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"Der Verband hat sich mit seiner Mitgliedschaft politisiert. Und schon manches Mal waren wir der Gesellschaft voraus."

In Fragen der Sozialpolitik hat sich unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Bereichen stark verändert – und mit ihr der Paritätische Wohlfahrtsverband. Ein Blick in die Geschichte des Paritätischen im Gespräch mit Josef Schädle, stellvertretender Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands und seit Ende der 1970er aktiv in den Gremien des Verbandes.

Wie sind Sie zum Paritätischen gekommen?

Ich war Geschäftsführer einer Paritätischen Mitgliedsorganisation in Wunstorf in Niedersachsen. 1978 gründete der Landesverband einen Arbeitskreis Soziale Psychiatrie, in dem ich mich engagierte. Unser erster Beschluss war ein Antrag auf Einrichtung eines solchen Arbeitskreises auch auf Bundesebene.

Den gab es damals noch nicht?

Nein, man muss bedenken: Bis dahin gab es in der Psychiatrie eigentlich nur Medizinerverbände. Damals aber gründeten sich immer mehr soziale und sozialpolitische Gruppierungen, wie die Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP), der Dachverband Gemeindepsychiatrie, Psycholog*innenverbände und Selbsthilfegruppen. Als die DGSP, in der ich auch Mitglied war, Ende der 1970er Mitglied im Paritätischen Gesamtverband wurde, war das wie ein Türöffner: Nicht nur für das relativ junge Feld der Sozialpsychiatrie, sondern auch für andere soziale Bewegungen. Dass eine damals als linksalternativ bis linksradikal verschriene Organisation wie die DGSP zum Paritätischen ging, hat es auch anderen neuen Initiativen und Gruppierungen leichter gemacht, Kontakt aufzunehmen und schließlich unter dem Dach des Paritätischen ihren Platz zu finden.

Wie radikal war die DGSP denn?

Die Selbsthilfebewegung im Gesundheitswesen hat ihre Wurzeln zum großen Teil in der Studentenbewegung der 1968er, den sozialpolitischen Arbeitskreisen an den Unis und so. Das ist auch eine wichtige Wurzel der DGSP gewesen. Also ich sage mal, wir waren auf jeden Fall linksalternativ. Ende der 1970er war eine zentrale Forderung der DGSP, die Großkrankenhäuser abzuschaffen, das war für die damalige Zeit natürlich radikal. Dann haben wir die Kampagne zur Abschaffung von Paragraf 218 offensiv unterstützt, was innerverbandlich allerdings auch in der DGSP durchaus umstritten war. Es gibt auch anständige Konservative dort.

Seit Anfang der 1980er engagierten Sie sich dann im Paritätischen Gesamtverband auf Bundesebene, als Vertreter der DGSP im damaligen „Beirat“. Ein Kulturschock?

Der Paritätische war vorher, ich will jetzt nicht sagen, ein schnarchiger Verband, aber als ich 1983 das erste Mal im Beirat war, wie es damals noch hieß, habe ich zu meinem Nachbarn gesagt: „Sag mal, ist das hier eine Kaffeerunde im Seniorenstift oder was ist das hier?“ Der Beirat war ein riesiges Gremium, so 70 bis 80 Menschen. Die Aula am damaligen Hauptstandort des Gesamtverbandes in Frankfurt am Main war proppenvoll: der 32köpfige Vorstand war im Beirat vertreten, alle Landesverbände, soweit nicht im Vorstand, und Vertreter*innen aller überregionalen Mitgliedsorganisationen.

Sie sagen, der Beitritt der DGSP war eine Art „Türöffner“. Wie entwickelte sich die Mitgliedschaft und der Verband denn in der weiteren Folge?

Nachdem zuvor bereits vor allem viele Elterninitiativen als Mitglied aufgenommen worden waren, waren es jetzt viele Selbsthilfegruppen, aber beispielsweise auch die ganze Frauenhaus-Bewegung, die neu in den Verband kamen, teilweise auch über den Umweg einer Mitgliedschaft im Paritätischen Bildungswerk. Im Paritätischen Gesamtverband war die Frage der Mitgliederentwicklung und auch der Neuaufnahmen dabei aber immer wieder auch Gegenstand intensiver Debatten. Heftig umstritten war zum Beispiel die Aufnahme von pro familia. Der Hauptkonflikt lag hier zwischen den Behindertenverbänden einerseits und pro familia auf der anderen Seite, wie es heute auch immer noch bei einigen Themen der Fall ist.

