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#Bikeygees e.V.: Auf zwei Rädern zu mehr Gleichberechtigung

Fahrrad fahren ist für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit – in den Großstädten und auf dem Land. Anders für viele Geflüchtete, die nach Deutschland kommen. Vor allem viele Frauen und Mädchen haben noch nie auf einem Fahrrad gesessen. Der Verein #Bikeygees e.V. ändert das.

Eine junge Frau sitzt auf dem Fahrrad und tritt noch etwas unsicher in die Pedale. Links und rechts haben sich zwei Helferinnen bei ihr untergehakt und laufen neben dem Fahrrad her. Sie stellen sicher, dass die Frau nicht umfällt. Eine Runde, zwei Runden drehen sie langsam über den Verkehrsübungsplatz in Berlin Kreuzberg – und irgendwann lassen die Helferinnen los. Die Frau fährt alleine. Noch etwas wackelig, aber sie fährt. „Siehst du: Du fährst alleine! Du kannst das!“, rufen ihr die Helferinnen euphorisch zu. Das zuvor noch angespannte, fast ängstliche Gesicht der Frau breitet sich in ein großes Lächeln aus. Sie strahlt über das ganze Gesicht.

Es ist genau dieser Moment, den Annette Krüger als „magisch“ bezeichnet und der sie seit vier Jahren bei Wind und Wetter auf Verkehrsübungs- und Parkplätzen stehen lässt, um Frauen aus der ganzen Welt das Fahrradfahren beizubringen. Im Sommer 2015, als viele geflüchtete Menschen in Deutschland eintrafen, überlegten Annette Krüger und Anne Seebach, wie sie helfen könnten. „Es war ganz einfach: Wir lieben Fahrrad fahren, also haben wir uns ein paar Fahrräder geschnappt, sind in eine Notunterkunft gegangen und haben uns mit einer Gruppe Frauen einen Parkplatz zum Üben gesucht.“ Was ganz klein auf einem Supermarktparkplatz anfing, hat sich in kürzester Zeit zu einem viel besuchten Event entwickelt, und der Gründung des Vereins #Bikeygees e.V..

Auch an diesem Sonntag im Spätsommer stehen die Frauen vor dem Verkehrsübungsplatz in Kreuzberg Schlange. Viele sind weit vor der angekündigten Zeit da. „Wir müssen jetzt mit der Einführung beginnen“, ruft Annette Krüger ihr Team aus freiwilligen Helferinnen zehn Minuten vor dem eigentlichen Beginn zusammen: „Die Frauen sind ungeduldig und wollen Fahrrad fahren.“

730 Frauen das Fahrrad fahren beigebracht

Um die 80 Fahrradanfängerinnen und freiwillige Helferinnen sind gekommen. Es ist ein besonderer Tag für die #Bikeygees, es ist der vierte Geburtstag des Vereins. Stolz blickt Gründerin Annette Krüger zurück: „Bis heute haben wir 730 Frauen das Fahrradfahren beigebracht und rund 200 Sets aus Fahrrad, Weste, Helm und Schloss vergeben“.

Der Verkehrsübungsplatz in Kreuzberg bildet eine Straßenlandschaft nach – nur etwas kleiner. An der einen oder anderen Stelle hat das Wurzelwerk den Asphalt aufgebrochen. So wirkt es fast noch authentischer, „richtige Berliner Straßenverhältnisse“, sagt Annette Krüger lachend.  Nach einer kurzen Einführung – wie setzte ich den Helm richtig auf, wo ist die Bremse, in welche Richtung und vor allem auf welcher Seite darf ich fahren – geht es los. Die Frauen schließen sich in Dreierteams zusammen – eine Frau auf dem Fahrrad, zwei Helferinnen an ihrer Seite.

Eine der ersten Frauen, die auf diese Weise das Fahrradfahren mit den #Bikeygees gelernt hat, ist Mona. Sie ist 2015 mit ihrer Tochter aus Syrien nach Berlin geflüchtet. In Berlin angekommen fiel ihr eines gleich auf: „Alle fahren Fahrrad!“ und schnell stand ihr Entschluss, „auch ich muss Fahrradfahren lernen.“ Über die Sozialen Netzwerke erfuhr sie von dem offenen Training der #Bikeygees und probierte es aus.

Das war für sie ein großer Schritt: „In Syrien dürfen Frauen nicht Fahrrad fahren“, erzählt Mona und erinnert sich: „Als ich klein war, habe ich mir manchmal heimlich das Fahrrad von meinem Bruder geliehen und damit geübt. Aber wenn meine Eltern das gesehen haben, habe ich Ärger bekommen.“ Jetzt fährt Mona nicht nur Fahrrad, sie ist selbst auch Coach bei den #Bikeygees und hilft Frauen aus aller Welt den Mut aufzubringen, sich auf das Fahrrad zu setzen.

