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„Barrierefreiheit wird nicht mitgedacht“

Menschen mit Behinderungen finden in der Queer-Community nicht statt, meint Peter Hölscher. Der Düsseldorfer ist schwul und querschnittsgelähmt. Viele fühlen sich in der Szene noch mehr diskriminiert als sonst. Zudem wird die Sexualität im Alter, so auch in Pflegeeinrichtungen, tabuisiert. Ein junges Thema, das immer mehr Gehör findet.

Als Peter Hölscher sich geoutet hat, war er zwanzig Jahre alt. Er ging zu seiner „alten Dame“ und gab ihr einen Brief von seiner Liebschaft mit den Worten: „Hier weißte Bescheid.“ Sie sagte nur später: „Mein Gott, ich kann das auch nicht ändern“ und zu anderen: „Guckt erstmal bei euch zuhause!“. Anschließend durfte der junge Mann seinen Freund zur Übernachtung mit nach Hause bringen. Das war in den Siebzigern. Der 67-Jährige hatte es vielleicht insgesamt etwas schwerer im Leben.

Denn seit zehn Jahren sitzt Peter Hölscher nach einem häuslichen Unfall im Rollstuhl. Er stürzte und lag sieben Stunden alleine in der Wohnung, bis man ihn fand. Danach wurde der Düsseldorfer sechs Stunden lang operiert. Diagnose: ein inkompletter Querschnitt. „Am Anfang ging gar nichts“, erinnert sich der 67-Jährige. Seine Bewegungsfähigkeit im Oberkörper konnte er sich mühselig zurück erarbeiten, die Beine blieben gelähmt. „Ich bin als Schwuler noch nie auf Ablehnung gestoßen. Ich habe immer festgestellt, je offener ich damit umgehe, desto entwaffnender ist das“, berichtet Peter Hölscher. Bei der Behinderung sei das etwas anderes. Manchmal habe der Düsseldorfer das Gefühl, nicht wirklich als Mensch wahrgenommen zu werden. Einige würden so handeln, als sei er auch im Kopf nicht ganz richtig. Nicht nur einmal sei in seiner Anwesenheit über ihn gesprochen worden, als wäre er nicht dabei. „Kann er denn noch laufen?“, fragte jemand seinen Begleiter. „Er kann und er kann auch hören“, antwortete Peter Hölscher. Er fühlt sich diskriminiert.

„Es liegt noch ein weiter Weg vor uns“

Mehrfachdiskriminiert: So heißen die Menschen, die gleich wegen mehrerer Begebenheiten im öffentlichen Leben schlechter behandelt werden. Wie Peter, der zugleich schwul ist und im Rollstuhl sitzt. „Es gibt ´ne ganze Menge Diskriminierung“, sagt Ina Rosenthal vom Verein „Rad und Tat – Offene Initiative Lesbischer Frauen“ (RuT) in Berlin. Bei manchen Menschen häuften sich die Diskriminierungen geradezu. So seien lesbische Frauen mit Behinderung sogar noch mehr betroffen von Diskriminierung, weil sie eben Frauen sind. Der Verein und die gleichnamige Einrichtung in Berlin Neukölln wurden vor mehr als 30 Jahren von einer Gruppe älterer und behinderter lesbischer Frauen gegründet. Sie leisten Lobbyarbeit, haben einen Besuchsdienst sowie ein Infrastrukturprojekt und planen ein Wohnprojekt. Was die Gleichstellung betrifft, liege immer noch ein weiter Weg vor ihnen, so Ina Rosenthal.

Beim CSD nicht auf die Bühne können

Auch Peter Hölscher merkte nach seiner Verletzung, dass vieles noch nicht gut läuft: Als Schwuler mit Behinderung finde er in der Community gar nicht statt. Barrierefreie Lokalzugänge in der Szene gebe es praktisch nicht, beim CSD könne der Düsseldorfer nicht auf die Bühne der Abschlussveranstaltung. Es hieße immer, Barrierefreiheit koste zu viel Geld, aber: „So einfach ist das nicht“, meint der 67-Jährige. Auch zeige das schwule Männermagazin ein typisches Rollenbild, das eben nicht Menschen mit Behinderungen anspreche: „Jung, makellos, körperbewusst und körperbetont“, sagt der 67-Jährige. „Diskriminierung von behinderten Menschen ist bei Schwulen ganz besonders ausgeprägt, wenn auch ungewollt“, davon ist Peter Hölscher überzeugt.

