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Fünf Jahre nach "Wir schaffen das"

Fünf Jahre nach dem berühmten Satz von Bundeskanzlerin Merkel „Wir schaffen das.“ läuft aktuell die Debatte, ob diese Aussage aus heutiger Sicht gerechtfertigt ist oder nicht. Viel wichtiger als die rückblickende Bewertung der Aussage ist allerdings, welche Aufgaben, welche Schlussfolgerungen sich für die Zukunft aus der Bilanzierung der Flüchtlingspolitik der letzten fünf Jahre ergeben. Eine Einordnung von Harald Löhlein, Leiter der Abteilung Migration und Internationale Kooperation beim Paritätischen Gesamtverband.

Zunächst einmal: Das Offenhalten der Grenzen 2015 war rechtlich möglich und humanitär geboten. Es war eine mutige Entscheidung, die mehreren hunderttausend Schutzbedürftigen in den folgenden Jahren hier in Deutschland eine Perspektive gegeben hat. Bei aller Kritik im Detail: Darauf kann man stolz sein.

Ja, es geht vor allem um Schutzbedürftige: Von den 1,8 Millionen Geflohenen, die Ende 2019 in Deutschland lebten, hatten zwei Drittel einen anerkannten Flüchtlingsstatus. Weitere 250.000 befanden sich noch im Anerkennungsverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder vor Gericht. Die Zahl derer, die ausreisepflichtig waren, lag bei rund 250.000. Bei 85 Prozent dieser Personen war eine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich. Die größte Gruppe darunter kommt übrigens aus Afghanistan. Wenn nun angesichts dieser Zahlen teilweise der Eindruck erweckt wird, der Verbleib von eigentlich ausreisepflichtigen Ausländerinnen und Ausländern sei das zentrale Problem, so geht dies absolut an den Realitäten vorbei.

Rückblick nach fünf Jahren: Positive Entwicklungen und Herausforderungen

Betrachtet man nun die Bilanz nach fünf Jahren, so gibt es in einigen Bereichen durchaus positive Entwicklungen: Die Erwerbsquote der Geflüchteten lag vor dem Ausbruch der Coronakrise bei ca. 50 Prozent – und damit deutlich über den Prognosen. Da es sich dabei allerdings oft um Leiharbeit oder Arbeit im gering qualifizierten Bereich handelt, sind diese Gruppen nun auch vom aktuellen Anstieg der Arbeitslosigkeit besonders betroffen. Und geflüchtete Frauen nehmen bisher ohnehin – insbesondere wegen der Kinderbetreuung – weit weniger am Erwerbsleben teil.

93 Prozent der sechs bis zehnjährigen geflüchteten Kinder besuchen eine Regelschule, 85 Prozent der Geflüchteten haben mittlerweile einen Integrationskurs besucht. Es gibt also zweifelsohne viele positive Entwicklungen. Das ist nicht zuletzt auf das enorme zivilgesellschaftliche Engagement zurückzuführen, an dem sich ja auch die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen massiv beteiligt haben. Auch darauf kann man stolz sein. Natürlich stellte die kurzfristige Aufnahme vieler Geflüchteter auch eine erhebliche Herausforderung und Belastung dar. Die mag teilweise selbstverschuldet gewesen sein, weil staatlicherseits zu spät oder zu halbherzig reagiert wurde.

Das ändert nichts daran, dass die Herausforderung für alle Beteiligten wirklich groß war. Und es hat darüber hinaus viel Geld gekostet. Auch wenn die diesbezüglichen Zahlenangaben immer sehr interpretationsbedürftig sind, so fielen doch Kosten in Höhe von 10 bis 15 Milliarden Euro pro Jahr an. Diese Kosten hätten geringer sein können, wenn man den Flüchtlingen eher Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt eingeräumt hätte. Aber davon abgesehen: Die Übernahme der Kosten war richtig, damit Deutschland seinen rechtlichen und humanitären Verpflichtungen gerecht werden konnte. Dazu sollte man stehen.

Bis heute: Fehlende europäische Einigkeit

Der Kanzlerin wird ja häufig vorgeworfen, sie hätte das Offenhalten der Grenzen besser mit den anderen europäischen Partnern abstimmen sollen. Aber mal ganz abgesehen von dem großen Zeitdruck, unter dem die Entscheidung seinerzeit getroffen werden musste: Wenn man sich anschaut, wie wenig Fortschritte es in den letzten fünf Jahren bei der Entwicklung einer solidarischen europäischen Flüchtlingspolitik gegeben hat – und sei es nur bei der Aufnahme weniger Hundert in Seenot geratener Flüchtlinge, drängt sich die Frage auf, was denn seinerzeit bei der Abstimmung mit den anderen europäischen Ländern wohl herausgekommen wäre?

Damit kommen wir zu den Perspektiven. Natürlich ist es grundsätzlich richtig, bei der Aufnahme von Schutzsuchenden ein gemeinsames solidarisches, an Menschenrechten orientiertes Vorgehen der EU anzustreben. Die EU-Kommission wird dazu im September neue Vorschläge vorlegen. Zu befürchten ist allerdings, dass dabei die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes eine zentrale Rolle spielen wird.

Wenn man verhindern will, dass sich eine Situation wie 2015 wiederholt, müssen die legalen Zuwanderungswege für Schutzsuchende dringend massiv ausgebaut werden. Davon ist immer die Rede, aber faktisch sind die Kontingente, die Möglichkeiten, die die EU bietet, bisher marginal. CDU/CSU und SPD haben im Koalitionsvertrag einen Korridor für die Aufnahme von 180.000 bis 220.000 schutzsuchenden Personen für Deutschland vorgesehen. Davon sind wir aktuell meilenweit entfernt, im letzten Jahr waren es 95.000!

Umgang mit Vorbehalten und Problemen – Schutz ist ein Menschenrecht

Über die Vorbehalte, die es bei Teilen der Gesellschaft gegenüber der Aufnahme der Geflüchteten gibt, muss man offen sprechen können, solange nicht eindeutig rassistischen Gedankengut im Raume steht. Und auch die Probleme, die im Zusammenhang mit der Aufnahme von Geflüchteten entstehen können, sollen thematisiert werden – möglichst in konstruktiver Weise.

Vor allem aber sollte dabei berücksichtigt werden, dass es sich bei der Aufnahme von Schutzsuchenden nicht um einen Gnadenakt handelt, sondern um die Umsetzung von Menschenrechten, wie sie unter anderem auch im Grundgesetz und Europäischen Verträgen festgeschrieben sind.

Autor:
Harald Löhlein

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de