Zum Hauptinhalt springen

Kindheit heute – Referat von Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des PARITÄTISCHEN Wohlfahrtsverbandes, anlässlich des 15-jährigen Bestehens des Deutschen Kinderschutzbundes in Sachsen am 8. Oktober 2005

Fachinfo
Erstellt von Ulrich Schneider

Ich muss gestehen: Als ich mich auf das Thema vorbereitete, wollte mir keine rechte Antwort einfallen. Die Bilder, die mir persönlich ganz spontan durch den Kopf gingen, scheinen zu unterschiedlich, zu zerfahren, um eine Antwort aus einem Guss zu erlauben. Dabei braucht gar nicht mehr der Kontrast zwischen dem sozialen Brennpunkt und dem Villenviertel bemüht werden. Auf ein und demselben Raum - auf demselben Schulhof oder in derselben Hortgruppe - klaffen heute die Lebenswelten auseinander....

6

Stellen Sie sich die kleine Janine vor, Erstklässlerin, immer hübsch frisiert, immer in wirklich chicen und geschmackvollen Kleidern, die jeden Morgen von ihrer nicht minder chicen Mama im flotten BMW zur Schule gebracht wird. Mittags fährt der BMW dann wieder vor, um Janine – je nachdem – zum Reitunterricht, zur Tanzgruppe oder zum Englischkurs zu fahren.

Da ist der kleine Timo. Es fällt auf, daß er, obwohl es doch schon Herbst und morgens ziemlich nass und kalt ist, er noch immer in Sandalen zur Schule kommt. Neue Turnschuhe bräuchte er auch mal. Bei den alten beulen vorne schon die Zehen „ganz doll“ aus, wie seine Freunde neulich im Sportunterricht belustigt feststellten.

Da ist David, der gern zu allen Geburtstagen eingeladen wird, weil er immer so teure Geschenke mitbringt – einmal sogar ein kleines ferngesteuertes Auto.

Und da ist Julia. Sie war neulich auch zum Kindergeburtstag eingeladen, kam aber nicht. Es war Monatsende, da reichte es nicht mehr für ein Geschenk. Und mit was Gebrauchtem oder ganz Billigem wollte ihre Mutter sie nicht losschicken. Da hätte sie sich geschämt.

Maxi fährt mindestens zwei Mal im Jahr in Urlaub. Seine Eltern haben ein Häuschen auf Mallorca. Im Winter fahren sie alle zusammen Ski. Auf die jährlichen Klassenfahrten in den Harz fährt Maxi natürlich auch gern mit.

Katharina dagegen ist das letzte Mal nicht mitgefahren. Ihre Mutter sagte, sie sei krank gewesen. Das stimmte aber nicht. Sie brauchte dringend einen neuen Wintermantel. Aus dem alten war sie herausgewachsen. Ihre Geschwister brauchten auch neue Sachen. Da hat es für den Ausflug nicht mehr gereicht.

Meine Damen und Herren,

dass die Lebenswelten von Kindern in Deutschland vielfältig sind, dass das Bild der Kindheit immer ein facettenreiches ist, ist eine triviale Feststellung. Kindheit erhielt zu allen Zeiten eine Vielfalt von Möglichkeiten und Lebensentwürfen, eine Vielfalt von kulturellen Zusammenhängen und normativen Mustern. Kindheit ist immer genauso vielfältig und genauso different wie die Subkulturen unserer Gesellschaft schlechthin, in denen sich Kindheit abspielt.

Ob wir trotz dieser Tatsache von einer Kindheit in Deutschland sprechen können, hängt entscheidend davon ab, wie die Übergangsmöglichkeiten für jedes einzelne Kind von einer Lebenswelt in die andere beschaffen sind oder ob sie überhaupt vorhanden sind. Sind soziale Herkunft, soziales Umfeld lediglich eine Mitgift im kindlichen Entwicklungsprozeß? Sind sie biographisch prägend? Oder sind sie gar ein abgestecktes Terrain, das zu verlassen nicht oder kaum möglich ist?

