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Armutsbericht 2020: "Gegen Armut hilft Geld."

Am Freitag, den 20. November 2020, stellte Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, den Armutsberichtes 2020 vor. Die Präsentation begleitete er mit folgendem Statement zur armutspolitischen Situation in Deutschland und den dazugehörigen Schlussfolgerungen und Forderungen des Paritätischen.

Die Fakten

Es kann keinem gefallen. Manche werden es auch nicht wahrhaben wollen. Und doch: Die Armut im wiedervereinten Deutschland hat einen neuen historischen Wert, ein Rekordhoch erreicht. Die Armutsquote nahm gegenüber dem Vorjahr um 0,4 Prozentpunkte zu und erreichte mit 15,9 Prozent den höchsten Wert, der seit der Vereinigung gemessen wurde. Über 13 Millionen Menschen lebten 2019 in Deutschland in Einkommensarmut.

Als wir im letzten Jahr unseres Armutsbericht 2019 präsentierten, konnten wir noch einen Rückgang der Armut um 0,3 Prozentpunkte verkünden. Wir gaben unserer Hoffnung Ausdruck, dass damit vielleicht der langanhaltende Aufwärtstrend bei den Armutsquoten gestoppt sei, es vielleicht sogar der Beginn einer Trendwende sein könnte. Diese Hoffnung hat sich mit den aktuellen Daten zerschlagen. Vielmehr wird wieder ein klarer Aufwärtstrend seit 2006 mit seiner Armutsquote von 14 Prozent bis zum aktuellen Spitzenwert sichtbar. Sukzessive ist die Armutsquote in diesem Zeitraum um 1,9 Prozentpunkte und damit fast 14 Prozent angestiegen.

Gestoppt ist auch der erfreuliche Rückgang der Einkommensarmut in Ostdeutschland, den wir in den letzten Jahren beobachten durften. Auch in Ostdeutschland stieg die Armut von 17,5 auf 17,9 Prozent.

Der Wiederanstieg der Armut erfolgte in Deutschland praktisch flächendeckend. 11 der 16 Bundesländer waren betroffen. Den schlechtesten Wert zeigte wie auch schon in den Jahren zuvor Bremen, wo mittlerweile jede*r Vierte zu den Armen gezählt werden muss. Es folgen mit weit überdurchschnittlichen Armutsquoten zwischen 18,5 und 19,5 Prozent Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Nordrhein-Westfalen.

Das armutspolitisch problematischste Bundesland bleibt Nordrhein-Westfalen. Fast jede*r fünfte (18,5 %) Einwohner*in dieses bevölkerungsreichsten Bundeslandes zählt zu den Armen. Hinzu kommt die Dynamik der Entwicklung. Die nordrhein-westfälische Armutsquote ist zweieinhalbmal so schnell angewachsen wie die gesamtdeutsche Quote.

Armutspolitische Problemregion Nummer 1 – nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern in ganz Deutschland – ist das Ruhrgebiet. Es hat eine Armutsquote von 21,4 Prozent und rangiert damit noch vor Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt. Nur in Bremen gibt es eine höhere Armutsdichte. Der wesentliche Unterschied jedoch: Bremen hat 680.000 Einwohner*innen. Im Ruhrgebiet leben 5,8 Millionen Menschen. Es ist der größte Ballungsraum Deutschlands.

Das mit Abstand höchste Armutsrisiko haben nach wie vor Arbeitslose (57,9 %), Alleinerziehende (42,7 %), kinderreiche Familien (30,9 %), Menschen mit niedriger Qualifikation (41,7 %) und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit (35,2 %). Bedrückend ist, dass die Armutsquote bei all diesen ohnehin seit Jahren abgehängten Gruppen von 2018 auf 2019 wieder einmal zugenommen hat. Mit anderen Worten, unter diesen ohnehin unterprivilegierten Gruppen wuchs die Armut wieder einmal noch schneller als beim Rest der Bevölkerung.

Beendet scheint allerdings das 2016 und 2017 zu beobachtende Phänomen, dass der Anstieg der Armut ausschließlich auf Menschen mit Migrationshintergrund zurückzuführen war, während sie unter denen ohne Migrationshintergrund abnahm. 2018 und 2019 geht die Entwicklung bei beiden Gruppen wieder in die jeweils gleiche Richtung.

Alles in allem zeigen die aktuellen Daten zur regionalen Verteilung der Armut und zu ihrer Entwicklung Deutschland als ein regional und sozial zerrissenes Land. Da gibt es nichts zu beschönigen. Volkswirtschaftliche Erfolge kommen offensichtlich nicht bei den Armen an. In ihrer Verteilungswirkung vergrößern sie dagegen ganz offensichtlich Ungleichheit und Armut.

