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"In der Corona-Krise wird aus Armut Existenzangst" – Ulrich Schneider im Interview

Im Bundestag wurde heute über die sozialen Folgen der Coronakrise gesprochen. Auch der Paritätische nahm an der Anhörung teil. Warum trifft die Krise besonders die Ärmsten unserer Gesellschaft? Und werden sie überhaupt ausreichend unterstützt? Dazu im Interview: Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes.

Die Bundesregierung ist in vielen Bereichen sehr engagiert, um die Folgen der Coronakrise so gut wie es geht, abzufedern. Wie steht es dabei um die Ärmsten unserer Gesellschaft?
Entgegen dem eindringlichen Appell von Expert*innen aus der gesamten Zivilgesellschaft und trotz der sichtbaren Not der Menschen hat die Bundesregierung bisher ausgerechnet für die Ärmsten nichts übrig.

Das ist ein hartes Urteil. Wie sehr sind denn arme Menschen von der Coronakrise überhaupt betroffen? Schließlich bekommen Hartz-IV-Bezieher*innen auch weiterhin ihre Unterstützung.
Das stimmt. Allerdings war Grundsicherung schon vor Corona nicht armutsfest und auch aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts nur gerade noch verfassungskonform. Die Regelsätze in Hartz IV und der Altersgrundsicherung sind so kleingerechnet, dass man mit ihnen nicht anständig über den Monat kommt, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind noch niedriger. Da musste immer schon sehr viel improvisiert werden. Durch Corona hat sich die Situation enorm verschlimmert und die Not der Menschen verschärft.

Warum genau?
Ein Erwachsener in Grundsicherung bekommt für einen Tag fünf Euro für Lebensmittel, Schulkinder 3,50 Euro. Das heißt, die Politik hat von vornherein darauf spekuliert, dass hier Tafeln einspringen und Kinder in der Schule essen können. Jetzt sind die Lebensmittelpreise gestiegen, bei den frischen Nahrungsmitteln um zehn Prozent. Milchpreise werden auch um acht beziehungsweise neun Prozent angehoben. Dazu kommen zusätzliche Ausgaben für einen Mund-Nasen-Schutz oder Desinfektionsmittel. Für eine Stoffmaske werden schnell 10 Euro fällig, ein Liter Desinfektionsmittel kostet nach unseren Recherchen derzeit 27 oder 30 Euro. Im Regelsatz sind aber für den gesamten Bereich der Gesundheitspflege für einen Erwachsenen nur 16 Euro im Monat vorgesehen, für ein Kind 10 Euro.

Zusammengefasst verschärft die Krise also die Probleme armer Menschen?
Ganz genau. Die Corona-bedingten Mehrkosten führen die Menschen immer tiefer in die Armut. Oder anders gesagt: In der Krise wird aus Armut Existenzangst. Ein weiteres Beispiel aus dem Alltag der Betroffenen: Die Grundsicherungsbezieher*innen bekommen meist nicht die günstigsten Stromtarife, weil sie zum Beispiel Schufa-Einträge haben und deshalb nur die Tarife der Grundversorger nutzen können. Das sind die teuersten. Außerdem sind Grundsicherungsbezieher häufig den ganzen Tag zuhause, der Stromverbrauch ist also hoch. Hinzu kommt, dass die Wohnungen oft schlecht ausgestattet sind, manchmal wird sogar mit Elektroheizungen zugeheizt. Das treibt die Kosten nach oben.

Der Paritätische fordert in einer aktuellen Kampagne unter dem Motto #100EuroMehrSofort eine Erhöhung der staatlichen Unterstützung für alle, die auf existenzsichernde Sozialleistungen angewiesen sind. Das wird von der Bundesregierung bisher abgelehnt, auch mit Blick auf die Kosten: Bei sieben Millionen Grundsicherungsbezieher*innen entspräche eine Erhöhung um 100 Euro pro Monat in Summe 700 Millionen Euro. Das sind über fünf Milliarden Euro bis Jahresende.
Wenn ich mir anschaue, welche Summen derzeit ausgegeben werden, ist das Kostenargument nicht nachvollziehbar. Die vergangenen Regierungsjahrzehnte waren davon geprägt, dass man armen Menschen nichts gönnt. Das hat sich in der Pandemie nicht geändert. Es wird - zu Recht - an alle gedacht, an kleine Selbstständige, den Mittelstand, die Gastronomie, nur für die Armen hat man offensichtlich einfach nichts übrig. Vielleicht hat die Politik Angst, den Fokus auf diese Gruppe zu lenken, weil dann eine Bedarfsdiskussion über den Regelsatz entsteht, der dieses Jahr noch neu berechnet werden muss. Man weiß, wie brisant das wird und will diesen Deckel nicht öffnen.

Welche weitere Resonanz gibt es zur Forderung nach 100 Euro mehr für Grundsicherungsbezieher*innen?
Innerhalb von 48 Stunden haben 19 Gewerkschaften und Verbände sich auf die gemeinsame Forderung geeinigt, das habe ich in 30 Berufsjahren noch nicht erlebt. Das muss mit Corona und der unbestreitbaren Not der Menschen zusammenhängen. Und auch in der Politik gibt es langsam ein Umdenken: Das Land Berlin macht sich für die Forderung jetzt auch im Bundesrat stark.

Weitere Informationen:

Aufruf: "100 Euro mehr, sofort: Solidarisch für sozialen Zusammenhalt und gegen die Krise"

Pressemitteilung des Paritätischen vom 11.05.2020: "Sozialschutzpaket II: Paritätischer kritisiert soziale Schieflage der staatlichen Hilfsmaßnahmen in Coronakrise"

Autor:
Matthias Galle

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de