Zum Hauptinhalt springen

Kita- und Schulöffnungen: Normalität ohne Impfstoff?

Können Kitas und Schulen nach den Sommerferien wieder öffnen? Für Claudia Linsel und Niels Espenhorst ist die zentrale Frage dabei nicht ob, sondern wie dies geschehen wird. Nach Auffassung der beiden Expert*innen für Kinder- und Jugendfragen kommt es dabei auf drei zentrale Aspekte ganz besonders an.

Die Frage, ob und wie Kindertageseinrichtungen und Schulen nach den Sommerferien wieder öffnen können, bewegt ganz Deutschland. Oder zumindest alle Menschen, die Kinder haben, die diese Institutionen besuchen. Seit März befinden sich Kitas und Schulen – so wie die gesamte Gesellschaft – im Ausnahmezustand und es besteht auf allen Seiten der Wunsch nach Normalität. In der aktuellen Diskussion für und wider Hygieneregelungen und Abstand geht es aber um viel mehr als um die Frage, ab welcher Klasse Kinder einen Abstand von zwei Metern einhalten können. Es geht um die Frage, welche Erwartungen wir an die Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern haben, wie kindgerecht, aber auch jugendgerecht die Institutionen sind und wie wir die gegenwärtige Situation nutzen können, um den Alltag von Kindern, Jugendlichen, Familien und pädagogischen Fachkräften zu verbessern. Denn eine Situation, die von vielen Beteiligen als Einschränkung wahrgenommen wird, lässt sich nicht lange rechtfertigen und aushalten.

Insofern stellt sich auch nicht die Frage, ob Schulen und Kindertageseinrichtungen geöffnet werden, sondern wie dies geschieht. Es ist immer noch völlig unklar, wie lange Kinder unter den einschränkenden Bedingungen der Corona-Pandemie aufwachsen müssen. Es muss jedoch gelingen, möglichst schnell für jedes Kind Bildungs- und Betreuungsverhältnisse zu schaffen, die nicht nur aus Sicht von Arbeitnehmer*innen und -geber*innen, sondern vor allem von den Kindern selbst als förderlich, unterstützend und passend empfunden werden. Dafür müssen vor Ort, in jeder einzelnen Kindertageseinrichtung und in jeder einzelnen Schule die Voraussetzungen geschaffen werden. Dabei muss auch in den Blick genommen werden, wie Kinder die aktuelle Situation wahrnehmen und wie sie gestärkt werden können. Gleiches gilt für Jugendliche und junge Erwachsene, die in der aktuellen Diskussion in erster Linie als Schüler*innen und nicht als junge Menschen mit eigenen Bedürfnissen und Rechten wahrgenommen werden. Und es gilt für ALLE Kinder und Jugendlichen – egal ob sie behindert sind oder in einer Flüchtlingsunterkunft leben müssen.

Die Rückkehr zum „Regelbetrieb“ in Kitas und Schulen ist ein voraussetzungsreiches und ambitioniertes Vorhaben. Dafür braucht es entsprechende Rahmenbedingungen, die insbesondere vom Bund und von den Ländern bereitgestellt werden müssen. Im Folgenden sollen ein paar Aspekte aufgeführt werden, ohne jedoch Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben:

Familien nicht alleine lassen

Die Kommunikation zwischen Träger und Familien und zwischen pädagogischen Fach- und Lehrkräften und Familien muss sichergestellt und sinnvoll genutzt werden. Dabei müssen sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Sorgeberechtigten adressiert werden können. Ein großes Problem in der ersten Phase der Notbetreuung und des Homeschooling war, dass die Kommunikation zwischen der Einrichtung und den Familien nicht immer funktioniert hat. Auch Schulhelfer*innen hatten oftmals keinen Zugang zu den entsprechenden Familien. Diese Schwachstellen müssen beseitigt und die Voraussetzungen für eine gelingende Kommunikation geschaffen werden – das umfasst auch eine ausreichende und barrierefreie digitale Ausstattung auf allen Seiten, damit eine Kommunikation in beide Richtungen erfolgreich ist. In Fällen, in denen digitale Kommunikation nicht möglich ist, darf es nicht vom Zufall oder Engagement Einzelner abhängen, alternative Kommunikations- und Zugangswege zu schaffen.

Zudem braucht es Klarheit darüber, welche Familien im Falle einer zweiten Welle Anspruch auf Notbetreuung haben. Hierzu braucht es für alle transparente Vorgaben durch die Landespolitik, damit im Zweifelsfall sehr schnell reagiert werden kann. Besonders belastete Familien, in denen zum Beispiel ein behindertes Kind lebt, oder Alleinerziehende müssen zügig Zugang zur Notbetreuung bekommen. Während der ersten Welle haben viele Familien, die Anspruch auf Notbetreuung gehabt hätten, diese nicht oder nur wenig in Anspruch genommen. Es kann sein, dass dies im Falle einer zweiten Welle anders gehandhabt wird, der Umfang der Inanspruchnahme also steigt.

Die Vereinbarkeit von Sorgearbeit und Beruf muss sich zukünftig noch weiter verbessern. Viele Familien haben die Zeit der Schul- und Kitaschließung als sehr belastend erfahren, was auch mit den zum Teil mangelhaften Regelungen zur Vereinbarkeit zusammenhängt. Zudem stehen viele Familien vor der Herausforderung, dass Kinder schon bei geringen Krankheitssymptomen Kitas und Schulen nicht besuchen sollen – wo der Anspruch auf Freistellung bereits aufgebraucht ist, droht vielen Familien ein erheblicher Verdienstausfall, wenn sie über längere Zeit ihre nur schwach symptomatischen Kinder zu Hause betreuen müssen.

