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Soziale Infrastruktur vor Ort: Kürzungen können wir uns nicht leisten

Das Grundgesetz postuliert „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in ganz Deutschland. Die Realität dagegen ist eine andere. Auch der Paritätische belegt das immer wieder, in seinen regionalen Armutsberichten oder in Expertisen seiner Forschungsstelle. In den über 11.000 Gemeinden Deutschlands bestehen ganz unterschiedliche Rahmenbedingungen und Möglichkeiten, das Zusammenleben vor Ort zu gestalten. Mit der Corona-Pandemie und ihren wirtschaftlichen und sozialen Folgen besteht die akute Gefahr, dass die Ungleichwertigkeit der Lebensverhältnisse weiter wächst und der soziale Zusammenhalt gleichzeitig abnimmt. Dazu darf es nicht kommen, im Gegenteil: Wir brauchen mehr Zusammenhalt durch gleichwertige Lebensverhältnisse.

Die Bedeutung der kommunalen Ebene wird immer noch unterschätzt. Die „große“ Politik bestimmt die Grundsätze der Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik, deren Umsetzung dagegen prägen die Gemeinden. Sie verfügen dabei über unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten: Fast ein Viertel der Kommunen sind überschuldet, mit – schon vor Corona – über 42 Milliarden Euro. Nicht mitgerechnet sind dabei unterlassene Investitionen: Noch vor 15 Jahren war die Infrastrukturplanung für 2020 auf 75 Millionen Menschen ausgerichtet, tatsächlich sind es heute acht Millionen Menschen mehr, sehr ungleich verteilt: Wir müssen investieren!

Wer bestellt, bezahlt!

Wie schaffen wir neue Handlungsmöglichkeiten? Auf Bundesebene streiten wir für eine Reduzierung der Altschulden der Kommunen, die häufig in einer Abwärtsspirale aus Sparmaßnahmen und Investitionsmängeln gefangen sind. Nirgends wird das deutlicher als an den Orten, die nicht einmal mehr genug personelle Ressourcen haben, um bereitstehende Mittel auch nur abzurufen. Davon ausgehend, müssen die föderalen Finanzbeziehungen künftig die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Bund, Ländern und Gemeinden besser berücksichtigen. Das Konnexitätsprinzip, nachdem der, der bestellt, auch die Rechnung zahlt, muss zur Regel werden. Das scheitert derzeit noch zu häufig daran, dass der Finanzföderalismus eine direkte Finanzierung kommunaler Ausgaben durch den Bund verhindert. Und wir brauchen massive Investitionen in die sogenannten strukturschwachen Räume, in denen ein Mindestmaß an sozialer Infrastruktur garantiert werden muss. Ein Beispiel: Vor gut einem Jahr forderte die Bertelsmann Stiftung noch, die Zahl der Krankenhäuser in der Fläche von 1.400 auf 600 zu reduzieren. Diese Forderung ist angesichts der Corona-Pandemie sehr schnell gealtert. Nicht nur waren die Krankenhäuser in der Versorgung gefordert, sie waren und sind auch immer soziale Stabilitätsanker. Wo dagegen Infrastruktur aufgegeben und beispielsweise Kinderstationen geschlossen werden, sterben auch die Zukunftsperspektiven einer Region.

Systemrelevant, aber nicht immer unterstützenswert

Investitionen sind teuer, unterlassene Investitionen in die soziale Infrastruktur, die Daseinsvorsorge im weitesten Sinn, kommen einer Kommune aber regelmäßig teurer zu stehen. Und obwohl das kaum jemand ernsthaft bestreiten würde, prägt kurzsichtige Sparpolitik häufig das Handeln der Gemeinden. Warum ist das so? Es ist ein wenig wie beim Zähneputzen: Es lohnt sich, mehrmals täglich Zeit darin zu investieren, und doch wird man nie sehen, wie viel Karies man deshalb nicht bekommen hat, dennoch ist es wichtig. Übertragen auf die kommunale Politik bedeutet das, dass soziale Einrichtungen und Dienste gerade jetzt gefordert sind, deutlich zu machen, dass das Soziale das Zusammenleben in der Kommune maßgeblich prägt, als Lebens- und Wirtschaftsstandort. Die Corona-Krise hat dabei gezeigt, dass soziale Dienste zwar gerne als systemrelevant bezeichnet, aber nicht entsprechend unterstützt werden. Das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) ist eine wichtige Unterstützung, es musste aber auch mühsam erstritten werden und enthält Bedingungen und Verpflichtungen, die anderen Akteuren nicht abgefordert werden. Hier müssen wir an einem Bewusstseinswandel arbeiten, auch vor Ort. Wem vor Corona noch nicht bewusst war, dass Arbeiten und Wirtschaften wesentlich davon abhängig ist, dass die sozialen Dienste mit ihrer Arbeit die soziale Daseinsvorsorge sichern, dem ist es jetzt nur zu bewusst. Wir haben gute Argumente, zusammen mit anderen Partnern vor Ort deutlich zu machen: Investitionen ins Soziale sind nötig, Kürzungen dagegen können wir uns nicht leisten.

Der Beitrag erschien zuerst in unserem Verbandsmagazin "Der Paritätische", Ausgabe 05/20. Es widmete sich dem Schwerpunt "Stadt und Land".

Autor:
Dr. Joachim Rock ist Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa beim Paritätischen Gesamtverband.

Dieser Beitrag erschein zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de