Plötzlich also mischten linksalternative Psycholog*innen, Elterninitiativen und Frauenbewegung die Gremien des Paritätischen auf. Wie wurdet Ihr aufgenommen?

Ohne das sehr aktive innerverbandliche Wirken des damaligen Geschäftsführers Klaus Dörrie wäre es sicher weniger reibungslos abgelaufen. Was er im Vorstand und in den Landesverbänden im Detail alles bewegt hat, kann ich von außen nicht beurteilen. Ich habe dann erst das Ergebnis gesehen. Ein erstes Signal, dass sich auch strukturell etwas bewegt, war, als wir, eine Gruppe von fünf bis sechs jüngeren Leuten aus dem Beirat, angeregt haben, dass über die Besetzung und die Funktion des damals doch recht ominösen Wahlvorstandes mal nachgedacht werden sollte. Man wisse ja im Vorhinein schon, was bei den Wahlen rauskommt. Das hat dann zwar nicht sofort funktioniert, aber immerhin bewirkt, dass es Ende der 1980er Jahre zu einer grundlegenden Strukturveränderung kam, mit einem kleineren Vorstand und einem ordentlich gewählten Verbandsrat.

1989 hat der Paritätische ja auch erstmals eigene inhaltliche „Grundsätze der Verbandspolitik“ verabschiedet. Hingen die Prozesse zusammen?

Auf jeden Fall, das lief parallel und bedingte sich wechselseitig. Als Dieter Sengling, damals Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Münster, 1987 Vorsitzender des Paritätischen wurde, kam das alles ins Rollen. Sengling hat eine inhaltliche Debatte angezettelt über gemeinsame Werte und Grundsätze. Dann war gleichzeitig aber auch klar, eine solche inhaltliche Debatte bringt uns gar nichts, wenn wir nicht auch an die Struktur gehen.

Wie ist es gelungen, sich auf gemeinsame Grundsätze zu verständigen trotz der Vielfalt der Mitgliedsorganisationen und der inhaltlich bisweilen konträren Positionen, die diese vertreten?

Es werden im Paritätischen in wirklich zentralen Fragen keine Beschlüsse gefasst, die nicht von allen mitgetragen werden können. Das war eine der für mich wichtigen Entscheidungen der damaligen Wertediskussion. Es bedeutet, dass der Verband sich zwar in manchen Punkten nicht eindeutig äußern kann, aber das finde ich gar nicht dramatisch. Es war ganz zentral für die innerverbandliche Kultur, zu sagen, es wird kein Verband überstimmt, wenn es um zentrale Fragen wie beispielsweise das Recht auf Leben oder Selbstbestimmung geht. Bei manchen biogenetischen Fragestellungen würde ich mir zwar wünschen, wir wären manchmal etwas flexibler, aber es ist halt nicht so und das ist auch in Ordnung. Es gibt rote Linien, die darf man nicht ohne Not überschreiten. Es war ein ganz wichtiger Schritt für den Verband, zu sagen: Wenn wir schon Werte verkünden, wie Gleichwertigkeit, Toleranz, Vielfalt, Partizipation, dann muss das auch innerverbandlich gelten.

Was hat die damalige Wertedebatte noch bewirkt?

Die Erkenntnis, dass sich aus der Verknüpfung von inhaltlichen sozialen Problemstellungen auch eine Notwendigkeit ergibt, politisch zu agieren, also tatsächlich als politischer Anwalt aufzutreten für die Bedürfnisse der Mitglieder und Klient*innen – das war aus meiner Sicht eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Werte-Debatte. Dass es uns gelungen ist, uns auf gemeinsame Grundsätze zu verständigen, bedeutete: Wir haben jetzt ein Fundament von Werten, die uns verbinden und auf der Basis können wir uns äußern, für uns selbst und im Namen unserer Mitglieder. Darum ging es. Parallel lief aber ja auch noch eine weitere Debatte: die Diskussion um den ersten Armutsbericht. Das war sozusagen die erste wirkliche sozialpolitische Debatte, die ich im Verband mitbekommen habe. Das andere davor war eigentlich immer nur so Geplänkel.

Worum ging es bei der Diskussion um den ersten Armutsbericht?