Die Sicht der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen

Die Einschränkungen für Kinder und Jugendliche während der Kita- und Schulschließungen waren massiv. Möglichkeiten zur Entfaltung wurden stark beschnitten und nach wie vor leiden viele, insbesondere jüngere, Kinder unter der Beschränkung ihrer sozialen Kontakte. Freundschaften außerhalb von den bestehenden Kleingruppen können nur mühsam gepflegt werden und die psychischen Folgen der Einschränkungen sind noch nicht absehbar. Bei allen Maßnahmen muss die Konsequenz für Kinder immer mitberücksichtigt werden.

So erfährt auch die Partizipation von Kindern durch die Hygienevorschriften und die allgemeinen Einschränkungen vielerorts einen erheblichen Dämpfer. Dabei ist gerade in der aktuellen Situation Rücksichtnahme auf die Kinder und ihre Bedürfnisse eine unerlässliche Aufgabe. Kinder haben gerade jetzt ein Recht auf umfassende Einbeziehung in die sie betreffenden Entscheidungen. Wie weitreichend Partizipation zu verstehen ist, damit haben sich Hansen, Knauer und Sturzenhecker (2015) intensiv befasst, die fünf Prinzipien für die Partizipation von Kindern hervorheben:

  1. Prinzip der Information: Kinder müssen wissen, worum es geht.
  2. Prinzip der Transparenz: Kinder müssen wissen, wie sie sich verständlich machen können.
  3. Prinzip der Freiwilligkeit: Kinder müssen selbst entscheiden dürfen, wie, ob und in welchem Umfang sie von ihren Rechten Gebrauch machen.
  4. Prinzip der Verlässlichkeit: Kinder müssen sich auf die Erwachsenen verlassen können.
  5. Prinzip der individuellen Begleitung: Kinder müssen von den Erwachsenen individuell begleitet und unterstützt werden.

Diese Grundsätze der Partizipation gelten insbesondere auch für Kinder mit Beeinträchtigungen. Ihre individuellen Bedarfe wurden bislang viel zu wenig berücksichtigt. Da es unter behinderten Menschen einen höheren prozentualen Anteil gibt, der zu einer der sogenannten Risikogruppen zu zählen ist, wurden oftmals strengere Vorgaben für alle angewandt, ohne auf individuelle Unterschiede zu achten. Das war zu Beginn der Pandemie zum Teil nachvollziehbar, ist mittlerweile aber nicht mehr verhältnismäßig. Die Benachteiligungen, denen sich besonders Kinder mit Beeinträchtigungen und deren Angehörige während der Corona-Krise ausgesetzt sahen und sehen, müssen dringend abgebaut, ihre Teilhabemöglichkeiten individuell angepasst werden.

Gute Rahmenbedingungen für pädagogische Fachkräfte sichern

All diese Maßnahmen können aber nicht greifen, wenn pädagogische Fach- und Lehrkräfte in Kindertageseinrichtungen und Schulen nicht die notwendige Unterstützung erhalten.

Die Corona-bedingten Einschränkungen führen in vielen Einrichtungen zu einem Anstieg der benötigten Personalressourcen, zum Beispiel weil in Kindertageseinrichtungen Früh- und Spätdienste nicht mehr gruppenübergreifend angeboten werden dürfen oder weil in Schulen Klassengrößen reduziert werden. Zudem fehlt in einer nennenswerten Zahl von Einrichtungen Personal, weil Mitarbeiter*innen, die ein erhöhtes Risiko auf einen schweren Verlauf einer Covid-Erkrankung haben, derzeit nicht direkt mit Kindern und Jugendlichen arbeiten sollen. Das ist für einen Teil dieser Fachkräfte sehr problematisch, weil sie keine Planungssicherheit für ihre berufliche Zukunft haben, weil alternative Einsatzmöglichkeiten fehlen. Das ist für die Träger ein Problem, weil zahlreiche Finanzierungsfragen ungeklärt sind. Es ist ein Problem für die Einhaltung des Personalschlüssels, was sich zum Teil in eingeschränkten Öffnungszeiten oder Überstunden ausdrückt. Zudem steigt der Verwaltungs- und Kommunikationsaufwand stark an.

Fazit

Wir befinden uns – frei nach Winston Churchill – wahrscheinlich nicht am Ende der Pandemie. Noch nicht einmal am Anfang vom Ende. Aber es ist, vielleicht, das Ende des Anfangs. In den kommenden Wochen und Monaten müssen die politischen Weichen für das zukünftige Leben in der Pandemie gestellt werden. Solange kein Impfstoff zur Verfügung steht, ist eine Rückkehr zum bisher bekannten Regelbetrieb in Kitas und Schulen sehr unwahrscheinlich. Individuelle Konzepte sind gefragt, Kinderrechte, wie das Recht auf Bildung, aber auch Beteiligung, Spiel, die Begegnung mit Gleichaltrigen uvm., und pädagogische Methoden, die junge Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen sehen, unterstützen und in ihrer Entwicklung fördern, dürfen nicht pauschalen und starren Hygienemaßnahmen zum Opfer fallen. Das betrifft insbesondere inklusive und integrative Ansätze.

Es darf nicht nur darum gehen, die größten Härten abzuwenden, sondern es muss auch darum gehen, die Rahmenbedingungen für junge Menschen und Familien positiv zu gestalten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, gute Bildungs- und Betreuungsbedingungen zu schaffen und bestehende Benachteiligungen abzubauen. Auch in Pandemiezeiten.

Autor*innen:

Claudia Linsel ist Referentin für Jugendsozialarbeit und Schule in der Abteilung Soziale Arbeit des Paritätischen Gesamtverbandes.

Niels Espenhorst ist Referent für Kindertageseinrichtungen/Tagespflege in der Abteilung Soziale Arbeit des Paritätischen Gesamtverbandes.

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de