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Offener Brief von Ulrich Schneider an ZEIT-Redakteur Kolja Rudzio

Fachinfo
Erstellt von Gwendolyn Stilling

Offener Brief zum Beitrag „Armutsschwindel“ in Die Zeit Ausgabe Nr. 9 vom 26. Februar 2015

Sehr geehrter Herr Rudzio,

in o. g. Beitrag werfen Sie unserem Verband und mir persönlich im Zusammenhang mit der Veröffentlichung unseres Armutsberichtes Schwindel vor.

Sie schreiben u.a.: „Es geht schon damit los, dass die Sache mit dem ‚historischen‘ Höchststand geschummelt ist. Auf Nachfrage erklärt eine Sprecherin des Verbandes, gemeint sei ‚seit der Wiedervereinigung‘. Nicht einmal das stimmt. Denn der Wohlfahrtsverband stützt sich auf Armutszahlen des Statistischen Bundesamtes, eigene Erhebungen hat er nicht. Das Bundesamt berechnet diese Zahlen aber erst seit 2005. Der Zeitraum, für den vergleichbare Daten vorliegen, beschränkt sich auf gerade einmal neun Jahre.“

Ich möchte Ihnen erklären, wie man prüft, ob die aktuelle Armutsquote von 15,5 Prozent einen historischen Höchststand markiert oder nicht: Zuerst stellt sich die Frage, welche der vorhandenen Datenbanken überhaupt zur Bestimmung der Armutsquote in Deutschland herangezogen werden soll. In unserem Armutsbericht greifen wir dazu regelmäßig auf die Daten des Mikrozensus zurück. Wie in den „methodischen Vorbemerkungen“ unseres Berichtes dargelegt, ist dies u.E. die valideste Quelle. Für diejenigen Leser, die hierzu vertiefte Informationen wünschen, verweisen wir auf meine ausführliche Diskussion der verschiedenen Erhebungen in meinem Buch „Armes Deutschland“ (Frankfurt am Main 2010), das bezüglich dieser methodischen Fragen nach wie vor aktuell ist.

Was ist nun zu tun, wenn die Datenreihe des Mikrozensus zur Armutsentwicklung in Deutschland lediglich bis zum Jahr 2005 zurückreicht? In diesem Fall muss zur historischen Einordnung der Werte der Vergleich mit anderen „Langen Reihen“ angestellt werden. Es bietet sich in diesem Fall das sozioökonomische Panel (SOEP) des DIW an, dessen Daten zur relativen Armut bis Mitte der 1980er zurückreichen. Bis in die frühen 1970er Jahre reichen die Daten der Einkommens- und Verbrauchsstatistik (EVS) (siehe hierzu u.a. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung „Lebenslagen in Deutschland – der 1. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ Bonn 2001 und die weiteren Berichte der Bundesregierung)

Überprüft wird die Differenz der Ergebnisse aus den verschiedenen Datengrundlagen in den Jahren, in denen sie sich „überlappen“. Dabei geht es weniger um die Größe der Differenz als vielmehr darum, ob sie im Zeitverlauf stabil bleibt und wir gleiche Trends haben. (Die Differenz selbst ergibt sich im Wesentlichen aus den unterschiedlichen Stichproben.) Ist dies der Fall, kann im Abgleich die historische Einordnung eines aktuellen Wertes sehr wohl wissenschaftlich seriös und solide vorgenommen werden. Genau diese Arbeitsschritte wurden von uns selbstverständlich vorgenommen. (Es ist übrigens ein ähnliches Verfahren, wie wir es bei der Überprüfung der Mikrozensusdaten vor und nach der Revision auf Grundlage des neuen Zensus 2011 angewandt haben; s Abschnitt „Methodische Anmerkungen“ in unserem Bericht).

Da die Wiedervereinigung 1990 eine besondere historische Zäsur darstellt, und es wenig Sinn macht, gesamtdeutsche Armutsquoten mit einer bundesrepublikanischen in langer Reihe zu vergleichen, ziehen wir es vor, bei der historischen Einordnung von Armutsquoten nicht weiter als bis Mitte der 1990er Jahre zu gehen, auch wenn dies theoretisch durchaus möglich wäre und im Übrigen zu demselben Ergebnis eines „historischen Höchststandes“ führen würde.

Insofern ist sowohl die Aussage des „Historischen Höchststandes“ richtig als auch die Auskunft unserer Sprecherin, dass ein Zeitraum „seit der Wiedervereinigung“ gemeint sei. Völlig falsch ist dagegen, dass unsere Aussage lediglich einen Zeitraum von 9 Jahren umfasse bzw. für diesen Zeitraum belegbar wäre. Geradezu rufschädigend ist Ihr aus dieser falschen Behauptung abgeleitete Vorwurf, wir würden schummeln und irreführen. Diesen Vorwurf muss ich hiermit in aller Form zurückweisen. Ich halte Ihnen durchaus zugute, dass Sie nicht „vom Fach sind“. Doch kann das nicht Ihren Anwurf entschuldigen, wir würden Unwahrheiten verbreiten und ohne Belege arbeiten.