Nehmen wir dieses Kriterium der individuell vorhandenen Optionen und sozialer und sozial-kultureller Mobilitätschancen zum Maßstab, sehen wir, daß aus einem vielfältigen und facettenreichen Bild von Kindheit ein zerrissenes geworden ist - zerrissen wie diese Gesellschaft schlechthin, die sich immer deutlicher aufteilt in Arm und Reich, die ihre Ressourcen zur gesellschaftlichen Teilhabe immer ungleicher verteilt und Menschen in immer größerer Zahl ausgrenzt.

Um rund 17 % konnte zwischen 1998 und 2003 das Privatvermögen in Deutschland zunehmen. Pro Haushalt betrug es etwa 133.000 Euro. Das Problem: Beim obersten Zehntel in der Einkommensskala sind es im Durchschnitt 624.000 Euro, beim unteren Zehntel sind es im Durchschnitt 8.000 Euro Schulden. Die Zahl der überschuldeten Haushalte in Deutschland wuchs zwischen 1997 und 2002 um über 20 % auf 3,1 Millionen Haushalte. Jeder zwölfte Haushalt in Deutschland ist damit nicht einmal mehr in der Lage, die Zinsen und Tilgungen für seine Kredite abzustottern.

Hartz IV tat sein Übriges, um dieses Auseinandertriften zu beschleunigen. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres schnellte die Zahl derjenigen, die auf Sozialhilfeniveau leben müssen von rund drei Millionen Menschen auf über sechs Millionen hoch. Unter Einbeziehung der Dunkelziffer sind es sogar über sieben Millionen – 8,7 % der Bevölkerung.

Wo eine Gesellschaft sich jedoch immer tiefer spaltet in Arm und Reich, in Teilhabende und Ausgeschlossene, in Gutgehende und Resignierte, in Dazugehörende und Ausgeschlossene, in solche, die als Leistungsträger hofiert, und solche, die als Schmarotzer verunglimpft werden, erreicht dieser Spalt früher oder später auch unsere Kinder – spaltet Kindheit.

Wenn Janine im chicen Kleidchen kommt, und den Reit- und Englischunterricht besucht, während Timo festes Schuhwerk und passende Turnschuhe fehlen, wenn Maxi mehrmals im Jahr in Urlaub fährt, andere Kulturen und Sprachen kennenlernt und ganz selbstverständlich bei allen Aktivitäten seiner Schulklasse dabei ist, während Katharina nicht einmal an dem gemeinsamen Theaterbesuch, geschweige denn an der Klassenfahrt teilnehmen kann, dann sehen wir bereits die Spitze des Keils, der auch zwischen unsere Kinder getrieben wird.

Es ist der Keil der auseinander treibt, und das Bild einer wie auch immer gearteten Kindheit in Deutschland zum Zerreißen bringt – nicht weil Janine, Timo, Maxi und Katharina in sehr unterschiedlichen Bedingungen aufwachsen oder weil es besonders schlimm wäre, nicht zu jeder Geburtstagsfeier gehen zu müssen. Zerrissen wird das Bild deshalb, weil Kinder wie Timo oder Katharina auf Dauer wesentliche Chancen sozialer Mobilität genommen werden, weil sie damit ausgegrenzt werden und nicht einmal mehr auf bescheidenem Niveau selbstverständliche Teilhabe erfahren.

Man kann einwenden: Arme Familien hat es immer schon gegeben. Dies ist richtig. Neu ist jedoch die Tiefe des Spaltes zwischen Arm und Reich, der sich auftut, und neu ist die Dimension, in der sich derzeit materielle Ausgrenzung von Familien und Kindern in Deutschland mit all den verheerenden Folgen für die Kinder abspielt.

Nicht zuletzt verschuldet durch Hartz IV sind es heute rund 1,7 Millionen Kinder unter 15 Jahren, die auf einem völlig unzureichenden Niveau der Sozialhilfe oder des Arbeitslosengeldes II leben müssen. Dies sind 14,2 %, jedes 7. Kind in Deutschland.

Dass die Kinderarmutsquote in Ostdeutschland dabei noch beträchtlich höher ausfällt als in Westdeutschland, erstaunt nicht: Mit 24 % muss fast jedes 4. Kind in den ostdeutschen Ländern als einkommensarm gelten. In Städten wie Görlitz, Halle oder Schwerin sind es sogar bis 35 % der Kinder, die in Haushalten von Langzeitarbeitslosen und auf dem Niveau des Arbeitslosengeldes II leben müssen.