Die Corona-Krise dürfte, nach allem was wir bisher über die ökonomischen Auswirkungen wissen, diesen Trend noch einmal spürbar beschleunigen. Die Rezession im 2. Quartal und die anhaltenden Einkommensverluste durch die Corona-Krise trafen nicht alle Gruppen gleichermaßen. Der Effekt war kein allgemeiner Wohlstandsverlust, geschweige denn ein Einkommensrückgang vor allem bei höheren Einkommen, was dann hinsichtlich der Armutsentwicklung in der Tat irrelevant wäre. Vielmehr dürften insgesamt etwa „nur“ 20 Prozent von coronabedingten Einkommenseinbußen betroffen sein. Deutlich stärker sieht die Betroffenheit allerdings speziell in den Bereichen Gastgewerbe, Unterhaltung, Erholung oder Verkehr aus, in denen fast ein Drittel über Einkommenseinbußen klagt.

Solche Studien korrespondieren durchaus mit dem Umstand, dass die im Zuge der Corona-Krise wegbrechende Erwerbstätigkeit vor allem geringfügig Beschäftigte traf, Erwerbstätige in der Gastronomie und der Leiharbeit.

Die Hoffnung aus dem Frühjahr, dass im zweiten Halbjahr Corona wieder abklinge und alles wieder gut werde, hat sich nicht erfüllt. Die Wirtschaftsforschungsinstitute gehen in ihrem gemeinsamen Herbstgutachten von einem Abbau der Erwerbstätigkeit über das Jahr von rund 400.000 aus. Das DIW rechnet in Folge des zweiten Lockdowns noch einmal mit einem Rückgang der Erwerbstätigenzahl um 90.000 Personen und das auch nur unter der Voraussetzung, dass die Maßnahmen im Dezember wieder gelockert werden, wovon jedoch nicht mehr ausgegangen werden kann.

Es gibt also genügend Hinweise darauf und wir sollten uns darauf einstellen, dass die Corona-Krise in Deutschland nicht nur mit einer Vergrößerung von Ungleichheit, sondern auch mit einer Zunahme der Einkommensarmut einhergeht.

Wir können auf der Grundlage unseres Armutsberichtes 2020 und angesichts der aktuellen Lage im Land die Bundesregierung nur wiederholt dazu aufrufen, endlich auch armutspolitisch tätig zu werden. Die Bundesregierung hat schnell und in vielen Punkten auch richtig gehandelt, denken wir etwa an das Kurzarbeitergeld oder die Hilfen für Soloselbständige.

Wir bringen allerdings überhaupt kein Verständnis dafür auf, dass in dem größten Konjunkturpaket, das in der Bundesrepublik je geschnürt wurde, und zwar mit dem ausgesprochenen Ziel, die Konjunktur zu stützen, kein Cent für die Armen zu finden war und statt dessen 20 Milliarden Euro für eine von Anfang an zweifelhafte Absenkung der Mehrwertsteuer sprichwörtlich verpulvert wurde.

Eine Zuwendung an die sieben Millionen Bezieher*innen von Hartz IV und Altersgrundsicherung hätte garantiert, dass die Mittel eins zu eins in den Konsum fließen, sie hätte dafür gesorgt, dass die Mittel vor allem in Regionen fließen, die auch unter wirtschaftsstrukturellen Gesichtspunkten die Mittel dringend hätten gebrauchen können. Eine Zuwendung an die Armen hätte schließlich corona-bedingte Mehrkosten für Masken, Desinfektionsmittel und auch aufgrund steigender Lebensmittelpreise auffangen können. Sie hätte auch dem Umstand Rechnung tragen können, dass zwischenzeitlich rund die Hälfte der Tafeln geschlossen hatten, auf die viele Menschen angewiesen sind. Alles hat für eine vernünftige Verbindung von Armuts- und Konjunkturpolitik gesprochen, und doch verweigerte die Bundesregierung jegliche finanzielle Hilfe. Lediglich für die Kinder in Hartz IV wurde sichergestellt, dass der allgemeine Kinderbonus nicht auch noch in Abzug gebracht wurde. Was wir bei der Erstellung des Konjunkturpaketes erlebten und was in den Folgemonaten ja nicht besser wurde, ist schon keine armutspolitische Ignoranz mehr, sondern bewusste armutspolitische Verweigerung.

Was ist zu tun?

