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Die Notlösung als Dauerzustand

Seit fast zwei Jahren lebt Tara C. mit ihrer Tochter im Frauenhaus. Was einst als Notlösung gedacht war, ist inzwischen ein Dauerzustand. Ihr größter Wunsch: nicht mehr abhängig zu sein.

Tara C.* öffnet die Immobilien-App auf ihrem Handy und scrollt durch die Nachrichten, die sie an Wohnungsanbieter verschickt hat. „Seit März 2017 bestimmt tausend“, sagt sie. Zusätzlich hat sie sich auf Zeitungsanzeigen gemeldet und sich persönlich bei Wohnungsbaugesellschaften vorgestellt. Herausgekommen sind bis jetzt magere sieben Besichtigungstermine. Und keiner brachte den ersehnten Mietvertrag.

Manche Vermieter sagten es ganz unverhohlen: "Eine Frau aus Afghanistan mit Kind und ohne Job - keine Chance!", erzählt die 26-Jährige. Die Miete würde zwar das Jobcenter übernehmen. Aber für 370 Euro ist so gut wie nichts zu finden im südlichen Hessen. Und Tara würde gerne dort bleiben. Sie und Samira*, ihre zehnjährige Tochter, fühlen sich in der Stadt im Odenwald inzwischen heimisch. Samira ist in ihrer Schulklasse bestens integriert. Doch ein heikles Thema sind Besuche von Freundinnen. Die anderen Mädchen haben alle ein "richtiges Zuhause", nur Samira nicht.

Nicht einmal zehn Quadratmeter

Sie und ihre Mama teilen sich seit Februar 2017 ein Zimmer im Bensheimer Frauenhaus. Nicht einmal zehn Quadratmeter groß ist es. Zwei Betten, ein Kleiderschrank, ein Tisch, zwei Stühle und eine Kommode sind das Mobiliar. Mehr passt nicht in den engen Raum. Ein Blick genügt, um zu erkennen: Die beiden brauchen dringend eine Wohnung. Und sie sind nicht die einzigen hier im Frauenhaus, denen es so geht.  Sieben Frauen mit ihren Kindern leben hier schon zwischen sechs Monaten und länger als einem Jahr, weil sie keine Wohnung finden, sagt Iris Tremel vom Frauenhaus Bergstraße in Bensheim. Nahezu drei Viertel der schutzsuchenden Frauen müssten wegen Platzmangel daher abgewiesen werden.

Tara C. zieht unter dem Bett zwei Plastikkörbe hervor. "Hier sind die Mal- und Bastelsachen drin." Malen, basteln, lesen, kochen, Freundinnen treffen und in der Natur unterwegs sein - das zählt zu den positiven Dingen im Leben der beiden. Und sie schätzen sich glücklich, all das zu haben. Und vor allem, in Frieden, Freiheit und Sicherheit zu leben. Denn es ist für sie nicht selbstverständlich.

Der Mann entscheidet

Ein Blick zurück: Tara ist 15, als ihre Eltern sie mit einem mehr als zehn Jahre älteren Mann verheiraten. Schon bald wird Samira geboren. Die Familie gehört zu den Hazara, einer diskriminierten Minderheit in Afghanistan. "Unser Leben war nicht sicher in unserer Heimat", sagt Tara. Mit Mann und Tochter flieht sie zunächst nach Iran, dann zu Fuß über die Berge in die Türkei. Auf einem Schlauchboot setzen sie nach Griechenland über. "Wir waren mehr als 40 Leute auf diesem wackligen Boot. Ich habe die ganze Zeit gedacht, wir kippen um und ertrinken", erinnert sich Tara. Von Griechenland führt der Weg nach Österreich und weiter nach Deutschland. "Mein Mann hat das alles entschieden", sagt die 26-Jährige.

Auch in Deutschland im Flüchtlingsheim ist er es, der entscheidet. Und er findet es nicht in Ordnung, wenn seine Frau mit Männern spricht oder seine kleine Tochter mit den Jungs im Flüchtlingsheim spielt. Das gehöre sich nicht. Aber immerhin duldet er, dass seine Frau im Sprachkurs Deutsch lernt. Tara hat zwar von klein auf erfahren, dass Frauen sich dem Mann unterzuordnen haben, aber sie hat auch Selbstbewusstsein und ist hungrig nach Bildung. Die junge Frau hat zu Hause das Abitur gemacht und ihrem Mann abgerungen, englische Literatur studieren zu dürfen. "Aber er hätte mir nie erlaubt arbeiten zu gehen."

Nach Messer-Attacke ins Frauenhaus

Als Tara C. einen anderen Flüchtling aus der Unterkunft zum Friseur begleitet, um für ihn zu übersetzen, rastet ihr Mann aus. "Er hat gedroht, mich zu töten und hat ein Messer nach mir geworfen." Tara wird zum Glück nicht verletzt. Und sie hat Menschen, die ihr Mut machen, ihren Mann zu verlassen und mit Samira erst einmal in ein Frauenhaus zu ziehen. Hier fühlt sie sich einigermaßen sicher.

Doch dass aus der Notlösung ein Dauerzustand werden würde, hätte sie nicht gedacht. Tara spricht inzwischen gut Deutsch, derzeit besucht sie einen B2-Kurs. Sie möchte so bald wie möglich einen Beruf erlernen. Erzieherin will sie werden. "Eine Ausbildung ist wichtig. Ich will genügend Geld für mich und meine Tochter verdienen", sagt sie. "Sonst bleiben wir immer abhängig."

* Namen von der Redaktion geändert

* * Tara C. und ihre Tochter haben nach Erstveröffentlichung dieses Beitrags im Januar 2019 eine Wohnung bekommen.

Autorin:

Ulrike Bauer

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de