Es ist heute überhaupt noch nicht abzusehen, was es für ein modernes Gemeinwesen, das in jeder Hinsicht auf hohem Niveau organisiert ist, bedeutet, wenn fast schlagartig 1/3 seiner Kinder auf einem Niveau lebt, das keinen Musikunterricht zulässt, keinen Sportverein, keinen Zoobesuch, keinen Computerkurs, keinen Theaterbesuch, nicht einmal eine vernünftige Ausstattung mit Lernmitteln für den Unterricht – denn selbst dafür sind im Regelsatz für die Kinder lediglich 1,53 € vorgesehen.

Kindheit und Jugend werden sozialisationstheoretisch nur greifbar, und mit diesen Begriffen zu operieren macht nur dann einen Sinn, wenn sie sich deutlich abgrenzen von einer späteren Phase des Erwachsenseins. Eine solche Abgrenzung ist jedoch nur möglich, wenn diese Phase des Erwachsenseins zumindest in Umrissen als Perspektive vorweggenommen werden kann.

Nicht zufällig hat sich eine jede Pädagogik und eine jede Theorie von Kindheit, Jugend und Jugendhilfe zentral – ob kritisch oder unkritisch sei dahingestellt - mit den Zukunftsoptionen der Kinder und Jugendlichen auseinandergesetzt, die sich im Zusammenspiel von individuellen und gesellschaftlichen Faktoren ergeben.

Die Zukunftsperspektive ist konstitutiv für den Begriff der Kindheit. Kindheit heißt zu jeder Zeit, sich mit Zukunft auseinander zu setzen, auf Zukunft ausgerichtet zu leben in einer zur Erwachsenenphase unvergleichlichen Durchdringung.

Sei es das schon im Sommer wieder herbeigesehnte Weihnachtsfest, sei es die Freude auf einen für die nächste Woche geplanten Ausflug, sei es das mühsame Erlernen aller möglichen Kulturtechniken, um in Zukunft einmal so mächtig und unabhängig zu sein, wie die Großen. Sei es der Wunsch des kleinen Kindes, einmal Raumfahrer oder auch nur so zu werden wie Papa oder Mama, oder seien es auch die Zweifel junger Menschen an den ihnen vorgezeichneten Perspektiven. Kindheit und Jugend sind ohne die Ausrichtung auf Zukunft nicht denkbar. Die subjektive Vorwegnahme künftiger Optionen ist ständiger Antrieb und Motor von Entwicklung.

Dazu braucht es jedoch – um so dringlicher, je älter die Kinder werden – konkrete Perspektiven, mit denen sich der junge Mensch tatsächlich auseinandersetzen kann – und sei es auch „nur“, um gegen sie zu rebellieren.

Die Vielzahl künftiger Ereignisse, die das kleinere Kind antizipiert und dabei noch relativ unverbunden nebeneinander stehen lässt, verdichten sich mit zunehmenden Alter zu Gesamtperspektiven, indem Zusammenhänge von Wirkungen und Folgewirkungen erkannt werden, mehr und mehr Realitätssinn einzieht und indem Prioritäten gesetzt werden. Der Wunsch, einmal Raumfahrer zu werden, wird dem Bedürfnis nach konkreter Zukunftsperspektive irgendwann nicht mehr gerecht werden können, sondern realistischeren Optionen weichen müssen.

Wo Perspektiven jedoch nur noch abstrakt gegeben sind, da das reale Pendant fehlt, wo die reale Optionsbreite gegen Null geht, und Perspektiven damit mit zunehmendem Alter immer weniger konkret denkbar werden, wo sie allzu verschwommen bleiben oder auch als gar nicht mehr vorhanden empfunden werden, geht ein Stück Kindheit und geht ein Stück Jugend verloren, verändern Kindheit und Jugend dramatisch ihren Charakter.

Genau vor dieser Situation, meine Damen und Herren, steht Kindheit heute.

