Zum Hauptinhalt springen

"So etwas macht ein guter Arzt nicht"

Noch immer ist der Schwangerschaftsabbruch ein gesellschaftlich stigmatisiertes Thema. Immer weniger Ärzt*innen und Kliniken stehen für einen Abbruch nach der Beratungsregelung zur Verfügung, so dass in ländlichen Regionen heute von einem Versorgungsnotstand gesprochen werden muss.

Irgendwo im Landkreis Ravensburg: Beate ist Mutter von zwei Kindern. Als sie ungewollt schwanger wird, entscheidet sie sich für einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch, eine Methode, die bis zur 9. Schwangerschaftswoche möglich ist und für die sie in einem Abstand von zwei Tagen zwei Arzttermine wahrnehmen muss. Nur in Konstanz, eine Autofahrt von fast zwei Stunden entfernt, findet sie eine Praxis, die diese Methode anbietet. Eine wohnortnahe, leicht zugängliche Option gibt es nicht. Beate gerät unter Druck. Weil es nicht anders zu lösen ist, fährt das Paar mit seinen Kindern in Richtung Konstanz und verbringt zwei Nächte auf einem Campingplatz, um wie geplant, die Schwangerschaft zu beenden. Eine logistische Meisterleistung und leider kein Einzelfall.

Keine Schwerpunktpraxis mehr in Stuttgart

„In 14 der 44 Stadt- und Landkreise von Baden-Württemberg gibt es für ungewollt Schwangere, die einen Abbruch wünschen, keinerlei Versorgung“, berichtet Gudrun Christ, Landesgeschäftsführerin von pro familia in Baden-Württemberg. Es handele sich teils um aneinandergrenzende Landkreise, die zu großen weißen Flecken in der Versorgungslandschaft geworden seien. Dies betrifft aber längst nicht mehr nur ländliche Regionen, zunehmend gibt es Engpässe in Ballungsgebieten und Städten. Beispielsweise existiert in Stuttgart mit 635.000 Einwohnern zwischenzeitlich keine Schwerpunktpraxis mehr, nur wenige Ärzt*innen nehmen noch Abbrüche nach der Beratungsregelung vor.

„Frauen, die ungewollt schwanger sind, wissen, dass ein Abbruch für sie rechtlich möglich ist, aber es können Tage vergehen, bis sie herausfinden, wo sie den Abbruch vornehmen lassen können. Es sind etliche Telefonate nötig, die Kostenübernahme für den Abbruch muss geklärt, je nach Wohnort muss eine längere An- und Abreise geplant werden, einschließlich für eine Begleitperson“, schildert Stephanie Schlitt, stellvertretende Vorsitzende des pro familia Bundesverbands. Wenn vielleicht das Geld, die Sprachkenntnisse nicht reichten und die Unterstützung im sozialen Umfeld fehle, sei das enorm belastend. Dazu kommt, dass – laut Berechnungen des Statistischem Bundesamts von 2019 – 60 Prozent der Frauen ein Kind, ein Drittel zwei oder mehr Kinder haben, für deren Betreuung bei Abwesenheit gesorgt werden muss.

Der Versorgungsnotstand im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs ist nicht nur in ländlichen Regionen von Baden-Württemberg durch zahlreiche Berichte belegt, Versorgungsdefizite gibt es ebenso in Rheinland-Pfalz und Hessen. Seit mehreren Jahren weisen Expert*innen und Schwangerenberatungsstellen vieler Träger sowie der Paritätische Wohlfahrtsverband auf die zunehmend prekäre Situation hin. Auch Thoralf Fricke, Landesgeschäftsführer und Leiter der Beratungsstellen von pro familia in Niederbayern, hat keine guten Nachrichten: „Im Allgäu gibt es nur noch einen Arzt, in den Bezirken Niederbayern und Oberpfalz mit mehr als zwei Millionen Einwohner*innen nur drei Ärztinnen, die nach Beratungsregelung einen Schwangerschaftsabbruch machen, aber keine einzige Uniklinik. Auch im Ballungsraum Augsburg findet sich nur ein Arzt.“

Gesetzesnovellierung ist ein Rohrkrepierer

Stephanie Schlitt spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von einem „Versorgungsnotstand“, sondern auch von einem „Informationsnotstand“. „Mit der Novellierung des §219 a beschlossene Bundesärztekammer-Liste von Ärzt*innen und Kliniken, die Abbrüche vornehmen, wurde keine Abhilfe geschaffen, um Frauen den Zugang zu einem Abbruch zu erleichtern. „Diese Liste ist wie erwartet ein Rohrkrepierer“, findet auch Gudrun Christ. Aus Baden-Württemberg stünden dort gerade mal 12 Ärzt*innen, auf Seiten von Anti-Choice-Befürworter*innen würde man mehr Adressen finden. Tatsächlich haben sich auf dieser Liste, die monatlich aktualisiert wird, erst rund 330 Ärzt*innen aus dem ganzen Bundesgebiet registrieren lassen – vornehmlich aus Berlin und Hamburg, wo ohnehin schon solche Listen zur Verfügung standen.

