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Auch das Meer ist barrierefrei

Ob Menschen im Rollstuhl, mit Downsyndrom oder Sehbehinderte, bei Sail United kann jede*r Wassersport erleben. Der Verein erfüllt den Wunsch der Teilnehmenden nach Selbstbestimmung und Teilhabe und bringt Menschen mit und ohne Behinderung aus aller Welt zusammen.

Tobias Michelsen hat es eilig. Er spricht über die Fernsprechanlage seines Autos und eilt zum nächsten Termin. Er hat noch viel zu tun und großes vor. Am nächsten Tag wird er mit fünf Rollstuhlfahrer*innen und zwei beinamputierten Teilnehmer*innen zum Sitz-Kitesurfen, Strandsegeln und Tauchen nach Ägypten fliegen. „Menschen mit oder ohne Behinderung haben genauso viel Spaß auch im Winter Wassersport auszuüben“, sagt Michelsen. Weltweit würde es bisher keinen Reiseanbieter geben, der inklusive Abenteuer- und Action-Sport-Reisen durchführe. „Und da dachten wir uns, wir gucken mal, wie sowas funktioniert.“

Wenn Michelsen nicht gerade auf dem Weg nach Ägypten ist, bietet er seine Wassersportkurse für Menschen mit und ohne Behinderung im Ostseeheilbad Großenbrode an. Der Gründer des Vereins Sail United e.V. hat eine klare Mission: Nicht nur bei ihm in Schleswig-Holstein, auch bundesweit sollen Menschen mit einer Behinderung in Wassersportschulen willkommen sein und an allen Aktivitäten teilhaben können.

Dafür sind Anpassungen der Sportgeräte notwendig, aber auch der Kreativität keine Grenzen gesetzt: „Wir müssen immer individuell schauen, was die Menschen brauchen. Manchmal müssen wir etwas rumbasteln oder auch mal was ganz Neues erfinden“, sagt Michelsen und fügt selbstbewusst hinzu: „Bisher haben wir das immer hingekriegt und mussten noch nie jemanden aufgrund der Schwere seiner Behinderung wieder nach Hause schicken.“

Ob Rollstuhlfahrer*innen, Sehbehinderte oder Menschen mit Downsyndrom, bei Sail United kann jede*r Wassersport erleben. So auch Erich Hobel. Der gebürtige Münchner ist Fisch vom Sternzeichen und das Wasser ist, wie er selbst sagt, sein Lebenselixier. Die Wassersport- und Segelvereine in Bayern habe er als sehr elitär erlebt. Für Menschen mit einer Behinderung sei es sehr schwierig, dort Anschluss zu finden.

Als Hobel das erste Mal von Sail United erfuhr, war ihm sofort klar: „Wenn wir an die Ostsee ziehen, werde ich da mitmachen und mich einbringen“.  Im Spätsommer letzten Jahres war es dann soweit. Seine drei Kinder wurden gerade alle „flügge“ und er und seine Frau haben „die Alpen gegen das Meer das getauscht“. Jetzt leben sie in einem „kleinen Häuschen mit großen Panoramafenstern“ in Scharbeutz an der Ostsee. So nah war Hobel dem Meer schon lange nicht mehr.

Im Meer spielt die Behinderung keine Rolle

Als Hobel zwölf Jahre alt war, sind seine Eltern nach Australien ausgewandert. Seine, wie er selbst sagt, „prägenden Jahre“ hat Hobel auf dem weit entfernten Kontinent gelebt, ist dort zur Schule gegangen, hat studiert, seine Lehrerausbildung gemacht und die ersten Jahre unterrichtet. Sein stetiger Begleiter dabei – das Meer: „Ich habe das Meer in Australien geliebt“, erinnert sich Hobel. Vielleicht auch gerade wegen seiner Behinderung. Hobel hat als eines der letzten Kinder 1957 die Kinderlähmung bekommen. Zwei Wochen nachdem er ins Krankenhaus musste, wurde auch an seiner Schule die Impflicht eingeführt. Seine beiden Beine sind fast vollständig gelähmt. Im Meer spiele das keine Rolle. „Man fühlt sich so leicht im Wasser, kann sich fortbewegen und braucht seine Beine nicht“, sagt Hobel, der sich selbst als starken Schwimmer bezeichnet und bis heute mehrmals die Woche im Schwimmbad trainiert.

