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Lehren aus Corona: Ein Zwischenfazit nach einem knappen Jahr Erfahrung mit der Pandemie

Eins steht bereits fest: 2020 wird als „das Corona-Jahr“ in die Geschichtsbücher eingehen. Uns alle stellte das vergangene Jahr vor immense Herausforderungen, die auch 2021 nicht vorbei sein werden. Wir alle mussten lernen, mit einer globalen Pandemie umzugehen, auch die Wohlfahrt. Dr. Jonas Pieper, Referent für übergreifende Fachfragen beim Paritätischen Gesamtverband, wagt ein erstes Fazit.

Die Corona-Pandemie prägt unser Leben und unseren Alltag in bisher kaum bekanntem Ausmaß. Ganz besonders betroffen sind jene, die aus unterschiedlichsten Gründen schon vor der Pandemie Unterstützung benötigten. Zwar kann das Virus jede*n treffen, tatsächlich verbreitet es sich jedoch sozial sehr ungleich: Wer in beengten Verhältnissen lebt, wer in seiner Arbeit nicht auf das Home-Office ausweichen kann oder wer chronisch krank ist, hat ein deutlich höheres Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren. Und auch die Folgen der Pandemiebekämpfung treffen Menschen sehr unterschiedlich – seien es die Kontaktbeschränkungen für Menschen in stationären Einrichtungen, die häusliche Isolation von älteren und kranken Menschen mit all ihren psychosozialen Folgen oder die verschärften Vereinbarkeitsprobleme von pflegenden Angehörigen oder Eltern, zumeist Frauen, durch die Rückverlagerung der Sorgearbeit ins Private.

Stresstest für das Gemeinwesen

Corona lässt in einem grellen Licht sichtbar werden, wo es in unserer Gesellschaft schiefläuft. Die Bruchstellen unseres Gemeinwesens treten unter diesem Stresstest deutlich hervor: Bei den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung für systemrelevante Berufe. In einem Gesundheits- und Pflegesystem, das an ökonomischer Effizienz und Gewinnen ausgerichtet ist statt an Bedarfen. Bei der Digitalisierung in fast allen gesellschaftlichen Bereichen. Oder bei der Vernachlässigung der Ärmsten und Verwundbarsten, von Beziehenden der Grundsicherung über Arbeiter*innen in der ausbeuterischen Fleischindustrie und Landwirtschaft bis hin zu Flüchtlingen in den überfüllten Lagern am Rande Europas.

Mittendrin in dieser Pandemie sind die Einrichtungen und Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege. Sie sind direkt in die Eindämmung der Infektionen eingebunden, aber auch massiv von den Folgen der Krise betroffen. Die gemeinnützigen Strukturen zeigen sich hier wieder einmal als sehr tragfähig und leistungsstark, wenn es darum geht, gesellschaftliche Solidarität und Hilfe im Alltag zu organisieren – allen Widerständen und politischen Versäumnissen der Vergangenheit zum Trotz.

Gleich zu Beginn der Pandemie wurde der Mangel an zentralen Krisengütern überdeutlich. Für den weiteren Verlauf der Pandemie wie für andere Krisen dieser Art muss daher mit einer vorausschauenden Bevorratungspolitik sichergestellt werden, dass ausreichend Schutzmaterialen für den Bereich Gesundheit und Pflege sowie für alle Bereiche der Sozialen Arbeit zur Verfügung stehen. Genauso wichtig für die Pandemie-Vorsorge ist das Vorhalten stabiler Strukturen der Gesundheitsversorgung und eines ausreichend ausgestatteten Bevölkerungsschutzes.

Was sich schon während der Pandemie nachteilig auswirkte, die Unterfinanzierung und komplizierte Mischfinanzierung zahlreicher Organisationen und Projekte, wird sich mit den wirtschaftlichen Folgewirkungen der Corona-Krise noch verstärken. Soziale Arbeit wird jetzt und nach der Krise mehr denn je gebraucht. Doch die finanzielle Lage vieler Kommunen in den kommenden Jahren dürfte zahlreiche Angebote der Sozialen Arbeit bedrohen, insbesondere die freiwilligen kommunalen Leistungen ohne gesetzlichen Rechtsanspruch, darunter ambulante Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, Familienbildungsangebote, Beratungsangebote, Angebote der Selbsthilfe, Flüchtlingsinitiativen oder Migrantenselbstorganisationen.

Ungleiche Regeln

Mit der Pandemie trat auch unübersehbar zu Tage, wie prekär die Teilhabe und Partizipation bestimmter Gruppen ist. Beim Schutz von Risikogruppen wurde die Diversität von Menschen mit Beeinträchtigungen schlicht übersehen. Anders als Menschen ohne Beeinträchtigungen konnten Menschen mit Beeinträchtigungen häufig nicht allein über ihr Risikoverhalten entscheiden. Verordnungen galten für Wohngemeinschaften und besondere Wohnformen unterschiedslos und ohne Beachtung des sehr unterschiedlichen individuellen Risikos. Und während andere Menschen aus verschiedenen Haushalten sich nach dem Lockdown im Frühjahr wieder untereinander besuchen dürfen, galten und gelten für Nutzer*innen besonderer Wohnformen strengere Regeln.