Im Weiteren setzen Sie sich mit der Relativität des Armutsbegriffs auseinander. Sie schreiben mit Bezug auf unseren Armutsbericht: „Ob das mittlere Einkommen steigt oder fällt, ob es 3 000 Euro im Monat beträgt oder 10 000 Euro, ist völlig egal – geschaut wird nur, ob jemand deutlich weniger hat.“

Diese Behauptung ist einfach unwahr, wie Sie sehr wohl wissen, wenn Sie unseren Armutsbericht gelesen haben. Regelmäßig prüfen wir bei unseren Armutsberichten, wie sich die 60-Prozent-Schwellenwerte des Mikrozensus zu den jeweiligen Grundsicherungsniveaus des SGB II und des SGB XII verhalten. Aus Gründen, die wir in vielen Veröffentlichungen und Stellungnahmen hinreichend dargelegt haben, sind diese Schwellenwerte für uns ein plausibler Indikator für Einkommensarmut. In unserem aktuellen Armutsbericht gehen wir in dem Kapitel „Methodische Anmerkungen“ genau diesen Schritt, um das relative Armutskonzept „zu erden“. Für die Leser, die an weitergehenden Informationen interessiert sind, verweisen wir in unserem Bericht auf die Expertise unseres Verbandes zur „Fortschreibung der Regelsätze zum 01. Januar 2015“ vom Dezember 2014.

Nicht nur unterschlagen Sie diesen wichtigen methodischen Schritt in Ihrem Artikel, Sie behaupten sogar das genaue Gegenteil, dass es nämlich ausschließlich interessiere, „ob jemand deutlich weniger hat.“

Im Folgenden bringen Sie aus Ihrer Sicht besonders absurde Beispiele von internationalen Vergleichen, basierend auf dem relativen Einkommensarmuts-Konzept. Ganz unabhängig davon, dass auch wir solchen Vergleichen eher skeptisch gegenüber stehen, muss jedoch zweierlei angemerkt werden: Erstens hat dies mit unserem Armutsbericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland überhaupt nichts zu tun. Zweitens werden Sie mit Ihren oberflächlichen Ausführungen auch den EU-Statistikern keinesfalls gerecht, die ganz bewusst die Berechnung von Einkommensungleichheit immer gemeinsam und in Verbindung mit ihrem Konzept der materiellen Deprivation veröffentlichen, in dem neben dem Einkommen Versorgungslagen wie Wohnen, Ernährung oder die Ausstattung mit notwendigen Gebrauchsgütern eine Rolle spielen. Auch dies unterschlagen Sie, offensichtlich um der Pointe willen.

Schließlich vermengen Sie zum Ende Ihres Beitrages Ergebnisse des Mikrozensus mit denen von Eurostat und kommen damit – für den Leser unkenntlich – zu deutlich höheren Armutsschwellenwerten als wir in unserem Armutsbericht zugrunde legen. Sie „schieben“ uns praktisch Werte „unter“, mit denen wir nie gearbeitet haben und aus methodischen Gründen nie arbeiten würden.

Ich habe keinerlei Problem mit einer kritischen Diskussion des relativen Einkommensarmutskonzeptes und auch unseres Armutsberichtes. Wir sind auch jederzeit bereit darüber zu diskutieren, ob die Grundsicherungsniveaus des SGB II und des SGB XII bereits eine Armutsschwelle markieren oder ob Armut erst bei Pfandflaschen Sammeln, Obdachlosigkeit und Bettelei beginnt, wie Sie in Ihrem Artikel unter Verweis auf eine vermeintliche Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung nahelegen.

Ich bin jedoch nicht bereit hinzunehmen, wenn unser Verband und ich persönlich in ehrenrühriger Weise öffentlich als Schwindler vorgeführt werden sollen, indem wesentliche methodische Aussagen aus unserem Bericht bewusst unterschlagen und stattdessen wider besseres Wissen unwahre Behauptungen aufgestellt werden und indem unser Bericht zum Zwecke seiner Diskreditierung mit Statistiken und Daten verknüpft wird, die wir ganz bewusst nicht verwenden.

Ich halte Ihr Tun für mindestens unseriös.

Als Journalist werden Sie Verständnis dafür haben, dass ich dieses Schreiben als offenen Brief kommuniziere.

Hochachtungsvoll,

Dr. Ulrich Schneider
Hauptgeschäftsführer

Den Brief als PDF-Datei finden Sie hier:

OffBrf_Rudzio_Armut.pdf

Zum aktuellen Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes gelangen Sie hier:

www.der-paritaetische.de/armutsbericht