Gleichzeitig sei es für Menschen mit einer Behinderung sehr umständlich, im Meer schwimmen zu gehen. „Mit dem Rollstuhl an den Strand und das ganze Umziehen ist ein riesiger Akt“, erklärt Hobel, „das schreckt viele Menschen ab“. Ihn nicht. „Ich habe mich in diesem Element, das in Australien auch nicht ungefährlich ist, unglaublich wohl gefühlt“, sagt Hobel und erinnert sich stolz: „Ich habe mir ein Bodyboard besorgt und mich in die großen Wellen gestürzt.“

Bei Sail United kann er jetzt auch andere Wassersportarten ausprobieren – und Tobias Michelsen macht es möglich. Als „unkompliziert“ und „frei von Ängsten“ beschreibt Hobel seinen neuen Freund. „Die Leute haben immer so wahnsinnig Angst, sie denken, du brichst dir alle Knochen, wenn du aus dem Rollstuhl fällst.“ Michelsen sei da ganz anders. „Er sieht einen als Mensch und nicht als Behinderten. Er überlässt dir Verantwortung, lässt dich experimentieren und an deine Grenzen gehen“.

Die Angst davor, nicht mehr teilhaben zu können, kennt Michelsen gut. Er hatte selbst schon zwei schwere Wirbelsäulenfrakturen und ist damit nur knapp der Querschnittslähmung entkommen. Es sei der Wassersport gewesen, der ihm in der Reha geholfen habe. „Wasser hat eine unglaublich therapeutische Wirkung“, sagt Michelsen. „Kein Element ist uns so vertraut. Wir fühlen uns wohl – mit dem Spritzwasser im Gesicht und den Wellenbewegungen, die durch unseren Körper gehen“.

Behinderung muss nicht von Nachteil sein

Michelsen erzählt von schwer geistig- und körperbehinderten Menschen, die zu Hause kaum ein Wort sprechen konnten. „Und auf dem Meer plappern sie plötzlich wie ein Wasserfall“. Das Wasser hebe die Menschen auf eine höhere Kommunikationsebene, verbessere die Körperwahrnehmung und helfe, Ängste und Phobien abzubauen.

Und die Behinderung muss beim Erlernen einer Wassersportart nicht unbedingt von Nachteil sein. Manche Menschen mit einer Sehbehinderung würden das Windsurfen laut Michelsen schneller erlernen, als Menschen, die sehen können. „Das ist ein kinästhetischer Sport. Gefühle und ein gutes Gleichgewicht sind hier sehr wichtig.“ Menschen im Rollstuhl würden hingegen „action“ suchen – hohe Geschwindigkeiten beim Sitzkitesurfen, Sitzwakeboarden oder Segeln.

Und so kommt es, dass auch Erich Hobel inzwischen alleine mit dem Katamaran aufs Meer rausfährt und seinen Segelschein macht. „Es ist sehr aufwändig“, gibt er zu, „man braucht immer Leute, die einem helfen, zum Beispiel das Boot zum Wasser ziehen.“ Möglich machen das die vielen ehrenamtlichen Helfer*innen, die Tobias Michelsen bei Sail United unterstützen. Einige verbringen ihren ganzen Sommerurlaub in Großenbrode. Je nach Schwere der Behinderung, brauche es bis zu fünf Ehrenamtliche, die dabei helfen, dass jede*r am Wassersport teilhaben kann. „Und die Erwartungshaltung ist hoch“, erzählt Michelsen, „alle Teilnehmer*innen wollen am liebsten gleichzeitig aufs Wasser.“ „Man muss sehr geduldig sein“, weiß auch Erich Hobel zu berichten. Er ist nicht mehr nur Teilnehmer, sondern unterstützt den Verein jetzt auch ehrenamtlich – hilft bei der Anmeldung, gibt Einführungen und verteilt Ausrüstung.

Vorurteile werden abgebaut   

Michelsen bringt bei Sail United Menschen mit und ohne Behinderung aus aller Welt zusammen. „Wassersport ist super für das Teambuilding“, sagt er. Die Teilnehmer*innen und Ehrenamtlichen würden sich von Anfang an auf Augenhöhe treffen und einen kumpelhaften Umgang pflegen. „Alle Teilnehmer ohne Behinderung verlieren sofort ihre Berührungsängste, von der Erkenntnis an: denen macht genau das gleiche Spaß, wie mir.“

Bei Sail United gibt es nicht mehr den Menschen mit Behinderung, dafür aber Surfer, Kiter, Segler. Es gilt das Buddy Prinzip: Die Teilnehmer*innen gehen gemeinsam ins Wasser und passen aufeinander auf. „So verflüchtigen sich Vorurteile und Bedenken und werden ersetzt durch Verständnis und Akzeptanz“, sagt Michelsen.

Und um jetzt noch mal der kalten Ostsee und den dicken Neoprenanzügen zu entkommen, geht es mit Surfbrettern und Tauchausrüstung im Gepäck nach Ägypten. Erich Hobel wird das Sitzkitesurfen ausprobieren. „Das hatte ich bisher gar nicht auf dem Schirm“, sagt er, „es ist eine wirklich große Herausforderung, aber alles was neu ist und angeboten wird, möchte ich versuchen“. Sein Ziel: 50 Meter am Stück zu kiten. „Wenn ich das schaffe, dann habe ich viel erreicht.“

Autorin:

Janina Yeung

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de