Zum Hauptinhalt springen

Hilfe statt Strafe

Das Verfassungsgericht hat geurteilt: Hartz-IV-Sanktionen sind teilweise verfassungswidirg. In den letzten 15 Jahren wurden tausende Betroffene zu Unrecht sanktioniert. Dass das Sanktionssystem dennoch so lange fortbestehen konnte, ist skandalös.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem es die Sanktionierung von sogenannten Pflichtverletzungen unter strenge Voraussetzungen stellt und in der Höhe auf 30 Prozent der Regelleistung beschränkt, war überfällig. Es ist eine Ohrfeige für die Bundesregierung und ihre Vorgänger. Das Gericht hat deutlich gemacht, dass das starre und die individuelle Situation der Hilfeberechtigten nicht genügend berücksichtigte Sanktionssystem im SGB II in weiten Teilen verfassungswidrig ist. In den zurückliegenden 15 Jahren wurden damit viele tausend Betroffene zu Unrecht in besonders schwerwiegender Weise sanktioniert. Dass das Sanktionssystem dennoch über so viele Jahr unverändert fortbestehen konnte, obwohl auch die hohe Quote von erfolgreichen Widersprüchen und Klagen gegen Bescheide längst eine umfassende Reform nahgelegt hätte, ist skandalös.

Die Folgen von Sanktionen sind weitgehend: Das Gericht selbst beschreibt sie in seinem Urteil deutlich: „Der Gesetzgeber enthält vor, was er (…) zu gewährleisten hat; er suspendiert, was Bedürftigen grundrechtlich gesichert zusteht, und er belastet damit außerordentlich“. Der zuständige Erste Senat des Gerichts stellt klar, dass das Existenzminimum nicht in unerlässliche physische Bedarfe und disponiblere soziokulturelle Teilhabeleistungen zerlegt werden darf, sondern insgesamt geschützt ist. Jede Minderung des Existenzminimums führt, so dass Gericht, dazu, dass Bedarfe ungedeckt bleiben, die für eine menschenwürdige Existenz grundlegend sind. Der Verlust der Wohnung, des Krankenversicherungsschutzes und der Mittel zur Deckung grundlegender Bedarfe war vielfach die Folge der Sanktionen. Diese Praxis abzuschaffen, wäre längst geboten gewesen.

Das Sozialgesetzbuch II sieht ausdrücklich vor, dass die Wirkungen der Maßnahmen regelmäßig und zeitnahe zu erforschen sind. Dieser Vorgabe hat die Bundesregierung nicht genügt. Zu Recht kritisiert das Gericht das Fehlen tragfähiger Daten, dies nicht zum ersten Mal: Erst 2010 hatte es in seinem Urteil zu den Regelbedarfen einen „völligen Ermittlungsausfall im Hinblick auf den kinderspezifischen Bedarf“ festgestellt und die Bundesregierung zu weitreichenden Änderungen verpflichtet. Dass der Gesetzgeber selbst offenkundige Defizite nicht zeitnahe behebt, sondern gerade im Bereich der Existenzsicherung immer wieder durch das Bundesverfassungsgericht dazu verurteilt werden muss, ist beschämend.

Umfassende Reformen sind gefordert

Die Bundesregierung ist nun gefordert, schnellstmöglich eine umfassende Reform vorzulegen, die über die Beseitigung der ohnehin verfassungswidrigen Vorschriften hinausgeht. Eine vollständige Abschaffung des Sanktionssystems wäre sinnvoll und richtig. Solange der politische Wille dazu fehlt, gilt es, so viele Härten wie möglich zu beseitigen. Dazu zählen etwa die besonders harten Sanktionen für junge Menschen unter 25 Jahren. Begrüßenswert ist, dass Bundesarbeitsminister Heil in seinem Zukunftsdialog bereits angekündigt hat, dies berücksichtigen zu wollen. Auch sein Vorschlag, zumindest in den ersten beiden Jahren des Grundsicherungsbezugs sicherzustellen, dass Berechtigte nicht zum Umzug in eine andere Wohnung gezwungen werden, wäre ein Fortschritt.

Noch wenig beachtet wird, dass das Urteil die Arbeit in den Jobcentern erheblich verändern wird. Es gibt heute nur noch wenige Orte in Deutschland, in denen sich Menschen derart ausgeliefert fühlen müssen, wie in den Jobcentern. Die Sanktionen sind der sichtbarste Ausdruck dessen, dass die Unterstützung nicht auf Augenhöhe vereinbart wird, sondern gegebenenfalls einseitig auferlegt werden kann. Weniger Sanktionen bieten deshalb mehr Chancen für eine neue Vertrauenskultur unf für eine individuellen Unterstützung der arbeitsuchenden Menschen. Dies setzt aber zusätzlich voraus, dass die Unterstützungsmöglichkeiten gerade für Langzeitarbeitslose ausgebaut werden müssen. Das Fördern blieb bislang deutlich hinter dem Fordern zurück.

Vertrauensvolle Zusammenarbeit möglich

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ämter waren schon bisher in der schwierigen Situation, Arbeitsuchende auch gegen ihre eigene Überzeugung sanktionieren zu müssen. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Berechtigten kann so nicht entstehen. Viele Sachbearbeitende haben deshalb schon bei der Erstellung von Bescheiden zu Gunsten der Berechtigten etwa auf Rechtsbehelfsbelehrungen verzichtet und so erreicht, dass Sanktionen schon formal ausgeschlossen waren. Ihnen wird in Zukunft ein noch stärkeres Ermessen und damit eine noch größere Verantwortung zukommen. Für die Berechtigten selbst bedeutet es, dass die Gestaltungsmöglichkeiten ihres Gegenübers zunehmen. Das wird nur dann als Erleichterung wahrgenommen werden, wenn das Urteil zum Anlass genommen wird, Fördermöglichkeiten auszuweiten und einen radikalen Kulturwandel in den Jobcentern durchzusetzen. Mehrere Jobcenter haben selbst bereits Schritte dahin umgesetzt. Künftig muss gelten: Hilfe statt Strafe.

Autor:

Dr. Joachim Rock ist Abteilungsleiter im Deutschen Paritätischen Gesamtverband e.V. und war in der mündlichen Verhandlung zum Verfahren als Sachverständiger beteiligt.

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de