Wir haben unseren Armutsbericht bewusst überschrieben mit „Gegen Armut hilft Geld“. Warum? In der Armutsdebatte stoßen wir immer wieder auf zwei Setzungen, die zwar sehr eingängig sind, aber nichtsdestotrotz der Empirie nicht standhalten. Die eine ist, dass das beste Mittel gegen Armut Bildung sei, die andere, dass das erfolgversprechendste Mittel die Integration in den Arbeitsmarkt sei. Als politische Ziele ist gegen beide Thesen nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil. Nur lösen sie unser Armutsproblem – hier und jetzt – nicht.

Wir brauchen dringend eine sehr gute Bildungsinfrastruktur, die alle mitnimmt. Gerade in diesen Corona-Zeiten ist noch einmal aufgebrochen, wie selektiv unser Bildungssystem ist und wie sehr arme Kinder benachteiligt sind. Doch ist auch klar: Bildung hilft, Kindern einen Weg raus aus einer Armutsspirale zu bahnen, sie bewahrt sie allein jedoch nicht vor einer Kindheit in Armut, solange die ganze Familie in Armut leben muss.

Zum Thema Arbeitsmarktpolitik als Königsweg der Armutsbekämpfung sei festgestellt: Der ganz überwiegende Teil der Armen, fast zwei Drittel von ihnen, ist durchaus erwerbstätig (33 Prozent) oder in Rente (29,6 Prozent) ist. Arbeitslose stellen dagegen nicht einmal 8 Prozent der Armen. Bei den Erwerbstätigen handelt es sich auch keinesfalls überwiegend um Minijobber*innen, wie häufig vermutet wird, sondern ganz überwiegend um sozialversicherungspflichtig Beschäftigte oder auch Selbständige.

Wenn wir Armut also nicht aufgrund falscher Grundannahmen bearbeiten, sondern wirklich beseitigen wollen, kommen wir um bessere Transferleistungen nicht herum.

  • Wir treten ein für eine Erhöhung der Regelätze auf 644 statt der beschlossenen 446 Euro. Dieser Betrag entspricht der Berechnungsweise der Bundesregierung unter Verzicht auf alle Eingriffe in die Statistik und trickreicher Kleinrechnereien des Existenzminimums. Mit einem Regelsatz von 644 Euro wäre Einkommensarmut, so wie sie wissenschaftlich gemessen wird, praktisch beseitigt, indem so gut wie jeder Haushalt über die Armutsschwelle gehoben würde.
  • Wir fordern eine Stärkung der Arbeitslosenversicherung durch Einführung eines Mindestarbeitslosengeldes über Hartz-IV-Niveau und eine Ausweitung der Bezugsdauer auf bis zu 36 Monate für ältere Arbeitslose.
  • Wir wollen eine Kindergrundsicherung, die den Kinderlastenausgleich endlich vom Kopf auf die Füße stellt. Die, die am meisten haben, sollen am wenigstens bekommen, die die am wenigsten haben, am meisten. Für Kinder in einkommensschwachen Familien hat die Kindergrundsicherung das Existenzminimum abzudecken und ist mit steigendem Einkommen abzuschmelzen. Hartz IV für Kinder würde damit überflüssig. Auch der Kindergeldzuschlag. Kein Erwachsener müsste mit Hartz IV aufstocken, nur weil er Kinder hat.
  • Wir fordern schließlich angemessene Freibeträge für alle Rentnerinnen und Rentner, die Altersgrundsicherung beziehen müssen. Es ist schlicht ungerecht, wenn Bezieher*innen von Riesterrenten solche Freibeträge eingeräumt werden, künftig mit Einführung der Grundrente auch Rentner*innen mit sehr langen Versicherungszeiten, allen anderen aber nicht.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband wäre als Verband mit über 20.000 sozialen Einrichtungen und Betrieben unter seinem Dach der letzte, der nicht die Bedeutung sozialer Infrastruktur in der Armutsbekämpfung sähe. Was wir jedoch nicht mehr hinnehmen wollen, ist das Ausspielen von Geld- gegen Sachleistung. Eine gute Politik wird immer beides in den Blick nehmen. Was die Armen aber sofort brauchen, und was wir ihnen sofort geben könnten, wäre Geld.

Download: Gegen Armut hilft Geld. Der Paritätische Armutsbericht 2020.

Pressemitteilung: Paritätischer Armutsbericht 2020: Armut in Deutschland auf Rekordhoch

Schwerpunktwebsite mit interaktiver Karte zu regionalen Armutsquoten: Armutsbericht 2020

Pressekontakt:
Gwendolyn Stilling
Tel. 030/24636305
E-Mail: pr(at)paritaet.org

Autor:
Ulrich Schneider

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de