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Der neue Armuts- und Reichtumsbericht: Ein Zeugnis von Armut und Ungleichheit

Der Entwurf für den 6. Armuts- und Reichtumsbericht belegt eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland und dokumentiert die Folgen der Agenda-Politik: Arbeitslosigkeit führt immer häufiger direkt in Hartz IV und damit in Armut. Die Corona-Pandemie verschärft die soziale Ungleichheit noch. Unsere Expert*innen haben zentrale Befunde des vorliegenden Entwurfes zusammengefasst.

Der Paritätische hat in den vergangenen Jahren unablässig gewarnt: Die Entwicklung der Ungleichheit in Deutschland ist zutiefst besorgniserregend, in gleich mehrfacher Hinsicht: Die Polarisierung der sozialen Lagen zwischen Arm und Reich nimmt zu, die "Mitte" schrumpft, Armutslagen verfestigen sich und aus Armut führen nur wenige Wege hinaus.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bereitet derzeit die Veröffentlichung des Entwurfs für einen 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vor. Dem Paritätischen liegt der Bericht in der für die Ressortabstimmung genutzten Fassung vor.  Einige bemerkenswerte Aspekte des neuen Berichts möchten wir in einer ersten, vorläufigen Übersicht zusammenfassen.

Um mit positiven Eindrücken zu beginnen: Mit dem neuen Bericht wird die Armuts- und Reichtumsberichterstattung des Bundes konzeptionell sinnvoll weiterentwickelt. Die besondere, neue Qualität der Berichterstattung liegt insbesondere in einer mehrdimensionalen Perspektive, die eine differenzierte Betrachtung von Lebenslagen, auch im zeitlichen Verlauf, ermöglicht. Eine soziale Lage ist durch mehr Faktoren geprägt als ausschließlich dem Einkommen, sondern Aspekte der Wohnverhältnisse, der Beschäftigung und der Bildung spielen ebenfalls eine relevante Rolle. Diese erweiterte Perspektive ermöglicht eine neue, andere Perspektive auf Armut, die um nichts weniger dramatisch ist, im Gegenteil. Deutlich wird auch hier: das Einkommen prägt die soziale Lage. Gegen Armut hilft daher Geld. Das zeigt sich auch bei den Folgen der Covid-19-Pandemie, die gerade Menschen mit geringen Einkommen besonders hart treffen. Dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aktuelle Forschungsergebnisse dazu aufgenommen hat, ist ebenfalls zu begrüßen.

Fortschreitende Polarisierung: Vermögensverteilung noch ungleicher als bisher gedacht

Zu den zentralen Befunden des Berichtsentwurfes zählen die unverändert dramatische Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen: “Die obere Hälfte der Verteilung verfügte über 70 Prozent aller Einkommen, die untere Hälfte über 30 Prozent” (S. 44, alle Seitenzahlen beziehen sich auf die Nummerierung des Berichtsentwurfes). Die Einkommen steigen insbesondere bei den mittleren und oberen Einkommensgruppen, bei den ärmsten Haushalten dagegen gar nicht oder sie sind sogar rückläufig (S. 48).

Die Vermögen sind sogar noch ungleicher verteilt: “Haushalte in der oberen Hälfte der Verteilung besaßen etwa 97,5 Prozent, Personen etwa 99,5 Prozent des Gesamtvermögens” (S. 45).  Bessere Einblicke in die Vermögensverteilung erlaubt zudem die Erweiterung der SOEP Befragung über die ausgewählte Ansprache von Haushalten mit nennenswerten Unternehmensanteilen. Dadurch können bisherige Mängel bei der Erfassung der höchsten Vermögen korrigiert werden. Im Ergebnis ist die Vermögensverteilung noch ungleicher als bisher gedacht. So verfügen die obersten zehn Prozent der Haushalte nicht nur über 59 Prozent des gesamten Vermögens, sondern über 64 Prozent. Fast dreißig Prozent des gesamten Vermögens im Land gehören einem Prozent der Haushalte.

Eine Kernaussage des Berichts ist, dass es zu einer fortschreitenden Polarisierung der sozialen Lagen kommt: “Sowohl die unterste soziale Lage ‘Armut’ als auch die oberste Lage ‘Wohlhabenheit’ sind von Anteilswerten von jeweils  4 Prozent auf 11 bzw. 9,1 Prozent gestiegen, m.a.W.: Haben die Pole der Verteilung Mitte der 1980er Jahre noch 8 Prozent der Bevölkerung umfasst, fanden sich dort im letzten Beobachtungszeitraum 20 Prozent.” (S.130). Die sozialen Verhältnisse werden insofern ungleicher.

