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Engagement stärken und Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe gewinnen: Lernerfahrungen aus vier Projektjahren

„Wir finden keine Engagierten mehr“! Eine Sorge, die viele Organisationen und Projekte in der Flüchtlingshilfe teilen. Was Organisationen tun können, um Engagierte zu gewinnen und welche Rolle die eigenen Strukturen und Arbeitsweisen dabei spielen, zeigt dieser Blogbeitrag.

„Wir finden keine Engagierten mehr“! Eine Sorge, die viele Organisationen und Projekte in der Flüchtlingshilfe teilen. Seit 2015 haben sich sehr viele Menschen für Geflüchtete engagiert, aber in den letzten Jahren ist ihre Zahl wieder gesunken, der Bedarf an Unterstützung aber gleichbleibend hoch. Neue Engagierte müssen dennoch immer häufiger aktiv angesprochen werden. Was Organisationen tun können, um Engagierte zu gewinnen und welche Rolle die eigenen Strukturen und Arbeitsweisen dabei spielen, zeigt dieser Blogbeitrag.

Der soziale Faktor Gemeinschaft

Es gibt viele Motive, sich für geflüchtete Menschen zu engagieren: gesellschaftspolitisches Engagement gegen rechts, karitative Hilfe in der Not, Interesse an den Menschen oder persönliche Kontakte. Wer sich engagiert, tut dies aber auch gerne in der Gemeinschaft. Menschen für ein Engagement in der Flüchtlingshilfe zu gewinnen kann also dann besonders gut gelingen, wenn eine Organisation neben funktionalen Angeboten für Ehrenamtliche (wie zum Beispiel Koordination, Beratung, Qualifizierung oder Vermittlung) auch soziale Selbstwirksamkeit und ein Gemeinschaftsgefühl ermöglichen. Hier sind dann – je nach Organisation – nicht nur die Engagierten und geflüchteten Menschen gefragt, sondern auch die Fachkräfte der sozialen Arbeit selbst. Dies spiegelt sich zum Beispiel in den vielfältigen Formen und Anlässen von Freizeitaktivitäten, Festen, Ausflügen oder ähnlichen gemeinschaftsstiftenden Aktivitäten wieder. Sie können nicht nur für die geflüchteten Menschen sondern auch für Engagierte nachhaltig integrativ wirken.

Das Selbstverständnis

Damit ein Gemeinschaftsgefühl entstehen kann, benötigt die Organisation natürlich eine Identität, ein sinnstiftendes Selbstverständnis, worauf man sich im täglichen Miteinander beziehen kann. Das ermöglicht Organisationen einerseits, nach außen hin deutlich zu machen, wofür man steht und was neue Engagierte erwarten können (und so können zum Beispiel auch Menschen leichter ausgeschlossen oder ferngehalten werden, die sich nicht mit den Zielen und Werten der Organisation auseinandersetzen). Andererseits kann die Erarbeitung eines gemeinsamen Selbstverständnis‘ auch ein sinn- und gemeinschaftsstiftender Prozess sein, sofern dieser partizipativ angelegt ist.

Partizipation und Transparenz

Daher ist es notwendig, die Arbeit in der Organisation niedrigschwellig, zugänglich, transparent und teilhabeorientiert zu gestalten – soweit Partizipation in den einzelnen Handlungsfeldern der Organisation eben erwünscht ist. Ehrenamtliche können dann gut gewonnen werden, wenn allen Beteiligten die Arbeitsweise- und Strukturen und die Verantwortlichkeiten in der Organisation klar sind und diese auch – soweit möglich – selbst mit gestaltet werden können. Hierzu können beispielsweise Buddy- oder Mentor*innenprogramme hilfreich sein.

Einstellungen und Machtverhältnisse

Um diese Strukturen zu schaffen, ist es aber notwendig, Machtverhältnisse, Hierarchien und (un)bewusste Einstellungen und Diskriminierungsformen zu reflektieren: Sexismus, Rassismus oder Klassismus können auch in Organisationen und bei Menschen wirken, die sich für Geflüchtete engagieren. Machtverhältnisse und Hierarchien bestehen immer, das Ziel sollte es sein, sie transparent zu machen und soweit wie möglich abzubauen. Partizipation ist (auch) Power Sharing. Menschen mit eigenem Flucht- oder Migrationshintergrund oder Menschen mit nicht-akademischem Hintergrund können dann eher für ein Engagement gewonnen werden.

Sprache

Dafür ist es notwendig, auch die Sprache zu reflektieren. Worüber wird gesprochen – und wie wird darüber gesprochen? Sprache schafft Realitäten und kann auf vielen Ebenen inklusiv und gemeinschaftsstiftend, aber auch exklusiv und ausgrenzend wirken. Dabei geht es nicht nur um Deutschkenntnisse oder das Gendern: eine akademische Sprache kann einschüchtern und Begriffe wie „Flüchtlingskrise“,  „Flüchtlingswelle“ oder „Asylant“ sind negativ konnotiert und können auch so wirken.