Für ältere und pflegebedürftige Menschen erhöht sich das Risiko, besonders schwer an Covid-19 zu erkranken. Von daher war und ist es richtig, diese Personengruppe besonders zu schützen. Für viele alte und pflegebedürftige Menschen bedeuten die strikten Beschränkungen jedoch die Konfrontation mit Ausgrenzung und sozialer Isolation. Die Rechte von Bewohner*innen in Pflegeeinrichtungen dürfen nicht unzulässig eingeschränkt werden. Pflegebedürftige dürfen nicht für längere Zeit sozial isoliert werden, denn die Isolation verursacht unabsehbare Folgeschäden.

Zu den Maßnahmen, die sich als besonders kritisch erwiesen haben, gehörten auch Regelungen, die Gebärende daran hinderten, dass eine Vertrauensperson bei der Geburt anwesend sein konnte. Es gab auch Fälle, bei denen Personen auf Grund von Kontaktverboten zu Hause oder in Einrichtungen alleine im Sterben lagen. Es ist richtig, dass es hier zu Anpassungen gekommen ist. Wichtig ist, dass es bei zukünftigen Einschränkungen im öffentlichen Leben Grenzen gibt, was die Umsetzung von Kontaktbeschränkungen betrifft.

Junge Menschen benachteiligt

Auch die Rechte von Kindern und Jugendlichen blieben an vielen Stellen unberücksichtigt. Insbesondere in der frühen Phase wurden Kinder vor allem als Überträger*innen des Virus wahrgenommen und als diejenigen, die betreut werden müssen, damit ihre Eltern dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Sie wurden in der öffentlichen und politischen Debatte oftmals nicht als Menschen mit eigenen Rechten behandelt, die an jenen Entscheidungen zum notwendigen Pandemieschutz beteiligt werden müssen, die sie zentral betreffen. Wie stark sie unter der Isolation von Gleichaltrigen, dem Mangel an Sport-, Spiel- und Begegnungsmöglichkeiten leiden oder durch die vollkommen geänderten Lernbedingungen gefordert sind, war kaum Gegenstand der politischen Diskussion. Das Fehlen von etablierten Beteiligungsgremien für junge Menschen, über die man sie gezielt in die Entscheidungen einbeziehen hätte können, wurde so einmal mehr schmerzhaft sichtbar.

Zu den wenig positiven Dingen der Pandemie zählt, dass der Umgang mit ihr die Digitalisierung in der Sozialen Arbeit rasant beschleunigt hat. In vielen Bereichen wurden kreativ und lösungsorientiert neue Arbeitsweisen, Tools und Zugänge zu Klient*innen gefunden und ausprobiert – von der digitalen Beratung Pflegebedürftiger und pflegender Angehöriger über digitale Zugänge zum Gewaltschutzsystem bis zur Verlagerung ganzer Tätigkeiten ins Digitale, beispielsweise in der Kinder- und Jugendhilfe. Dabei ist deutlich geworden, dass es in allen Bereichen einen massiven Ausbau der digitalen Ausstattung, der digitalen Kompetenzen, Fortbildungen hinsichtlich einer veränderten Fachlichkeit im Digitalen und eine Klärung datenschutzrechtlicher Fragen bedarf.

Vieles geht nur mit persönlichen Kontakten

Mit Blick auf die bisherigen Erfahrungen ist sicherzustellen, dass eine barrierefreie digitale Teilhabe sichergestellt ist. Dies betrifft sowohl die technischen Voraussetzungen, z.B. geeignete digitale Endgeräte für alle Schüler*innen, als auch die Vermeidung einer Kluft zwischen positiven und negativen Erfahrungen mit digitalen Angeboten. So positiv an vielen Stellen die Potentiale digitaler Angebote eingeschätzt werden, so eindrücklich ist auch die Erfahrung, wie unersetzlich persönlicher Kontakt in der Sozialen Arbeit ist. Die häufig über Nacht zur Verfügung gestellten digitalen und telefonischen Angebote konnten in der schwierigen Zeit des Lockdowns helfen. Dauerhaft können sie aber persönliche Beratungsangebote nur ergänzen, nicht ersetzen. Schließlich erfordern viele Aufgaben der Sozialen Arbeit ein besonderes Vertrauensverhältnis, welches nicht ohne persönliche Kontakte hergestellt werden kann.

Der Beitrag erschien zu erst im aktuellen Magazin "Der Paritätische" des Paritätischen Gesamtverbandes: Download.

Autor:
Jonas Pieper

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de