Soziale Mobilität nimmt ab, Armut und Reichtum verfestigen sich

Aber nicht nur, dass die Pole anwachsen. Darüber hinaus verstärken sich die Verharrungstendenzen. Wer arm ist, kommt kaum - und im zeitlichen Verlauf: seltener als früher -  aus ihr heraus: die Mobilität sinkt. Diese Verfestigung von Armut ist in dem Bericht gut dokumentiert und auch darauf zurückzuführen, dass aus Armut vergleichsweise wenige Wege hinausführen, ebenso wie aus Reichtum, der im Bericht in der Lebenslage "Wohlhabenheit" verortet wird: „Mit Werten von 70,0 Prozent (‚Armut‘), 65,0 Prozent (‚Mitte‘) und 65,5 Prozent (‚Wohlhabenheit‘) waren jeweils etwa zwei Drittel der Personen auch in der Folgeperiode noch in der gleichen sozialen Lage, die sie in der ersten Periode innehatten. Dass aus der ‚Armut‘ heraus nur in geringem Umfang Aufstiege in die ‚Untere Mitte‘ oder gar in Lagen darüber hinaus gelangen, zeigt die hohe Brisanz dieser verfestigten Lage.“ (S.133)

Näher betrachtet werden auch Personen, die von 1998 bis 2017 durchgehend an der SOEP-Befragung teilgenommen haben. Auch hier sind die Erkenntnisse dramatisch: „Sozialpolitisch bedeutsam ist, dass sich keine Aufstiegstypen aus ‚Armut‘ oder ‚Prekarität‘ finden ließen. Dies passt dazu, dass im unteren Bereich der Verteilung eine starke Verfestigung zu beobachten war und Mobilität dort eher durch Abstiege als durch Aufstiege gekennzeichnet war.“ (S.136)

Die Folgen der Agenda-Politik: Hartz IV bedeutet Armut

Der Armuts- und Reichtumsbericht dokumentiert auch die Folgen der Agenda-Politik. Mit den Hartz-Reformen wurde die Absicherung des sozialen Risikos Erwerbslosigkeit zu einem erheblichen Teil der Fürsorge übertragen. Die Reichweite der Arbeitslosenversicherung wurde geschwächt. Die Arbeitslosenhilfe wurde gänzlich abgeschafft und dafür “Hartz IV“ eingeführt. Hartz IV ist seitdem das vorherrschende Sicherungssystem bei Arbeitslosigkeit. In der Folge ergibt sich ein Prozess der Entsicherung für die Arbeitslosen. Diese Entwicklung dokumentiert der ARB, wenn er die Verteilung der Arbeitslosen auf die verschiedenen sozialen Lagen im Zeitverlauf betrachtet: 1995 war ein Drittel der Arbeitslosen noch der sozialen Lage “Mitte” zuzuordnen und lediglich 15 Prozent der Armut. Diese Verteilung hat sich bis 2015 dramatisch verschoben: 2015 waren zwei Drittel aller Arbeitslosen der sozialen Lage Armut zuzuordnen und nur noch weniger als zehn Prozent der Mitte. (S. 126f.). 

Die durchschnittlichen Leistungen der Grundsicherung, von denen hilfebedürftige Menschen ohne ausreichendes Einkommen und Vermögen leben müssen, reichen nicht aus. Der durchschnittliche Hartz IV Bedarf liegt für eine erwachsene Person bei etwas unter 800 Euro. Über die Leistungshöhe der Grundsicherung schweigt der Bericht. Er stellt auch nicht die zentrale Frage, ob die Leistungen bedarfsdeckend sind. Dabei unterschreiten die Leistungen der Grundsicherung deutlich die im Indikatorenanhang ausgewiesene statistische Armutsrisikoschwelle (mindestens 1.074 Euro nach dem Mikrozensus für 2019, S. 447). Die Leistungen der Grundsicherung unterschreiten aber auch spürbar das Einkommen, das nach dem Bericht von der Bevölkerung als Armutsschwelle angegeben wird (etwa 1.000 Euro) (S. 176). Der Bericht bestätigt damit eine zentrale Forderung des Paritätischen. Die Regelsätze in der Grundsicherung müssen auf mindestens 600 Euro angehoben werden, wenn sie gegen Armut schützen sollen.

Die Hartz-Reformen haben auch Druck auf die Löhne ausgeübt. Die Statussicherung wurde weitgehend abgeschafft. (Fast) jede Arbeit gilt als zumutbar. Durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 sind zumindest Minimalstandards bei der Entlohnung eingeführt worden. Der Mindestlohn hat zu einer positiven Entwicklung der niedrigsten Stundenlöhne beigetragen (S. 216), was sich aber nur begrenzt  bei den Monatslöhnen widerspiegelt (235). Ungeachtet der Einführung des Mindestlohns leben aber immer noch 8 bis 9 Prozent der Erwerbstätigen in Armut („working poor“). Der Mindestlohn ist zu gering und erreicht zu viele Beschäftigte bis heute nur unzureichend. „Eine erhebliche Anzahl von Beschäftigten erhält auch nach Einführung und Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns noch Stundenlöhne unterhalb von 8,50 bzw. 8,84 Euro.“ (S. 235)

Neue soziale Verwerfungen

Wie stark die steigenden Mietpreise gerade einkommensarme Menschen einschränken, indem sie einen großen Teil des Einkommens binden, wird ebenfalls belegt: “Einkommen variieren stärker als (Miet-)Preise. Entsprechend wenden einkommensärmere Haushalte einen höheren Anteil ihres Einkommens für Mietkosten, wie auch für andere Bestandteile des Grundbedarfs auf. Im Jahr 2017 wandte das Fünftel der Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen (erstes Quintil) im Durchschnitt 37,4 Prozent seines verfügbaren Einkommens, und damit fast doppelt so viel wie der Durchschnitt, für Wohnkosten auf.“ (S. 300).

