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Urteile des BSG zum Leistungsausschluss von Unionsbürger/-innen im SGB II

Fachinfo
Erstellt von Claudia Karstens

Am 03.12.2015 hat das Bundessozialgericht in drei Verfahren über den SGB II - Anspruch für Unionsbürger/-innen entschieden. Nachdem der EuGH in den Fällen Dano und Alimanovic den Leistungsausschluss im SGB II für mit dem Europarecht vereinbar erklärt hat, scheint das BSG den bestehenden, verfassungsrechtlich bedenklichen, vollständigen Leistungsausschluss im SGB II und SGB XII nicht zu akzeptieren. Das BSG zieht nun das deutsche Verfassungsrecht heran und erkennt bei einem Leistungsausschluss im SGB II einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zu. Außerdem ist stets zu prüfen, ob tatsächlich allein ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche besteht, oder andere, davon unabhängige Aufenthaltsrechte (fiktiv) vorliegen und somit der Leistungsausschluss für Personen, die sich allein zum Zweck der Arbeitssuche aufhalten, nicht greift.

Das Bundessozialgericht hat in drei Fällen über den Leistungsausschluss im SGB II für Unionsbürger/-innen entschieden.

Nachfolgend wird eingangs kurz der Fall geschildert und dann die wichtigsten Aussagen aus der Urteilsverkündung anhand des Terminberichts des BSG vorgestellt. Die endgültigen Formulierungen in den Urteilen bleiben abzuwarten. Anbei eine erste Einschätzung:

1. B 4 AS 59/13 R - G.  - Jobcenter Frankfurt am Main
Der 1955 geborene erwerbsfähige Kläger ist griechischer Staatsangehöriger und lebt seit Oktober 2011 ohne weitere Familienangehörige wieder in Deutschland. Vom 20.12.2011 bis 17.2.2012 war er als Lagerist/Fahrer sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Am 29.8.2012 wurde ihm eine Bescheinigung nach § 5 Abs 1 FreizügG/EU aF ausgestellt.

> Abschließende Entscheidung war in dem Fall zwar nicht möglich, weil u.a. möglicherweise noch andere Aufenthaltsrechte bestehen könnten, aber das BSG kommt zu folgenden Feststellungen:

- Der Vorbehalt der Bundesregierung bezüglich SGB-II-Leistungen im Rahmen des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) ist nach Auffassung des BSG gültig. Dieser gilt jedoch nicht für Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII, so dass Personen die dem EFA unterliegen (dies sind Bürger/-innen aller Staaten, die bereits vor dem Jahr 2004 der Europäischen Union angehört haben, außer Österreich und Finnland, unterzeichnet, sowie Estland, Malta, die Türkei, Island und Norwegen), Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII (außer § 67ff SGB XII) besitzen, wenn sie sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten und dem Grunde nach von SGB-II-Leistungen ausgeschlossen sind (zum Beispiel, weil sich ihr Aufenthaltsrecht aus der Arbeitsuche ergibt). Die Tatsache, dass sie gesundheitlich erwerbsfähig sind, steht dem nicht entgegen.

