Zum Hauptinhalt springen

Auch in Coronazeiten ein absolutes Must-have: Die inklusive Gesellschaft

Eine inklusive Gesellschaft, die jedem und jeder Einzelnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht, scheint in Zeiten der Pandemie fast unwirklich. Denn in den letzten Monaten haben fast alle Menschen erlebt, wie es sich anfühlt, wenn Teilhabe nur eingeschränkt möglich ist. Umso wichtiger ist es, weiterhin den Ausbau der inklusiven Gesellschaft voranzubringen.

Seit vielen Jahrzehnten kämpfen Menschen mit Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankungen gegen Stigmatisierung und für ihr Recht auf Selbstbestimmung – mit einigem Erfolg. Trotzdem mussten sie in den vergangenen Monaten erleben, dass sie nicht gesehen und nicht berücksichtigt wurden und dem Handeln anderer massiv ausgeliefert sind. Viele fühlten sich um Jahre zurückversetzt.

Zu Beginn der Pandemie war der Mangel an Schutzausrüstung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen in aller Munde. Der Bedarf in besonderen Wohnformen und von Personen, die in der eigenen Wohnung im Alltag und bei der Körperpflege unterstützt werden, blieb weitgehend unsichtbar. Schutzkleidung wurde aber auch dort benötigt. Zur Eindämmung der Pandemie wurden Verordnungen erlassen, die auf die verschiedenen Wohnformen, in denen behinderte Menschen leben, praktisch kaum anwendbar waren. Wer mit Beeinträchtigung oder psychischer Erkrankung auf der Straße lebt, hatte gar nicht die Möglichkeit, Hygienevorgaben einzuhalten. Zusätzlich war es plötzlich verboten, sich mit anderen wohnungslosen Menschen zusammenzufinden.

Wenn Entscheidungen getroffen werden mussten, so geschah das zudem in der Regel über den Kopf von Menschen mit Behinderung hinweg. Der alte Slogan: „Nichts über uns ohne uns“ war komplett außer Kraft gesetzt. Und bis Informationen über das Virus und die damit verbundenen politischen Entscheidungen z.B. in Gebärdensprache und Leichter Sprache zur Verfügung standen, ging Zeit ins Land. Dass sie überall Verbreitung fanden, darf bezweifelt werden. Natürlich ist es nicht möglich, alle zu beteiligen, wenn es darum geht, in einer Krise schnell handlungsfähig zu sein. Und es wurden nicht nur die Grundrechte behinderter und psychisch erkrankter Menschen eingeschränkt. Es stellt sich aber immer die Frage, wie begründungsbedürftig so etwas erscheint. Und zu welchem Zeitpunkt und in welchem Rahmen bestehende Beteiligungsstrukturen zu einem späteren Zeitpunkt noch eingebunden werden.

Mit Blick auf das Virus selbst kam bei vielen behinderten und chronisch erkrankten Menschen die Angst vor Ansteckung und vor sozialer Isolation noch dazu – kein Wunder, so wurde zwischenzeitlich debattiert, man solle diejenigen isolieren, die der sogenannten Risikogruppe angehören und für alle anderen die Einschränkungen schneller aufheben. Gleichzeitig betraf das Gefühl, auf das verantwortliche Handeln aller angewiesen zu sein, viele Menschen mit Beeinträchtigung – ähnlich wie ältere Menschen – besonders stark. Unter dem Hashtag #Risikogruppe forderten die Aktivist*innen Laura Gelhaar, Raul Krauthausen und andere zu Solidarität auf: „Worauf wir keinen Bock haben, ist sterben. Genau das ist aber gar nicht so unwahrscheinlich, wenn du nicht einfach die nächsten Wochen zuhause bleibst und deinen sozialen Aktionsradius für ein paar Wochen einschränkst.“ Dass diese Ängste existentiell waren, ist sehr verständlich, wenn man sich an die Diskussion um möglicherweise begrenzte Ressourcen im Gesundheitssystem erinnert.

Schon dieser kurze Blick auf die Situation behinderter und psychisch erkrankter Menschen in den letzten Monaten macht deutlich: Wenn es ernst wird, fallen sie durchs Raster, Inklusion wird zum Add-on. Wie wenig das Bewusstsein über die Rechte behinderter Menschen im politischen Handeln verankert sind, zeigt auch ein Blick auf das Konjunkturpaket der Bundesregierung von Anfang Juni. Gerade wenn Um- und Neubauten gefördert werden, wie bei Krippen und Kitas, wäre es möglich gewesen, Barrierefreiheit als Förderkriterium zu verankern. Diese Chance wurde vertan. Wenn die Bundesregierung in die „Modernisierung des Landes“ investiert, beschränkt sich der Begriff „Nachhaltigkeit“ auf ökologische Fragen. Was also tun, welche Lehren lassen sich ziehen? Noch lässt sich diese Frage kaum beantworten. Sicher sind aber mindestens zwei Dinge: Die Antworten müssen zu großen Teilen von denen kommen, die mit einer Beeinträchtigung oder psychischen Erkrankung leben. Weil es sie betrifft. Und zweitens: Nur weil ein Ziel noch nicht erreicht ist, sollte man nicht umkehren. Die UN-Behindertenrechtskonvention garantiert das Recht auf Selbstbestimmung, auf Barrierefreiheit, auf inklusive Bildung, das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt mit Arbeit zu verdienen und vieles andere mehr. Eine Pandemie ändert daran nichts.

Autorin:
Carola Pohlen, Referentin für Behinderten- und Psychiatriepolitik beim Paritätischen Wohlfahrtsverband

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de