Bereits seit Jahren können wir beobachten, wie die sogenannte Normalerwerbsbiographie als die dominierende Option in Deutschland ausfranst. Die Perspektiven des Einzelnen, die über lange Jahre in den Bereichen Schule, Familie und letztlich Wirtschaft und Politik determiniert waren, wurden weniger eindeutig und zunehmend unsicher. Zukunftsplanung ist nicht erst heute ein relativ abstraktes Unterfangen. In unserer erwerbsarbeitsorientierten Gesellschaft, in der sich diese Orientierung im Denken und Empfinden fast eines jeden Einzelnen niederschlägt und ihn prägt, in der er nicht nur über Erwerbsarbeit sein Einkommen bestreitet, sondern darüber hinaus von früh auf lernt, sich über sie zu definieren, auf sie hin seine Zukunft zu planen und seinem Alltag eine Struktur zu verleihen, wird das objektive Pendant zu dieser Subjektivität – die realen gesellschaftlichen Erwerbsarbeitsmöglichkeiten nämlich – immer unzuverlässiger. Der Zusammenhang zwischen Qualifizierung und Berufsaussichten ist alles andere als selbstverständlich. Die spezifische Form der Zukunftsplanung junger Menschen – nämlich Schullaufbahn und Schulleistung – ist mehr oder weniger aufgeweicht. Dass Leistung sich tatsächlich lohnen soll, ist mehr als fraglich geworden. Nicht mehr selbstverständlich ist, dass nach der Schule der Eintritt ins Erwachsenen- (Erwerbsleben) stattfindet. Endgültig an Glaubwürdigkeit hat bereits seit Jahren der Mythos der freien Berufswahl verloren.

Eine neue Qualität ist im letzten Jahr insofern eingetreten, als dass wir uns wahrscheinlich noch überhaupt kein Bild davon machen können, was es für die Entwicklung von Strukturen und Kulturen im Gemeinwesen und für die Selbstdefinition und Zukunftsorientierung von Kindern bedeutet, wenn sie in Stadtteilen aufwachsen, wo der Normalfall die Arbeitslosigkeit ist und nicht die Erwerbstätigkeit, wo die Arbeitslosigkeit der Eltern keine überwindbare Episode darstellt, sondern eine für das Kind schicksalhaft anmutende Langzeitsituation.

Wie reagiert nun die im eigentlichen Sinne des Wortes „herrschende“ Pädagogik auf diese Krise? Welchen Begriff von Kindheit machen sich Familien- und Bildungspolitiker und die ihnen zuarbeitenden Professoren und Fachleute? Welche Lösungen bieten sie an?

Der Schlüsselbegriff heißt Bildung.

Was nach der Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie im Jahre 2000 an Reaktionen erfolgte, darf man getrost als Bildungshysterie bezeichnen. Das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler im internationalen Vergleich ließ Wirtschafts- und Bildungspolitiker zugleich um die künftige Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland fürchten. Der hinter dieser Furcht stehende Kindheitsbegriff als gesellschaftliche und ökonomische Humanressource fand in einer überraschenden, aber auch demaskierenden Ausschließlichkeit und Ehrlichkeit Ausdruck.

Wenn dabei auch die im internationalen Vergleich relativ geringe soziale Durchlässigkeit unseres Schulsystems angeprangert wurde, fand damit zwar ein deutlicher sozialpolitischer Aspekt Eingang in die Diskussion. Eine pädagogische würde sie dadurch jedoch noch nicht. Über die pragmatische Thematisierung der Wechselwirkung, wonach eine konkurrenzfähige Volkswirtschaft nun einmal möglichst viele sehr gut (aus)gebildete Menschen benötigt, diese wiederum ihre gute (Aus)bildung benötigen, um in dieser Erwerbsgesellschaft ihr Auskommen zu finden und ihr Fortkommen zu realisieren, kam die Diskussion kaum hinaus.

In solcher Verengung wunderte es auch nicht, daß Bildung mit Vorlage des zweiten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung im letzten Jahr zu einer Art sozialpolitischem Wundermittel heranreifte. Nicht Geld fehlt den Armen, sondern Bildung. Insofern mache es auch überhaupt keinen Sinn, ihnen mehr Geld zu geben. Was sie benötigten, seien Betreuungsangebote außerhalb der – verzeihen Sie mir die polemische Zuspitzung – ohnehin bildungsfernen Familien in der Arbeitslosenstatistik.