Der Zugang zur Schwangerschaftskonfliktberatung ist im Vergleich zum Zugang zu Informationen über Stellen, wo dieser konkret vorgenommen werden kann, eher „landesweit gut und im internationalen Vergleich einzigartig“, sagt Stephanie Schlitt. Dies liege daran, dass eine Beratung nach deutschem Strafrecht die Voraussetzung für einen Abbruch sei. In diesem Falle müssten die Länder konkrete Vorgaben erfüllen und den Zugang auf wohnortnahe Beratungsstellen gewährleisten. Zwar verpflichtet §13 Schwangerschaftskonfliktgesetz die Länder auch dazu, ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen vorzuhalten, „aber ohne diese in den Länderverordnungsgesetzen zu verankern oder zu kontrollieren, ob die Versorgung überall ausreichend ist“, erklären Gudrun Christ wie auch Thoralf Fricke.

Expert*innen bemängeln, dass es keine Bestandsaufnahme und Daten zur Versorgungssituation für Schwangerschaftsabbrüche gibt. Zu ihnen gehört auch Ulrike Busch, emeritierte Professorin für Familienplanung. In ihren Augen reicht es jedoch nicht aus, nur die Anzahl der abbruchbereiten Stellen – Praxen, Kliniken oder Familienplanungszentren sowie Gesundheitsämter – zu erheben. „Es muss auch die Qualität der Versorgung evaluiert werden. Welche Erfahrungen machen Klientinnen vor, beim, nach einem Abbruch? Haben Frauen einen niedrigschwelligen Zugang zu verschiedenen Methoden des Abbruchs?“

Rückgang von 40 Prozent bei der Frauengesundheit

Als eine Ursache für den erschwerten Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen nennen Expert*innen, dass immer weniger Ärzt*innen, Praxen und Kliniken einen Schwangerschaftsabbruch durchführen. Laut Statistischem Bundesamt gibt es seit 2003 einen Rückgang um 40 Prozent, anstatt ca. 2.000 sind es nur noch rund 1.200 Stellen, die diesen Teil der Versorgung im Bereich der Frauengesundheit abdecken. Die Lage ist fragil. Ist ein Arzt in Urlaub, eine Ärztin krank oder entscheidet sich eine Klinik, Schwangerschaftsabbrüche nach Regelberatung nicht mehr anzubieten, müssen Frauen herumirren, bis sie einen Zugang zum Abbruch bekommen, schildern Berater*innen von pro familia. Auch, dass viele Mediziner*innen in den Ruhestand gehen und keine Nachfolge finden, sei für die alarmierende Entwicklung in diesem Bereich ein wesentlicher Faktor, bilanziert Busch.

„Ein Schwangerschaftsabbruch nach Regelberatung ist keine medizinische Regelleistung. Hier schwingt mit, so etwas macht ein guter Arzt nicht“, sagt Thoralf Fricke, und Ulrike Busch betont, dass viele Ärzt*innen sich lieber dieser moralisch aufgeladenen Situation entziehen. Wenig förderlich für die Bereitschaft, sich mit der Praxis des Schwangerschaftsabbruchs auseinanderzusetzen ist auch der traurige Fakt, dass Selbstbestimmungsgegner*innen Praxen, Beratungsstellen oder Medizinische Zentren belagern, Ärzt*innen und medizinischen Personal, gar selbst Klientinnen bedrohen. Einen effektiven Schutz, auch staatlichen, gibt es nicht.

Sensibilisierung junger Ärzt*innen geplant

Ein weiterer Faktor, der in den Augen von Expert*innen die Versorgungskrise verschärft, ist, „dass der Schwangerschaftsabbruch in der medizinischen Lehre und Praxis sowie in der Gesundheitsforschung nicht hinreichend integriert wird“, schreibt Doctors for Choice Germany e.V. in einer Pressemitteilung. Darum hat sich 2015 die studentischen Arbeitsgruppe „Medical Students for Choice“ an der Berliner Charité gegründet und verfolgt das Ziel, die Ausbildung junger Ärzt*innen zu verbessern und sie dafür zu sensibilisieren, dass ein Schwangerschaftsabbruch zur reproduktiven Gesundheitsversorgung von Frauen gehört und sie ein Recht auf eine entsprechende Versorgung haben.

Verbände, NGOs und Teile der Ärzteschaft fordern eine überparteiliche Auseinandersetzung mit den Versorgungsdefiziten beim Schwangerschaftsabbruch ein und eine Analyse über das Ausmaß und die Ursachen der Unterversorgung. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse und den Erfahrungen der Schwangerenberatung müssten zeitnah Konzepte und Maßnahmenkataloge entwickelt werden, wie der Versorgungsnotstand konkret zu beheben ist. Damit Frauen wie Beate künftig die Versorgung erhalten, die das Gesetz verspricht. Und sie ist kein Einzelfall. Jede vierte bis fünfte Frau wird in Deutschland einmal ungewollt schwanger. Es ist Zeit, den Schwangerschaftsabbruch nach der Beratungsregelung in die Regelversorgung aufzunehmen und aus dem Strafrecht zu streichen.

Weitere Informationen:
www.profamilia.de
www.doctorsforchoice.de

Der Beitrag erschien zuerst in unserem Verbandsmagazin "Der Paritätische", Ausgabe 05/20. Es widmete sich dem Schwerpunt "Stadt und Land".

Autorin:
Verena Mörath

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de