Das Ergebnis eines Fachtags zum Lebensraum LSBTIQ mit Behinderung in Bielefeld (2019) bestätigt Peter Hölschers Annahme: In der „queeren Szene“ scheine die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung stärker spürbar als in der Allgemeinbevölkerung. Deswegen bietet RuT in Berlin auch ein Infrastrukturprojekt an. Ziel des Projekts ist es, die LSBTIQ* Szenen für diese Ausschlüsse aus der Gesellschaft zu sensibilisieren und Barrieren abzubauen. Viel Lobbyarbeit in der Queercommunity gehöre dazu, sagt Mitarbeiterin Ina Rosenthal. Obwohl RuT ein örtlicher Verein sei, würden sie deutschlandweit um Hilfe gebeten. „Der Bedarf ist unglaublich.“ Das kann Peter bestätigen, er macht die Dinge, fährt beim Rosenmontagszug mit, geht zur Abschlussparty des CSD, obwohl er mit Schwierigkeiten zu rechnen hat. Andere sind da nicht so mutig.

Wäre sein Leben anders verlaufen?

Vielleicht ist sein Mut auch ein Resultat seines schwierigen Lebensweges: Das Lebensereignis, was ihn und seine Schwestern wohl mit am meisten geprägt haben mag, ist der frühe Tod der Eltern. Als der gebürtige Lippstädter neun war, erlag sein Vater einem Herzinfarkt. Ein dreiviertel Jahr später starb seine Mutter durch einen inoperablen Hirntumor. „Ich habe meinem Vater lange mein Schicksal ein stückweit angelastet“, erinnert sich Peter Hölscher – weil sein Vater im hohen Alter noch Kinder zeugte. Heute hadert er nicht mit seinem Schicksal. „Hätte mein Vater gewusst, dass ich schwul bin, mein Leben hätte einen ganz anderen Lauf genommen“, sagt der 67-Jährige. Der Düsseldorfer ist ein positiver Mensch, der das Leben liebt. Leben und leben lassen, in diesem Punkt hat ihn ganz besonders „seine alte Dame“ geprägt, eine Tante, die mit ihrem Mann die Kinder zu sich nahm.

Schließlich hat der Düsseldorfer auch Sinn in seinem Schicksal gefunden: Peter ist im Vorstand des schwulen Netzwerks NRW, Mitglied des runden Tisches, im Forum des Gleichstellungsausschusses der Stadt Düsseldorf und Vorstand im Verein queerhandicap. Seine ehrenamtliche Tätigkeit konzentriert sich momentan auf das vom Land NRW geförderte Projekt LSBTIQ* mit Behinderung und dem im November 2020 stattfindenden Fachtag mit Forum und Benefizgala.

Es passiert viel: Die Vereinsmitglieder von queerhandicap bauen zudem ein bundesweites Netzwerk auf und schaffen so die Infrastruktur für örtliche Gruppen. „Damit das Problem sichtbar wird, die Menschen aus der Isolation kommen“, sagt Peter Hölscher. Zudem startete im Februar in Bielefeld eine landesweite Studie zur Lebenssituation und zu Herausforderungen für queere Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung, psychischen und sonstigen Beeinträchtigungen in der ambulanten oder stationären Pflege. Damit Bedarfe ermittelt und die Situationen verbessert werden können. Peter weiß schon jetzt: „Es wird sicherlich Veränderungsbedarf geben.“

Das bestätigt auch Ina Rosenthal von RuT: LSBITQ-Menschen mit Beeinträchtigungen bräuchten eigene Schutzräume. Auch deswegen will der Berliner Verein ein Wohnprojekt umsetzen. Lesbische Frauen mit und ohne Behinderung im Alter von 70 bis 90 Jahren können dabei zusammenleben, ohne sich verstecken zu müssen. Für viele wäre das das erste Mal. Die Berlinerin kenne ein Paar, dass seit 50 Jahren zusammenlebt, ohne sich jemals geoutet zu haben. Das sei die Generation der Kriegszeitkinder, die extrem von Diskriminierung betroffen gewesen seien. In den Heimen treffen Generationen aufeinander, bei denen Homosexualität nicht toleriert werde. Die Menschen bräuchten zudem eine Möglichkeit, ihren Lebensabend bestmöglich verbringen zu können. „Es geht auch darum, Erfahrung zu teilen“, das sei vor allem auch bei Menschen mit Demenz sehr wichtig.

Peter Hölscher blickt in die Vergangenheit: Er hatte immer wieder die Idee, ein anderes Leben einzuschlagen. So überlegte der Westfale seine langjährige, Jugendfreundin zu heiraten oder stand auch einmal davor, ins Priesterseminar zu gehen. Aber dann tönte die Stimme seiner alten Dame in ihm, die zu seiner eigenen geworden ist: „Naja, das musst du ja selber wissen, aber ob du damit glücklich wirst, das bezweifle ich“, sagte sie in solchen Situationen. Peter wusste, er wird es so nicht.

Der Beitrag erschien zuerst im Verbandsmagazin Der Paritätische, Ausgabe 3/20

Autorin:
Annabell Fugmann

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de