Wege zum Glück: Engagierte gewinnen

Seit 2015 haben sich sehr viele Menschen für Geflüchtete engagiert. Die große öffentliche und mediale Präsenz hat maßgeblich dazu beigetragen, Engagierte zu aktivieren. In der Folge haben die Engagierten sich Betätigungsfelder und Organisationsformen gesucht, auch in der Freien Wohlfahrt. Seit 2017 hat sich die Zahl der Engagierten wieder verringert, aber auf einem höheren Niveau als vorher etabliert. Neue Engagierte müssen immer häufiger aktiv angesprochen werden. Aber wie gelingt das?

Kontakte und Erzählungen

Aus unseren Projekterfahrungen wissen wir: Die beste Werbung ist die Mund-zu-Mund-Erzählung, sind persönliche Kontakte. Wenn sich Menschen in ihrer Organisation wohlfühlen, erzählen sie davon und bringen vielleicht neue Engagierte mit. Ehemalige Engagierte können als Alumni gute Botschafter*innen werden. Eine große Ressource liegt aber vor allem bei den geflüchteten Menschen selbst, die Hilfe erhalten haben. Immer mehr engagieren sich selber; das gelingt aber nur, wenn die Organisation hier entsprechend offen ist (siehe oben).

Öffentlichkeitsarbeits- und Pressearbeit

Hat der Verein ein Selbstverständnis entwickelt, kann dies auch für die Werbung genutzt werden. Ob in Social Media, auf der Website oder in Anzeigen – immer steht im Vordergrund die Frage, warum Menschen sich gerade bei dieser Organisation engagieren sollten. Dafür ist es wichtig, dass Organisationen erzählen, wofür sie stehen und was sie bieten, aber auch, was sie von Engagierten erwarten. Instrumente wie story telling, zum Beispiel über kurze Videos, oder die Präsentation der eigenen Organisation und entsprechende Engagementmöglichkeiten bei Veranstaltungen, Messen etc. sind hier gute Wege. Auch neue Formate wie Webinare können genutzt werden.

Dabei sollte man beachten: Keine Ressourcen für parallele Strukturen vergeuden. Nutzen Sie soziale Medien und Kanäle, die bereits durch viele andere genutzt werden: Über facebook erreichen Organisationen eher die ab 30-jährigen, aber dafür auch viele Menschen mit Migrationsgeschichte. Über Twitter werden insgesamt weniger Menschen erreicht, es eignet sich aber gut für die Öffentlichkeits- und Pressearbeit. Kreative Wege gehen kann man ebenfalls: Warum nicht mal Engagierte über ebay-Kleinanzeigen suchen?

Netzwerke und Kooperationen

Neben den bereits erwähnten Motiven sind auch die Milieus von Bedeutung, aus denen Engagierte kommen und die Netzwerke, die Organisationen knüpfen. Zugänge über Universitäten und Hochschulen gestalten sich zum Beispiel recht einfach, denn hier findet sich eine große Schnittmenge an Menschen, die Ressourcen, Einstellungen und Fähigkeiten haben, geflüchtete Menschen direkt zu unterstützen. Auf Auszubildende oder Menschen im Berufsleben trifft das seltener zu. Hier müssen andere Wege der Ansprache und Gewinnung gegangen werden, zum Beispiel über Kooperationen mit Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen, Vereinen o.ä.

Engagierte müssen dort gewonnen und abgeholt werden, wo sie stehen, sie sprichwörtlich in die Organisation reinzuholen gelingt gerade bei Menschen zwischen 30 und 60 nicht so gut. Projekte müssen also unter Berücksichtigung dieser Bedingungen und nach Möglichkeit frühzeitig mit den (potentiellen) Kooperationspartner*innen geplant werden. Ob es um die Themen Studium/ Ausbildung, Berufsorientierung, Schule, Wohnen oder Freizeit geht: Überall bieten sich Kooperationspartner*innen an. Hier heißt es umschauen und Gespräche führen, Netzwerke knüpfen und Sachen ausprobieren. Engagement ist vielfältig und verändert sich ständig. Machen Sie deutlich, wo der Mehrwert für die Engagierten und die Kooperationspartner*innen liegt.

Gesellschaftspolitische Entwicklungen: Ereignisse und Bündnisse

Und ein letzter Punkt: Es gibt immer wieder gesellschaftliche Entwicklungen, die einen Einfluss auf das Engagement haben: Häufig sind das Ereignisse wie  Anschläge, Gewalttaten, Wahlerfolge von rechten Parteien, rechte Hasskampagnen, Schiffsunglücke im Mittelmeer oder Gesetzesänderungen. Aus der Erfahrung der letzten Jahre aktivieren sie zivilgesellschaftliches Engagement. Die Initiativen Seebrücke und Sichere Häfen, Unteilbar und viele andere lokale Bündnisse sind Beispiele hierfür und eine Chance für unsere Mitgliedsorganisationen, die sensibel für solche Momente sein sollten und vorbereitet auf Engagierte, die ganz plötzlich vor der Tür stehen und helfen wollen.

Autor:

Stefan Kollasch ist seit 2016 Referent für die Projekte „Koordinierung und Qualifizierung ehrenamtlichen Engagements für geflüchtete Menschen“ und „Menschen stärken Menschen: Chancenpatens 428chaften im Paritätischen“

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de