2. B 4 AS 59/13 R - Integrationscenter für Arbeit Gelsenkirchen, beigeladen: Stadt Gelsenkirchen

Streitig war, ob die Kläger, eine vierköpfige Familie mit rumänischer Staatsangehörigkeit, die 2008 nach Deutschland zugezogen ist, von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Zeitraum von Oktober 2010 bis November 2011 ausgeschlossen waren. Der Kläger zu 1) hatte in Rumänien eine Schlosserlehre absolviert, war dann zur Armee eingezogen worden und arbeitete 1993 bis 1995 als Taxifahrer sowie anschließend als Tagelöhner in der Landwirtschaft. Seine Ehefrau, die Klägerin zu 2), ging in Rumänien keiner Erwerbstätigkeit nach. Bis Ende 2010 verkauften sie gemeinsam die Zeitung "Fifty-Fifty" zu einem Abgabepreis von 1,80 Euro und einem "Einkaufspreis" von 0,90 Euro. Der Differenzbetrag von rund je 120 Euro im Monat verblieb bei ihnen. Der Kläger zu 1) hatte von Oktober 2008 bis Oktober 2009 ein Gewerbe für "Abbruch- und Entkernungsarbeiten, Hilfsarbeiten auf Baustellen" angemeldet, das er jedoch nicht betrieb und mit dem er auch keine Einkünfte erzielte. Für die beiden Söhne, die in Deutschland die Schule besuchten, erhielten die Eheleute Kinder­geld in Höhe von je 184 Euro. Der Beklagte lehnte die Erbringung von Alg II bzw Sozialgeld an die Kläger mit der Begründung ab, sie seien nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen.

> Das BSG hält den Leistungsausschluss für arbeitsuchende Unionsbürger/-innen zwar (nach den EuGH-Entscheidungen Dano und Alimanovic) für europarechtskonform. Der Leistungsausschluss gilt zudem "erst Recht" für Unionsbürger/-innen, die kein materielles Aufenthaltsrecht erfüllen, da sie noch nicht einmal über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche verfügen.

> Für Personen, die nicht dem EFA unterliegen, muss bei einem SGB-II-Ausschluss im Rahmen des Ermessens über SGB-XII-Leistungen entschieden werden. "Im Falle eines verfestigten Aufenthalts - über sechs Monate - ist dieses Ermessen jedoch aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG in dem Sinne auf Null reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist." Die Tatsache, dass sie gesundheitlich erwerbsfähig sind, steht dem nicht entgegen.

3. B 4 AS 43/15 R - Jobcenter Berlin Neukölln

Streitig war die Aufhebung einer laufenden Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für Monat Mai 2012. 
Die Kläger sind schwedische Staatsangehörige. Die 1966 in Bosnien geborene Klägerin zu 1) reiste im Juni 2010 erneut mit ihren Kindern, der im Mai 1994 geborenen Klägerin zu 2) und den in den Jahren 1998 und 1999 geborenen Klägern zu 3) und 4) in die Bundesrepublik ein. Ihnen wurde im Juli 2010 bzw 2011 eine Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt. Mit Ausnahme eines weiteren im Jahre 2005 in Schweden geborenen Kindes, das wegen der Zahlung von Unterhaltsvorschuss und Kindergeld nicht hilfebedürftig iS des SGB II ist, sind die anderen Kinder, also die Kläger zu 2) bis 4), während eines vorangegangenen langjährigen Aufenthalts in Deutschland geboren. Sie bezogen SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die zuletzt für die Zeit vom 1.12.2011 bis 31.5.2012 bewilligt wurden.

> Es ist stets zu prüfen, ob tatsächlich allein ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche besteht, oder andere, davon unabhängige Aufenthaltsrechte (fiktiv) vorliegen. Dazu gehört nach Auffassung des BSG auch das eigenständige Aufenthaltsrecht von Kindern, die hier zur Schule gehen, wenn einer ihrer EU-angehörigen Eltern aktuell arbeitet oder früher einmal gearbeitet hat - unabhängig davon, wie lange diese Arbeit her ist. Die Kinder haben in diesem Fall ein Aufenthaltsrecht bis zum Abschluss einer Ausbildung. Die Eltern haben dann ebenfalls ein Aufenthaltsrecht zur Personensorge (Art 10 VO (EU) 492/2011) . In diesem Fall ist der SGB II-Ausschluss nicht anwendbar. Für den vorliegenden Fall muss das LSG den Umfang und den Charakter der Arbeitszeiten der Klägerin sowie die tatsächliche Wahrnehmung der Schulausbildung oder der Ausbildung der Kinder prüfen.

Siehe auch die Terminberichte des BSG: http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=tm&Datum=2015&nr=14080