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Die Grundrente: ein Meilenstein auf einem langen Weg

Die Große Koalition hat sich nach langem Streit geeinigt: Ab 2021 gibt es die Grundrente. Dr. Joachim Rock liefert eine ausführliche Analyse.

Am 10. November 2019 haben sich die Koalitionspartner auf Bundesebene nach langen und kontroversen Debatten auch innerhalb und zwischen CDU und CSU auf die Einführung einer „Grundrente“ ab dem Jahr 2021 verständigt. Möglich wurde dies nur, indem ein größeres Verhandlungspaket geschnürt wurde, in das neben der Grundrente weitere Maßnahmen eingeflossen sind. Dass eine Einigung erreicht wurde, ist trotz der an Stelle der noch im Koalitionsertrag vorgesehenen Bedürftigkeitsprüfung nun vorgesehenen „umfassenden Einkommensprüfung“ ein Erfolg der SPD. An Stelle von ca. 130.000 Menschen, die von den im Koalitionsvertrag vereinbarten Regelungen profitiert hätten, sollen nun bis zu 1,5 Millionen Menschen mit langjährigen Beitragszeiten und geringen Rentenansprüchen und Einkommen von der Einführung einer Grundrente profitieren. Die dafür vorgesehenen Ausgaben werden von geschätzten 200 Millionen Euro für die Umsetzung der Beschlüsse aus dem Koalitionsvertrag auf etwa 1,5 Milliarden Euro steigen. Sie sollen aus Steuermitteln finanziert werden

Versuch, die Rentenansprüche von langjährig Beschäftigten mit niedrigen Einkommen zu verbessern

Die „Grundrente“ ist die vorerst letzte Bezeichnung für die in den vergangenen Jahren erfolgten Bemühungen, die vielzitierte „Lebensleistung“ von besonders langjährig Beschäftigten stärker anzuerkennen und dieser Gruppe ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung zu sichern. Bereits 2012 forderte die damalige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen die Einführung einer „Zuschussrente“ durch eine Erhöhung von besonders niedrigen Rentenanwartschaften aus langjähriger Beschäftigung. Die SPD lehnte dieses Konzept seinerzeit ab und forderte eine „Solidarrente“. Wer 40 Jahr in Vollzeit gearbeitet habe, so der Vorschlag, erhalte Anspruch auf eine Mindestrente von 850 Euro im Monat. Geringverdienende mit mindestens 30 Jahren Beitragszeiten sollten einen Zuschlag erhalten. Umgesetzt wurde keiner der Vorschläge.  Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD aus dem Jahr 2013 wurde  wenig später die Einführung einer „Solidarischen Lebensleistungsrente“ bis 2017 vereinbart, aber ebenfalls nicht umgesetzt.

Innerhalb der Legislaturperiode 2016 legte dann die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles  - wiederum unter dem Titel „Solidarrente“ - einen Vorschlag vor.  Diese Leistung sollte außerhalb des Renten- und Fürsorgerechts angesiedelt sein und sah bis zu 40 Jahren an Beitragszeiten als Anspruchsvoraussetzung für einen Zuschlag auf die Rente vor, dazu eine zusätzliche Einkommensprüfung. Die nun beschlossene „Grundrente“ kommt dem Konzept in diesem Punkt nahe. Sie ist nun der vorerst letzte Versuch, die Rentenansprüche von langjährig Beschäftigten mit niedrigen Einkommen gezielt zu verbessern. Anders als in den Ergebnissen der Sondierungsgespräche Anfang 2018 wird der Begriff inzwischen nicht mehr in Anführungszeichen gesetzt, obwohl der Begriff der  „Grundrente“ typischerweise eine allen Versicherten gleichermaßen zustehende Sockelrente bezeichnet. Die in den 1980er Jahren von Meinhard Miegel und Kurt Biedenkopf entwickelte „Grundrente“ etwa sah eine solche steuerfinanzierte Grundrente vor, die die beitragsfinanzierte Rentenversicherung ablösen sollte. Die nun beschlossene „Grundrente“ hat einen anderen Anspruch. Sie ist ausdrücklich kein Instrument der Armutsvermeidung durch eine Plafondierung von Ansprüchen, sondern richtet sich an langjährig Beschäftigte mit geringen Rentenansprüchen. Mangels entsprechender Daten kann dabei nicht unterschieden werden, ob die geringen Ansprüche aus Teilzeit- oder Vollzeitbeschäftigung entstanden sind. Die hohen Erwartungen, die der Begriff der „Grundrente“ gerade bei vielen Erwerbsgeminderten und Grundrente“ gerade bei vielen Erwerbsgeminderten und Grundsicherungsberechtigten schürt, werden jedoch uneingelöst bleiben.