Die soziale Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich auch in unterschiedlicher politischer Beteiligung. Dass die Interessen von einkommensarmen Menschen in der Politik deutlich zu gering berücksichtigt werden, war bereits ein wichtiges Thema des 5. Armuts- und Reichtumsberichts. Auch der Nachfolgeentwurf stellt fest: „Die Wahlbeteiligung ist in allen Bevölkerungsschichten in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland wie in den meisten Industrieländern gesunken. Bei den Wahlberechtigten mit geringem Einkommen war der Rückgang aber überdurchschnittlich stark. Dadurch verstärken sich Risiken des Ausgeschlossen-Seins von politischen und gesellschaftlichen Willensbildungsprozessen“ (S. 395).

Ein wesentlicher Kritikpunkt am Entwurf ist, dass man sich offenbar entschieden hat, keine Beteiligung von Armutsbetroffenen zuzulassen. Zwar werden einige Betroffene zu ihrer Lebenslage befragt, eine Beteiligung findet jedoch nicht statt. Dass ist umso kritikwürdiger, als es ein eben ein wesentlicher Befund des 5. Armuts- und Reichtumsberichts war, dass die Interessen und Belange einkommensarmer Menschen im politischen Bereich nicht ausreichend repräsentiert würden. Anders als noch im 5. Armuts- und Reichtumsbericht, der zumindest einen Workshop mit Armutsbetroffenen organisiert und begrenzt im Bericht  dokumentiert hatte, fehlt jetzt eine nennenswerte Beteiligung Betroffener. Der Lebenslagenbericht des Landes NRW bietet ein Beispiel, wie es auch anders geht. Dort gestalten die Wohlfahrtsverbände eine tatsächliche Beteiligung von Armutsbetroffenen und erhalten dafür ein eigenes Kapitel.

Corona-Pandemie trifft arme Menschen besonders

Die Pandemie verstärkt die Ungleichheit noch. Diese Befunde können kaum überraschen, haben doch bspw. die Menschen, die zuvor schon in der Grundsicherung waren, bislang auf zusätzliche, auf ihre Bedarfe zugeschnittenen Hilfen warten müssen. Die geplante Einmalzahlung von 150 Euro, die auch erst im Mai ausgezahlt werden wird, geht weit an den Mehrbelastungen der Menschen in der Pandemie vorbei und kann schon gar kein Beitrag dazu sein, die sich verfestigende Ungleichheit zu korrigieren. Deutlich wird insgesamt, dass auch in der Corona Pandemie die Einkommensrisiken ungleich verteilt sind: Wer ohnehin ein geringes Einkommen hat, ist stärker von zusätzlichen Einkommensverlusten gefährdet.  Auch der ARB fasst zusammen: Die Einkommensrisiken haben zugenommen und diese sind „in den unteren Einkommensbereichen größer“ (S. 44). Der ARB rechnet die Gesamtzahl der von Einkommensrückgängen betroffenen Haushalte für den Stand August 2020 auf 15,5 Mio. hoch (S. 304).

Die Gesamtbilanz spiegelt die Ungleichheitsentwicklung der vergangenen Jahre und bestätigt die kritischen Befunde, die der Paritätische bereits in den vergangenen Jahren immer wieder in die Debatte eingebracht hat: „Der Bericht belegt, wie sowohl Armut, als auch Reichtum wachsen und sich verfestigen. Die sogenannte “Mitte” schrumpft, soziale Mobilität nimmt ab und soziale Ungleichheit steigt. Und der Bericht weist nach, wie dramatisch sich die Situation gerade der Arbeitslosen verschärft hat“, so Werner Hesse, Geschäftsführer des Paritätischen.

Der Paritätische hat die Entwicklungen aber nicht nur prognostiziert, sondern auch Mittel und Wege genannt, wie die sich verfestigende Armut aufgebrochen, gar abgeschafft, und Ungleichheit verringert werden kann. Der Schlüssel dazu ist, die laufende Umverteilung umzukehren. Umverteilung findet permanent statt, sie verläuft derzeit aber weiter von unten nach oben. Auch die vielbeschworenen Heilmittel von „Infrastruktur“ und „Bildung“ taugen nicht als Alternativen dazu, die ungleichen Lebenschancen zu überwinden, denn sowohl der Zugang zu Infrastruktur als auch zu guter Bildung wird wesentlich über die Kaufkraft der einzelnen gesteuert. Von gleichen Teilhabechancen für die Einzelnen und gleichwertigen Lebensverhältnissen zwischen den Regionen entfernen wir uns immer weiter. Höchste Zeit, das zu ändern!

Autoren:
Dr. Andreas Aust, Dr. Joachim Rock und Lukas Werner

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de