Die ganz handfesten Probleme von Timo, von Julia und Katharina wurden schlichtweg eingeebnet zu einem vermeintlichen Bildungsproblem. Das an sich richtige Bildungsargument geriet zum Totschlag-Argument gegenüber einer differenzierten Betrachtung der Einkommensarmut bei Kindern und der Forderung nach höheren staatlichen Transfers und einem bedarfsgerechten monetären Familienlastenausgleich.

Daß Bildungsangebote darüber hinaus einhergehen müssen mit der Entwicklung von tatsächlichen weiterführenden Perspektiven für die zu Bildenden, sollen Schulen und andere Angebote von den jungen Menschen nicht nur besucht, sondern tatsächlich angenommen werden, wurde kaum thematisiert.

Mit dem jüngst veröffentlichten 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, verschreibt sich nun offensichtlich auch die Jugendhilfe dem Bildungsbegriff und einer damit kaum zu vermeidenden Engführung. Kindliche Entwicklung wird weitestgehend als ein Bildungsprozess begriffen.

Dabei kann meines Erachtens auch der Verweis auf die wichtige Persönlichkeitsentfaltung und ähnliches nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dem Wechsel vom Erziehungsbegriff zum Bildungsbegriff einem main stream Vorschub geleistet wird, der eine Priorisierung von Aneignungsprozessen und insbesondere der Aneignung kultureller und ökonomisch verwertbarer Fähigkeiten Vorschub leistet.

Der Pisa-Schock hat mit dazu beigetragen, dass als Bildung letztlich gilt, was die OECD als solche ansieht und was sich den Vergleichstests unterziehen lässt. Es geht letztlich in allererster Linie um „Employability“, um die Ausstattung einer ökonomischen Humanressource, die ihre soziale und gesellschaftspolitische Legitimation darin findet, dass es ja letztlich auch im Interesse des Einzelnen ist, wenn er auf diesem Wege bessere Startchancen für die Bewältigung seines späteren Lebens in der Erwerbsgesellschaft erhält.

Daß Erziehung dagegen immer auch einen Prozess darstellt, der voll von Widersprüchen ist, der aus der Interaktion lebt, der ein tiefes Verstehen des Kindes voraussetzt, seiner Seele und nicht nur seines Verstandes, dass Entwicklung und Erziehung für ein Kind immer auch ein Hin- und Hergerissensein bedeutet, das Aushalten von Spannungen, das verwirrende sich Einfinden in Systeme der Freiheit und des Zwanges, all dies hat in der momentanen Bildungsdiskussion kaum Platz. Noch weniger Platz hat die Reflektion über den Begriff der Kindheit und über den Begriff des Kindes.

Kindheit heute konfrontiert uns als Verbandsvertreter mit ganz konkreten Aufgaben. Kindheit und Jugend, so führte ich aus, brauchen die wenigstens halbwegs konkret umreißbare Perspektive und Option. Dies kann die Pädagogik, dies kann die Jugendhilfe aus sich heraus niemals leisten. Schlimmer noch: Wo Perspektiven nicht gegeben sind, läuft auch Erziehung ins Leere. Gefragt sind vielmehr Arbeitsmarktpolitik, Wirtschafts- und Finanzpolitikpolitik, aber auch Verteilungspolitik. Unsere Aufgabe ist es, politisch kraftvoll Einfluss zu nehmen, damit sich endlich wieder Rahmenbedingungen abzeichnen, die den Kindern und Jugendlichen Perspektiven und Zukunft geben, und damit ihre Kindheit und ihre Jugend.

Als Pädagogen sind wir aufgefordert, dem Kind in der aktuellen Bildungsdiskussion zu seinem Recht und dem ihm gebührenden Stellenwert zu verhelfen. Wir müssen uns der Entfremdung von unseren Kindern, wie sie die Engführung auf den Bildungsbegriff als Gefahr in sich trägt, entgegenstellen. Nur wer das Kind in seiner Ganzheit begreift und wer es als Kind respektiert, wird ihm gerecht und kann eine Pädagogik leisten, die Kinder stark macht und sie befähigt, ihre Persönlichkeit zu schützen auch wenn die Zukunftsperspektiven verschwommen oder gar düster sind.

In diesem Sinne wünsche ich dem Kinderschutzbund in Sachsen weitere erfolgreiche 15 Jahre im Kampf um das „Recht des Kindes auf Achtung“, wie es der polnische Pädagoge Janusz Korczak ausgedrückt hätte.