Paketlösungen mit kuriosen Folgen

Das nun beschlossene „Grundrentenpaket“ besteht aus mehreren Elementen. Die Grundrente (die Anführungszeichen können im Folgenden mitgedacht werden) richtet sich an Rentnerinnen und Rentner, die über 35 Beitragsjahre in der Rentenversicherung verfügen und dabei im Schnitt nur Ansprüche in Höhe zwischen 30 und 80 Prozent der Ansprüche von Durchschnittsverdienenden erworben haben. Sie erhalten einen Zuschlag, soweit ihr Einkommen bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Ihr jährlicher Anspruch wird verdoppelt, bis auf maximal 0,8 Entgeltpunkte, dem Gegenwert des Rentenanspruchs, der bei einem Verdienst in Höhe von 80 Prozent eines Durchschnittseinkommens erworben wird. Dass der Zuschlag „zur Stärkung des Äquivalenzprinzips“, wie es in der Einigung heißt, direkt wieder um 12,5 Prozent reduziert werden soll, ist eine konzeptionelle Kuriosität. Menschen, die weniger als 30 Prozent des Durchschnittseinkommens erhielten, erhalten keinen Anspruch. Das dient dazu, geringfügige Beschäftigung nicht zusätzlich zu honorieren. Für die Grundrente sollen Beitragsjahre aus versicherter Beschäftigung, Zeiten bei Krankheit und Rehabilitation, Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung und Zeiten der nicht gewerbsmäßigen Pflege Berücksichtigung finden. Zeiten der Arbeitslosigkeit bleiben dadurch in der Regel ebenso unberücksichtigt wie die Zurechnungszeiten für Erwerbsgeminderte.

Die Einkommensgrenze soll bei 1.250 Euro für Alleinstehende und 1.950 Euro für Paare liegen. Eine Prüfung soll ohne separate Antragstellung durch einen automatischen Abgleich der Daten zwischen Finanzämtern und Rentenversicherung erfolgen. Das ist derzeit technisch noch nicht möglich, rechtzeitig zum Inkrafttreten Anfang 2021 sollen die Voraussetzungen jedoch geschaffen sein. Wer knapp an den Voraussetzungen von 35 Beitragsjahren oder der Einkommensschwelle scheitert, soll von einer noch nicht näher definierten Gleitzone profitieren. Denkbar wäre etwa, dass ab 30 Beitragsjahren ein Zuschlag gezahlt wird, der bereits bei 0,6 Entgeltpunkten endet. Eine noch weitergehende Absenkung der Zeiten würde dazu führen, dass trotz Grundrente keine Aussicht bestünde, ein Einkommen oberhalb der Grundsicherung zu erreichen.

Die Friseurkraft als schleches Beispiel

Die Verbesserung der Ansprüche knüpft konzeptionell an die Rente nach Mindesteinkommen bzw. die nach Mindestentgeltpunkten an, die zur Verbesserung von geringen Ansprüchen vor 1992 bist heute bestehen. Besonders Frauen werden von einer solchen Neuregelung profitieren. Sie stellen 70 bis 80 Prozent der Zuschlagsberechtigten. Als Beitrag zur Bekämpfung von Altersarmut ist die Grundrente aber nur bedingt einsatzbereit. Hier bedarf es weitergehender Reformen. Auch darf das Leistungsniveau nicht überschätzt werden: Seitens der Verhandlungspartner wird gerne das Beispiel einer Friseurkraft mit einem Anspruch von 513 Euro aus langjähriger Beschäftigung zitiert, die mit der Grundrente 961 Euro (immer brutto) erreichen kann. Tatsächlich aber dürfte der Anspruch im Regelfall wegen der vorausgesetzten, mindestens 35jährigen Beschäftigungszeit und den damit erworbenen eigenen Ansprüchen deutlich niedriger liegen. Setzt man die geschätzten Ausgaben zu den kalkulierten Berechtigtenzahlen ins Verhältnis, kommt man auf eine im Schnitt auf eine um 85 Euro (brutto) höhere Rente, alles andere als eine „Grundrente“.