Befähigen und empowern

Mit ihrer Arbeit befähigen und empowern die #Bikeygees. Durch die Möglichkeit, mit einem bezahlbaren Verkehrsmittel mobil zu sein, erhöht sich der Lebensradius der Frauen, die nach ihrer Ankunft in Deutschland ihre neue Umgebung erkunden möchten. Das Fahrradtraining soll die Frauen aus ihrem Alltag zwischen Behördengängen, Anträgen und Kinder beaufsichtigen herausholen und ihnen eine Auszeit ermöglichen. „Wir haben bei uns den Begriff Muttizeit eingeführt“, erzählt Annette Krüger. Ihre Kinder sollten die Frauen nach Möglichkeit nicht mitbringen und auch die Ehemänner würden als Besucher nicht gerne gesehen. „Ich schicke dann die Väter mit ihren Kindern auf den Spielplatz“, sagt Krüger und kann sich nicht verkneifen: „Das ist für viele auch eine ganz neue Erfahrung.“

An diesem Sonntagnachmittag scheint die Sonne in Berlin und die ersten Blätter fallen von den Bäumen. Perfektes Fahrradfahrwetter – das ist aber nicht immer so. „Einmal hat in Strömen geregnet und wir haben erst mal eine Stunde Theorie gemacht, da wir uns nicht vorstellen konnten, dass bei diesem Wetter irgendjemand raus möchte“, blickt Annette Krüger zurück. „Dann haben wir gefragt: Wer von euch möchte Fahrrad fahren? Und alle haben aufgezeigt!“  

Angst vor rassistischen Übergriffen

Auch an vier Orten in Brandenburg (Wünsdorf, Doberlug-Kirchhain, Eberswalde und Joachimsthal), in Berlin Hohenschönhausen und Berlin Lichtenrade sind die #Bikeygees unterwegs. Hier hat das Fahrradtraining noch eine ganz andere Notwendigkeit als in Berlin Kreuzberg – es geht nicht nur um Freiheit, sondern auch um Sicherheit. „Viele Frauen trauen sich auf den Dörfern abends nicht mehr auf die Straße“, sagt Annette Krüger. Zu groß sei die Angst vor rassistischen Übergriffen. Sie erzählt von einer Frau die sich lange Zeit gezwungen sah, weit vor den Abendstunden zurück im brandenburgischen Dorf anzukommen. Mit dem Fahrrad im Gepäck treffe sie jetzt auch mal später am Bahnhof ein: „Sie steigt in das hinterste Abteil ein und sobald der Zug einfährt, springt sie auf ihr Fahrrad und fährt direkt aus dem Bahnhof raus nach Hause“, erzählt Krüger und fügt noch hinzu: „Wir steigen da ein, wo die Öffis aufhören.“

Neben dem sozialen Aspekt betont Annette Krüger auch die Nachhaltigkeit ihrer Arbeit. „Die Frauen sind an der frischen Luft, betätigen sich sportlich und tun auch noch was für die Umwelt“, sagt Krüger. Das besondere an der Arbeit und was die #Bikeygees von anderen Hilfsorganisationen unterscheidet ist, dass schnell Erfolge sichtbar werden. „Die Frauen kommen manchmal etwas unsicher hier an und gehen gestärkt und mit geraderem Rücken hier raus“, sagt Krüger.

Feministinnen kritisieren Logo

Das Logo der #Bikeygees – ein rosafarbenes Fahrrad mit Fahrradkorb und Blümchen – wurde von einer Grafikerin aus Syrien entworfen, als Dank fürs Fahrradfahrtraining. „Da kommt schon mal Kritik von Feministinnen, warum das Logo nicht lila ist und statt Blümchen etwas Kämpferisches zeigt“, sagt Krüger und erklärt: „Wir wollen, dass sich die Frauen hier gut fühlen, in eine rosarote, heile Welt abtauchen und mal nicht kämpfen müssen.“

Zum Geburtstag der #Bikeygees gibt es ein leckeres Buffet mit Kuchen und viele Knabbereien. Es werden Danksagungen in allen möglichen Sprachen gehalten und Fotos gemacht. Die Frauen liegen sich in den Armen und lachen viel. Dass sich das Angebot der #Bikeygees nicht generell nur an Geflüchtete richtet, ist Annette Krüger wichtig. „Jede Frau darf bei uns mitmachen. Der Status, die politische Richtung und die Religion sind uns alles egal“, sagt sie. Das Fahrrad sei das Element, was sie alle verbindet.

Autorin:

Janina Yeung

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de