieren die App auf ihrem Smartphone. Sie geben dabei an, ob sie eine medizinische Ausbildung besitzen oder jüngst einen Lebensrettungskursus absolviert haben. Erhält die Leitstelle einen Notruf, sehen die Disponenten die eingeschalteten Smartphones als Signale auf ihrem Bildschirm. Helfer, die in der Nähe des Bewusstlosen sind, werden automatisch über die App angefragt: „Wir stellen uns sozusagen im Namen des Hilfesuchenden an die Straße und rufen um Hilfe“, sagt Sebastian Wenk, Disponent in Schleswig-Holsteins Rettungsleitstelle Süd. Hier wird die App-Technik seit Herbst 2018 eingesetzt, seit Dezember ist sie in den Regelbetrieb übernommen. Wenk sieht große Vorteile. Zwar erfahre die Leitstelle nur selten, was nach dem Rettungseinsatz mit den Patienten geschehe, aber die App hole einen Zeitvorteil heraus, eben jene kostbaren Minuten, die zwischen Leben und Tod, Gesundheit und Hirnschaden liegen.

Nichthandeln führt zum Tod

Bedenken habe die Leitstelle nicht, wenn sie Wildfremde zum Retten schickt, schließlich führt Nichthandeln immer zum Tod – jede Hilfe ist besser als keine. „Die Angehörige, die uns anrufen, sind meist emotional belastet und freuen sich, wenn schnell jemand kommt“, sagt Wenk. „Und wer sich die App herunterlädt, muss einen aktuellen Lebensrettungskursus nachweisen, ist also fähig zu helfen.“ Die Helfer dürfen jederzeit ohne Angabe von Gründen einen Ruf ablehnen, betont Stephan Andersen vom ASB: „Man muss sich nicht rechtfertigen, ob man gerade unter der Dusche steht, seine Kinder betreut oder arbeitet. Es geht nur darum, ob man schnell vor Ort sein kann.“ Die App kann zeitweise deaktiviert werden, etwa während der Arbeitsstunden. Denn ehrenamtliche Ersthelfer sind zwar während des Einsatzes versichert, erhalten aber keine Entschädigung für etwaigen Lohnausfall. „Aber wenn wir in Unternehmen Wiederbelebungs-Trainings veranstalten und die Saving-Life-App vorstellen, erhalten wir eigentlich immer die Zu- sage, dass Leute ohne Nachteile zum Rettungs-Einsatz gehen dürfen“, betont Andersen.

Im Idealfall werden drei Ersthelfer zu einem Bewusstlosen geschickt: Der erste beginnt mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung. Der zweite holt einen Defibrillator, der dritte kann Angehörige beruhigen oder dem Notarzt den Weg zeigen. Denn der Rettungswagen wird natürlich gleichzeitig in Bewegung gesetzt. Durch die Zusammenarbeit mit dem Rettungswesen in Dänemark soll es mittelfristig möglich sein, im Grenzgebiet Ersthelfer aus beiden Staaten zu alarmieren. Inzwischen sind mehrere Leitstellen in Schleswig-Holstein beteiligt, und immer mehr Freiwillige laden sich die App herunter. „Auch nach Ende der Modellphase 2020 wird das Projekt bleiben“, sagt Stephan Andersen. Er wünscht sich, dass die Idee, die im vergangenen Dezember mit dem ersten Preis des Wettbewerbs „Helfende Hand“ des Bundesinnenministeriums ausgezeichnet wurde, auch in anderen Ländern übernommen wird: „Nachmachen erlaubt!“

Bea Klatte, die das Training für die Feuerwehrleute in Vaale-Nutteln leitet, hat die Saving-Life-App bereits auf ihrem Smartphone, musste sie aber in jüngster Zeit oft ausschalten: „Ich habe Abi-Prüfungen geschrieben, da hätte ich leider nicht zu einem Einsatz gehen können“, sagt die 19-Jährige. Das Thema Lebensrettung begleitet sie von kleinauf: „Meine Mutter war Sanitäterin bei der Bundeswehr, inzwischen arbeitet sie beim ASB.“ So fing auch die Tochter als Ehrenamtliche dort an. „Erst, um meine Mutter öfter zu sehen, dann aus Spaß am Helfen.“ Nun macht die Gymnasiastin aus ihrer Leidenschaft einen Beruf: Im Herbst beginnt sie eine Pflegeausbildung. Bis dahin wird sie ihre „Saving life“-App häufiger aktivieren – und kann vielleicht mal eben einen Menschen retten.

Autorin:

Esther Geißlinger

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de