Um das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel einer spürbaren Verbesserung des Einkommens im Alter für diese Gruppe zu erreichen, soll es zusätzliche Änderungen beim Wohngeld und in der Grundsicherung im Alter geben. Beim Wohngeld soll durch einen Freibetrag sichergestellt werden, dass Zuwächse in der Rente nicht direkt durch ein Sinken des Wohngeldanspruchs egalisiert wird. 80 Millionen Euro sind dafür vorgesehen.

Nur ein Viertel erfüllt Voraussetzungen

Mit der Einführung eines Freibetrages in der Grundsicherung exklusiv für diejenigen, die grundrentenberechtigt sind und Grundsicherung beziehen, vereinbarten die Koalitionspartner einen Systembruch, dessen Konsequenzen weitreichend sind. Künftig sollen Menschen in der Grundsicherung, die gleichzeitig 35 Beitragsjahre in der Rentenversicherung aufweisen können, von einem Freibetrag in Höhe von 100 Euro zuzüglich 30 Prozent ihrer darüber hinausgehenden (Grund-)rentenansprüche, maximal jedoch bis zur Hälfte des Regelsatzes (das entspricht derzeit bis zu 212 Euro), profitieren. Nur etwa ein Viertel der annähernd 590.000 Grundsicherungsbeziehenden im Alter zum Jahresende 2018 erfüllt diese Voraussetzung. Für Leistungen aus privater und betrieblicher Vorsorge besteht ein solcher Freibetrag schon heute. Beide Freibeträge sollen addiert werden können. Eigenes Einkommen bleibt in der Höhe des Freibetrags anrechnungsfrei und schmälert den Grundsicherungsanspruch nicht. Wer heute beispielsweise insgesamt 800 Euro Grundsicherung im Alter bezieht, könnte danach bei optimaler Ausschöpfung der Freibeträge bis zu 1.224 Euro Monatseinkommen haben und dennoch weiter grundsicherungsberechtigt sein. Die steuerfinanzierte Grundsicherung im Alter, die bislang am Bedarf und der persönlichen Leistungsfähigkeit anknüpfte, umfasst künftig Berechtigte erster, zweiter und dritter Klasse:

 

  • Die "unwürdigen" Grundsicherungsempfänger, die wie bisher den Regelbedarf von derzeit 424 Euro zzgl. der Kosten der Unterkunft und Heizung erhalten, bei voller Anrechnung ihrer Einkommen, trotz nicht selten vergleichbarer eigener Leistungen. Im Schnitt liegt der Bedarf dort bei etwa 800 Euro.
  • Die etwa 25 Prozent unter ihnen, die über 35 Beitragsjahre verfügen. Mit dem neuen Freibetrag bleibt ihnen künftig ein zusätzliches Einkommen von bis zu 212 Euro, zusätzlich zu ihrem Grundsicherungsanspruch.
  • Der kleine Teil derer unter den 25 Prozent, die nochmal betrieblich oder privat vorgesorgt haben. Sie können künftig zusätzliches Einkommen in Höhe von bis zu einem kompletten Regelsatz von derzeit 424 Euro monatlich behalten.

 

Die Maßstäbe für diese Differenzierung innerhalb der Grundsicherung werden aus den Rentenansprüchen abgeleitet. Damit wird zusammengeführt, was nicht nur sozialpolitisch nicht zusammengehört: das steuerfinanzierte Fürsorge- und das beitragsfinanzierte Versicherungssystem. Durch die Freibetragslösung wird auch erschwert, was eigentlich erleichtert werden sollte: die Freibeträge führen zwar zu einer höheren Leistung in der Grundsicherung, gleichzeitig führt die Grundrente dadurch aber nicht mehr aus der Grundsicherung hinaus. Die Zahl der Grundsicherungsberechtigten wird deshalb künftig noch stärker steigen als heute schon prognostiziert. Die schon jetzt bestehende Privilegierung betrieblicher und privater Vorsorge wird dadurch fortgeschrieben. Gerade für Geringverdiener führt das zu Fehlanreizen, Einkommen in der häufig unrentablen privaten Vorsorge anzulegen.

