„Die einzige Voraussetzung ist, dass man stehen kann“
Zuhören spielt beim Erlernen von Tai Ji fast keine Rolle. Es geht um Nachahmen der Bewegungen, Mimik und Gestik und eine gute Atemtechnik. So können auch hörgeschädigten Schüler*innen mitmachen. Und sie lernen oft sogar schneller, als Nicht-Hörgeschädigte.
Ricarda Buch, in ihrem ersten Beruf Deutsch- und Englischlehrerin, ist in Rente. Aber nur quasi. Zum einen unterstützt die Berlinerin noch die Geschäftsführung der Friedländer Schule, ein Bildungsinstitut für Deutsch als Fremdsprache und als Zweitsprache, und zum anderen engagiert sie sich ehrenamtlich bei Nadeshda e.V. Es ist ein traditionsreicher Frauenverein, der sich auf Buchs Initiative hin 2004 gegründet hat.
Nadeshda ist ein russischer Frauenname und bedeutet Hoffnung, und diese wollte der Verein in den Anfangsjahren bei Spätaussiedlerinnen und ihren Familien wieder wecken. So unterstützte Nadeshda e.V. die Zugewanderten dabei, Deutsch zu lernen, Arbeit zu finden und sich in Berlin langsam heimisch zu fühlen. Diese ‚Ur- Generation‘ von Nadeshda e.V. hat sich längst in Berlin eingelebt. Heute möchte Nadeshda e.V. kulturelle Vielfalt repräsentieren und engagiert sich für die Inklusion von sozial Benachteiligten und von Zugewanderten und Einheimischen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Der Verein war der erste Träger bundesweit, der Deutschkurse für hörbehinderte Zuwandererinnen angeboten hat. Diese speziellen Integrationskurse führte Nadeshda e.V. zwischen 2009 und 2013 durch. Die Hälfte der Teilnehmenden hat das Niveau B1 erfolgreich abgeschlossen. „Unsere älteste Kursteilnehmerin war 80 Jahre, als sie die B1-Prüfung bestanden hat“, schildert Ricarda Buch stolz.
Es sei immens wichtig, solche Angebote zu machen, so Buch. Sie ist selbst hörgeschädigt und kennt die Probleme, die mit dieser Beeinträchtigung einhergehen: „In normalen Kursen, sind wir, die hochgradig hörbeeinträchtigt sind, auf Lippenlesen angewiesen, das ist nicht nur anstrengend, es klappt auch häufig nicht.“ So sei es kaum möglich in großen Gruppen zu lernen, wegen des Stimmengewirrs und/ oder eines hohen Lärmpegels. „Selbst mit Hörgeräten ist es schwierig, dem Unterricht zu folgen und erst recht, wenn es darum geht, eine Fremdsprache zu erlernen“, weiß sie aus Erfahrung. Sie selbst hat bei Nadeshda e.V. die Integrationskurse geleitet.
Alle können Tai Ji lernen
Im Rahmen des Projekts „Hürdenlauf“ in 2014 haben Zugewanderte und Einheimische mit Hörbeeinträchtigung den Umgang mit Grafikprogrammen erlernt und Plakate zum Thema Alltagshürden für Hörgeschädigte gestaltet. „Es geht neben der Kompetenzerweiterung darum, Betroffene aus ihrer Isolation zu holen, ihnen einen Austausch mit Menschen, die mit ähnlichen Problemen kämpfen, zu ermöglichen“, erklärt Ricarda Buch. Nadeshda e.V. hat ein weiteres, in Berlin einmaliges Projekt entwickelt: Schon 2016/2017 und noch einmal 2018 wurden jeweils ein 10-monatiger und kostenloser Tai Ji Kurs für Hörgeschädigte angeboten. Die Tai Ji Meisterin Vera Klar wies bis zu 13 Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in die erste Bewegungsstufe des Tai Ji ein. Geplant ist, ab dem 1. Mai 2020 und gleich für zwei Jahre wieder einen kostenlosen Tai Ji Kurs anzubieten.
„Tai Ji ist eine Kampfkunst zur Selbstverteidigung mit einem imaginären Gegenüber“, erläutert Kursleiterin Vera Klar, die schon in der Mitte der 1980er Jahre ihre erste von vielen Ausbildungen zur Tai Ji Lehrerin absolviert hat. In China sei Tai Ji ein Volkssport, hier werde diese Kampfkunst vor allem aus gesundheitlichen Gründen ausgeübt. Wichtig im Hinblick auf Hörgeschädigte ist: „Alle können Tai Ji lernen und ausüben, die einzige Voraussetzung ist, dass man stehen kann. Deshalb ist es ein sehr niedrigschwelliges Bewegungsangebot für Menschen, die hörgeschädigt sind.“
Ricarda Buch selbst kam auf die Idee, den Tai Ji Kurs bei Nadeshda e.V. anzubieten, weil sie selbst eine Schülerin von Vera Klar war und ist. „Es ist eine Form, mich zu regenerieren von einem anstrengenden Alltag. Ich bin schnell erschöpft, weil das Zuhören immer eine große Herausforderung ist.“ Manchmal kämen nur Töne bei ihr an, dann müsse sie sich daraus etwas zusammen reimen. Trotz Hörgerät hat sie nur 30 Prozent Hörleistung.
Vera Klar bestätigt, dass bei der Ausübung von Tai Ji das Zuhören nur punktuell eine Rolle spiele, „es geht mehr um ein Nachahmen der Bewegungen, um Mimik und Gestik, vor allem um eine gute Atemtechnik“, schildert die Tai Ji Meisterin und benennt, welches Talent ihre hörgeschädigten Schüler*innen mitbringen: „Sie lernen schnell, schneller als mancher Nicht-Hörgeschädigter, denn sie sind sehr aufmerksam und fokussiert und lassen sich nicht schnell ablenken.“ Klar ist, dass Tai Ji keine Wunder bewirken kann: Besser hören können die Teilnehmenden nach einem Kurs nicht, aber „sie fühlen sich vitaler und der Aspekt der Selbstverteidigung im Tai Ji stärkt die Selbstsicherheit“, betont Vera Klar.
Autorin:
Verena Mörath
Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de