Es war unbestritten, dass es Armut gibt. Diskutiert wurde, ob der Paritätische ein Mandat hat, sich politisch aktiv in solche Sachen einzumischen und wenn ja, woher hat er dieses Mandat? Kann er sich das selbst geben oder bekommt er das von seinen Mitgliedern? Er hat es gewiss nicht von der organisierten Politik. Es wurde diskutiert, ob uns der Geldhahn zugedreht wird, wenn wir uns an solche Themen wagen. Dann gab es einen Vorstandsbeschluss, dass wir es machen, aber nur als gemeinsames Projekt der BAGFW (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege). Die anderen Verbände haben aber letztlich abgesagt, die Caritas kündigte an, etwas eigenes zum Thema zu machen. Dann haben wir beschlossen, es allein zu machen. Wir haben eine Arbeitsgruppe gebildet und den Bericht innerhalb von zwei Jahren fertiggestellt…

…und am 9. November 1989 in Bonn in der Bundespressekonferenz vorgestellt.

Ja, die Ereignisse des Tages überrollten dann alle. Der Mauerfall war Vorteil und Nachteil zugleich. Die inhaltliche Diskussion um den Armutsbericht, aber auch die Angriffe etwaiger Gegner*innen gingen in den folgenden Tagen weitgehend unter. Aber: Immerhin hatten wir es zum ersten Mal als Verband in die Bundespressekonferenz und sogar in die ARD Tagesschau geschafft.

Zu Großdemonstrationen rief der Paritätische damals aber noch nicht auf.

Dass der Paritätische auf die Straße geht und aktiv zu einer Teilnahme einer Großdemonstration aufruft, das wäre damals in 1980ern schon gar nicht, aber auch in den 1990ern nicht denkbar gewesen. Aber wenn ich jetzt so meine 30 Jahre als Verbandsratsmitglied anschaue, kann ich schon sagen, dass der Verband von Wahlperiode zu Wahlperiode politischer wurde. Die Themen wurden politischer, die Stellungnahmen wurden klarer. Sprache ist ja auch etwas Politisches, also die Entscheidung, wie verbrämt oder eindeutig drücke ich es aus, wenn ich einem Ministerium mitteile: „Also passen Sie mal auf, dieser Gesetzentwurf ist wirklich Schrott.“ Darf ich das dann Schrott nennen oder muss ich das so umschreiben, dass ein Außenstehender gar nicht merkt, dass es Schrott ist? Gab es auch, gab es alles. Wenn man sich heute mal einige alte Stellungnahmen durchliest, da bekommt man das kalte Grausen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

Die Stellungnahmen aber wurden klarer, der Verband zeigte immer häufiger klare Haltung…

Ja, die Erfahrung mit der Veröffentlichung des Armutsberichts 1989 bewirkten etwas, denn das Echo blieb ja trotz Mauerfall nicht völlig aus. Teile aus dem Armutsbericht sind damals in allen wichtigen überregionalen Zeitungen gedruckt worden und das nicht nur in der linksliberalen Presse, sondern auch in liberalkonservativen Medien. Der Verband lernte: Wir werden wahrgenommen, wir sind wichtig und wir können und müssen uns zu entscheidenden Themen weiter äußern. Die Entwicklung hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass die Vorstände politischer geworden sind. Das ging los mit Sengling. Der war ein anerkannter Wissenschaftler und hatte innerhalb der Pädagogikgesellschaft auch einen klaren Standpunkt. Davor wäre es lange nicht denkbar gewesen, dass ein Landesverband jemanden wie Sengling oder später Barbara Stolterfoht als Vorsitzende vorschlägt, die in der SPD eher links und eindeutig in der Frauenbewegung verortet ist und politisches Selbstbewusstsein mitbrachte. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielt natürlich auch Ulrich Schneider, der mit seinem Gespür für den Verband und seine Mitglieder einerseits und für politische Entwicklungen andererseits Wege zu neuen Bündnissen und bisher ungewohnten Aktionen, z.B. die erwähnten Großdemonstrationen, geöffnet hat.

Vorsitzende werden ja nicht nur vorgeschlagen, sondern müssen auch gewählt werden. Ist soziale Arbeit und die Mitgliedschaft insgesamt politischer geworden?

Natürlich. Der Verband hat sich sozusagen mit seiner Mitgliedschaft politisiert. Die Verbandsspitze hat relativ früh ein Gespür dafür entwickelt, was sich in der Gesellschaft bewegt, wo neue Probleme auftauchen, aber auch, wo neues Engagement und neue Bewegungen auftauchen, die sich diesen Problemen widmen. Und dann hat man sich aufeinander zubewegt, den sozialen Bewegungen im Verband auch einen strukturellen Rahmen gegeben. Ich denke in manchen Sachen waren wir dadurch der Gesellschaft auch voraus. Gerade was die Verknüpfung von Gesundheit und Sozialpolitik betrifft, also die Erkenntnis, dass beides nicht ohne einander funktioniert.

Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein? Was könnte die nächste Etappe für die Gesellschaft und den Verband sein?

Für die Gesellschaft wird das zentrale Thema der nächsten Jahre sein, und da gehört die Bewältigung von Corona mit dazu, die Verknüpfung von sozialem und ökologischem Wandel. Das wird schwierig werden und nicht ohne Verwerfungen vonstattengehen. Als Verband sind wir da mit unseren Positionen und Aktivitäten relativ weit vorne. Eine gerechte Klimawende geht ohne Sozialstaat nicht und eine sozial-ökologische Transformation ist keine Frage des Luxus, sondern tatsächlich eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Soziales und Ökologisches bedingen sich gegenseitig und müssen deswegen gemeinsam gedacht und entwickelt werden. So eindeutig wie der Paritätische haben das in den letzten fünf Jahren wenige formuliert, da können wir schon stolz ein. Dass das Thema auch öffentlich wahrgenommen wird, dazu haben wir schon einen wichtigen Beitrag geleistet. Und dennoch: Die Frage, wie gestalten wir eine echte sozial-ökologische Transformation, ist so groß, da ist noch sehr viel zu tun und inhaltlich auch noch ganz viel offen.

Es ist spannend zu beobachten, dass sich in diesem Zusammenhang auch wieder etwas in der Mitgliedschaft wandelt. Inzwischen klopfen mehr und mehr Vereine an, die auch einschlägige ökologische Expertise mitbringen…

Absolut! Deswegen find ich auch sowohl unsere Entscheidung, gemeinsam etwas mit Fridays For Future zu machen wie die Pressekonferenz im vergangenen Sommer, als auch zu sagen, jetzt ist erstmal gut mit gemeinsamen Aktionen, solange ihr soziale Fragen weitgehend ausklammert, völlig richtig. Das ist wie damals die Auseinandersetzung mit den neuen sozialen Bewegungen in den 1970er und 1980er Jahren. Das war auch immer so ein Hin und Her. Ist das stabil oder ist es nicht vielleicht doch gescheiter, wenn man sich trennt? Ich denke, auch jetzt stehen uns noch viele intensive Diskussionen bevor. Da wird es Vereine und Initiativen geben und gibt es ja schon, die auf uns zu kommen und die sich im und mit dem Verband für die Gestaltung einer sozial-ökologischen Transformation engagieren wollen. Diese neuen Mitgliedsorganisationen werden auch die weitere verbandliche Entwicklung mitbestimmen. Das finde ich auch gut, weil so der Laden lebendig bleibt und gezwungen ist, sich nicht nur mit sich selbst zu beschäftigen, sondern sich wirklich mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Vor allem auch unser Blick auf Armutspolitik wird sich ändern müssen. Ich denke, wir dürfen Armutspolitik nicht mehr nur als Absicherung von individuellen Lebensentwürfen und Schicksalen verstehen. Armutspolitik wird eine soziale und ökologische Absicherung für die Zukunft der Welt bedeuten müssen, um es mal ganz global zu sagen. Ohne eine stimmige Armutspolitik wird es keinen solchen ökologischen Wandel geben, dass diese Welt noch älter als 500 Jahre wird.

Zum Abschluss: Was würden Sie jungen Menschen sagen, wenn diese fragen, warum es sich lohnt, sich in einem Verband wie dem Paritätischen zu engagieren?

Also ich habe relativ schnell verstanden, dass wenn ich irgendetwas in meinem Sinne bewirken will, dass ich dann Verbündete brauche. Erstmal Verbündete, die gleichgesinnt sind. Was ja auch naheliegend ist, weil 20 Leute stärker sind als zehn, klar. Dann gucken, welche Bereiche gibt es eigentlich noch, die angrenzen, die was gemeinsam haben und gibt es da Möglichkeiten Verbündete zu gewinnen. Soziales, Umwelt, Kultur oder Sport – da gibt es so viele Anknüpfungspunkte. Da war ich immer ziemlich pragmatisch: Wenn ich etwas erreichen will, muss ich gucken, dass ich das nicht alleine mache.

Herzlichen Dank für dieses inspirierende Gespräch!

Der Beitrag erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe des Verbandsmagazins "Der Paritätische", Ausgabe 06/20.

Das Interview führte:
Gwendolyn Stilling, Pressesprecherin und Abteilungsleiterin der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Presse und Kampagnen beim Paritätischen Gesamtverband.

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de