Zahlreiche Entlastungen

Flankiert wird die Einigung zur Grundrente durch weitere Regelungen. So sollen die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung weiter sinken. Bereits zum Jahresanfang 2019 sind die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 3 auf 2,5 Prozent des Bruttoverdienstes gesenkt worden. Bis 2022 soll er nun bei 2,4 Prozent festgeschrieben werden. Das entspricht einer Entlastung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Höhe von 1,2 Milliarden Euro/Jahr und verringert die Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitsagenturen, etwa bei der Förderung der Weiterbildung.

Eine weitere Entlastung wurde hinsichtlich der bestehenden vollen Beitragspflicht von Beziehenden von Betriebsrenten und Kapitalauszahlungen zur Gesetzlichen Krankenversicherung vereinbart.  Der Versicherungsbeitrag wird bei gesetzlichen Renten jeweils zur Hälfte von der Rentenversicherung und den Versicherten getragen wird. Die Beiträge auf Betriebsrenten und Kapitalauszahlungen müssen bisher vollständig von den Berechtigten gezahlt werden, soweit die Ansprüche die bestehende Freigrenze von 155,75 Euro überstiegen. Nur wer darunter lag, war beitragsfrei. Diese Grenze wird nun in einen dynamischen Freibetrag umgewandelt. Anders als bei der Freigrenze, von der nur die darunter liegenden profitieren, kommt der Freibetrag allen zugute. Dadurch sollen 60 Prozent der Betriebsrentner nur noch Beiträge etwa in Höhe des halben Krankenversicherungsbeitrags zahlen, die verbleibenden 40 Prozent sollen zumindest spürbar entlastet werden. Die damit verbundenen Beitragsausfälle sollen aus den Rücklagen der Krankenversicherung finanziert werden, also durch die Beitragszahlenden.

Automatischer Datenabgleich statt Beantragen

Der Blick auf das Gesamtpaket zeigt, dass die vieldiskutierte Grundrente mit ihren jährlichen Gesamtausgaben von etwa 1,5 Milliarden nur einen kleinen Teil des finanziellen Gesamtvolumens der Einigung ausmacht. Dennoch und trotz der genannten Einschränkungen ist die Einigung insgesamt ein Erfolg. Sie kann wenigstens langjährig Versicherten helfen, Altersarmut zu überwinden oder zumindest zu mildern. Anders als bei der Grundsicherung, die aus Scham, Unwissenheit oder der Angst von einer Inanspruchnahme Angehöriger von über 60 Prozent der Berechtigten nicht beantragt wird, soll die Einkommensüberprüfung bei der Grundrente durch einen automatisierten Datenabgleich zwischen Finanzämtern und Rentenversicherung erfolgen. Dieser besteht bislang nicht, soll aber im Laufe des nächsten Jahres erreicht werden. Dies würde neue Möglichkeiten bieten, den Grundsicherungsbezug insgesamt zu entbürokratisieren.

Einmal mehr hingegen bleiben alle diejenigen unberücksichtigt, die schon in den vergangenen Jahren nicht von dem gewachsenen Wohlstand profitierten: etwa 1,8 Millionen bereits  Erwerbsgeminderte, an denen die jeweils für die Zukunft in Kraft getretenen Leistungsverbesserungen vorbeigegangen sind, und die große Mehrheit der schon jetzt auf Grundsicherung angewiesenen Menschen. Sie müssen befürchten, dass der Gestaltungswille der Beteiligten in der Alterssicherung mit der hart erkämpften Einigung erschöpft ist. Hier müssen Nachbesserungen im Gesetzgebungsprozess erstritten werden. Die vorgesehene Freibetragslösung in der Grundsicherung auf  alle Grundsicherungsberechtigten auszuweiten und die Bindung an die Grundrentenzeiten zu verhindern, wäre trotz der geschilderten Nachteile ein Beitrag dazu. Der Weg dahin ist noch weit, da zum jetzigen Zeitpunkt weder die Fraktionen der Regierungsparteien noch die bevorstehenden Parteitage „grünes Licht“ für eine Fortführung der Koalition und eine Umsetzung der Grundrente gegeben haben. Die Grundrente wäre nicht der erste alterssicherungspolitische Vorschlag, der im Entwurf alt wird.

Der Paritätische hat umfangreiche Vorschläge für eine echte, betroffenenorientierte Reform der Alterssicherung vorgelegt. Sie finden sich hier.

Autor:

Dr. Joachim Rock ist Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa beim Paritätischen Gesamtverband

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de