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Fünf verbreitete Behauptungen zur Armut in Deutschland. Ein Faktencheck.

Um das Thema Armut in Deutschland kreisen immer wieder falsche Behauptungen und Vorurteile. Unser Autor räumt damit auf und unternimmt einen Faktencheck.

Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze sind das beste Instrument zur Armutsbekämpfung. Stimmt das?

Boomende Wirtschaft, wachsendes Inlandsprodukt = mehr Arbeit, weniger Armut. So ungefähr lautet die schlichte Gleichung, die gerne genutzt wird um darzulegen, dass Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen die besten Mittel zur Armutsbekämpfung seien. Und auf den ersten Blick scheint die Behauptung erst einmal plausibel: Wenn gesamtgesellschaftlich der zu verteilende Kuchen wächst, dann sollte doch auch der materielle Wohlstand der Menschen zunehmen. Im Englischen wird dies häufig mit dem plastischen Bild einer steigenden Flut beschrieben, die alle Boote miteinander auf ein höheres Niveau hebt (a rising tide lifts all boats).

Doch stimmt diese Beschreibung? Schauen wir uns dazu die Fakten an: Seit der Wirtschaftskrise 2009 ist die Wirtschaft in Deutschland stetig gewachsen. Jahr für Jahr nahm der gesamtgesellschaftlich erwirtschaftete Wohlstand zu, insgesamt und inflationsbereinigt um 21 Prozent. Wir sollten also annehmen, dass in diesem Zeitraum die Armut zurückgegangen ist, zumal die Zahl der Arbeitslosen in dieser Zeit deutlich gesunken ist. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, wie der Armutsbericht des Paritätischen zeigt: Lag die Armutsquote 2009 bei 14,6 Prozent, betrug sie 2018 15,5 Prozent. Offensichtlich wird: Die wirtschaftlichen Zuwächse werden so ungleich verteilt, dass sie ihren Weg nicht zu den Armen finden.

Armutspolitisch ist Ostdeutschland die Problemregion Nummer 1. Stimmt das?

Häufig heißt es, keine andere Region in Deutschland sei so sehr von hoher Armut betroffen wie Ostdeutschland. Viele Jahre stimmte diese Aussage angesichts dessen, dass fast jede*r Fünfte im Osten unterhalb der Armutsgrenze lebte. Auch heute noch liegt die Armutsquote des Ostens deutlich über der des Westens. Zwei Trends zeigen jedoch, dass sich das Bild zuletzt geändert hat. Erstens ist die Armut in Ostdeutschland in den vergangenen zehn Jahren um mehr als zehn Prozent gesunken. Auch bei einer kleinteiligeren regionaleren Betrachtung zeigt sich dieser Trend in der großen Mehrzahl ostdeutscher Regionen. Beispielhaft für diese gute Entwicklung steht Brandenburg, das inzwischen das Bundesland mit der drittniedrigsten Armutsquote ist. Der zweite Trend ist eine gegenläufige Entwicklung im Westen: Mit einem rasanten Anstieg der Armut hat sich Nordrhein-Westfalen ohne Frage zur armutspolitischen Problemregion Nummer 1 entwickelt. Insbesondere das Ruhrgebiet fällt mit einer Quote von 21,1 Prozent negativ auf.

Deutschland ist armutspolitisch zweigeteilt. Stimmt das?

Deutschland sei, so ist häufig zu hören, wenn es um die geografische Verteilung von Armut geht, in Ost und West gespalten, gelegentlich hören wir auch von einer Nord-Süd-Spaltung. Und tatsächlich liegt die Armutsquote im Osten höher als im Westen und im Süden in Bayern und Baden-Württemberg so niedrig wie in keiner anderen Region. Eine genauere Betrachtung zeigt allerdings, dass es auch im Westen Regionen gibt, in denen die Armut auf besorgniserregend hohem Niveau ist. Mehr noch: Die Mehrheit der Regionen mit deutlich überdurchschnittlicher Armutsquote liegt in Westdeutschland, unter anderem im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen und Hessen. Der Paritätische Armutsbericht 2019 stellt deshalb fest, dass wir von einer Vierteilung Deutschlands sprechen können. Es ist der wohlhabende Süden mit einer Armutsquote von 11,8 Prozent. Es ist Ostdeutschland mit 17,5 Prozent. Es ist Nordrhein-Westfalen mit seinen 18 Millionen Einwohner*innen und einer Armutsquote von 18,1 Prozent. Und es sind die übrigen Regionen Westdeutschlands mit einer gemeinsamen Quote von 15,9 Prozent.

Armut ist vor allem ein Problem im Norden, Westen und Osten, nicht so sehr in Süddeutschland. Stimmt das?

Viele Jahre lagen Bayern, Baden-Württemberg und auch Hessen auf den ersten Plätzen im Ranking der Bundesländer. Der Armut war also vergleichsweise gering. Und auch heute noch ist die Armutsquote im Süden deutlich niedriger als im Rest der Republik. Zwei Fakten sprechen jedoch dagegen, den Süden vorschnell von Armutsproblemen freizusprechen: In allen drei genannten Bundesländern ist die Armutsquote im vergangenen Jahrzehnt überdurchschnittlich gewachsen, besonders dramatisch in Hessen. Hessen zählt inzwischen nicht mehr zu den Top 3-Bundesländern, sondern landet 2018 auf Rang 7. Schauen wir noch genauer hin, finden wir außerdem in allen südlichen Bundesländern Regionen, die entweder überdurchschnittliche Armutsquoten oder einen besonders starken Anstieg der Armut über die letzten Jahre aufweisen. Der Süden ist damit größtenteils zwar nicht auf dem Armutsniveau der restlichen Republik angekommen. Ein wachsames Auge auf die zum Teil schlechte Tendenz ist aber mehr als angebracht.

Armut betrifft vor allem Erwerbslose, Alleinerziehende und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Stimmt das?

Die Armutsquoten von Erwerbslosen, Alleinerziehenden und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit liegen deutlich über dem Durchschnitt. Auf wen eines dieser Merkmale zutrifft hat statistisch also ein höheres Risiko unterhalb der Armutsgrenze zu leben als andere Personen. Diese Beobachtung verleitet in der öffentlichen Diskussion allerdings häufig zu falschen Vorstellungen davon, wer die Armen mehrheitlich sind. Tatsache ist: Die Mehrheit der insgesamt über 12 Millionen armen Menschen in Deutschland ist erwerbstätig oder in Rente. Von 100 armen Menschen in Deutschland sind 32 erwerbstätig, aber nur acht erwerbslos. Für die politische Beseitigung von Armut hat diese Beobachtung weitreichende Folgen: Weder Erwerbstätigen noch Rentner*innen hilft eine Armutspolitik, die sich darauf konzentriert, Menschen in Arbeit bringen zu wollen. Wer Armut beseitigen möchte, zumindest aber spürbar senken, muss deshalb notwendigerweise auch im Bereich der Alters(grund)sicherung aktiv werden und für armutssichere Löhne sorgen.

Zur Vertiefung dieses Themas können Sie den Armutsbericht 2019 des Paritätischen Gesamtverbands lesen.

Autor:

Dr. Jonas Pieper

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de