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Zum Tag der Menschenrechte 2020: Warum queere Themen in Krisenzeiten so wichtig sind

2020 wird als Corona-Jahr in die Geschichtsbücher eingehen. Egal ob arm oder reich, Nord oder Süd, Ost oder West, alle Menschen sind egal an welchem Ort der Erde im Laufe des Jahres mit der Pandemie und ihren Folgen konfrontiert. Mal mehr, mal weniger intensiv. Dabei fällt auf: Die Pandemie verstärkt weltweit bestehende Verletzlichkeiten und Ungleichheiten. Die Auswirkungen von Corona und die politischen Entscheidungen zur Bekämpfung der Pandemie (be-)treffen nicht alle Menschen gleich, sondern je nach Lebenslage unterschiedlich und in unterschiedlicher Intensität. Besonders ist auch die Situation der queeren Community. Freundschaften und das eigene Netzwerk sind aufgrund von pandemiebedingten Vorschriften eingeschränkt erreichbar, Schutzräume fallen weg und die sonstige Infrastruktur ist auch nicht mehr uneingeschränkt greifbar. Markus Ulrich, Pressesprecher des Lesben- und Schwulenverband LSVD und Katrin Frank, Referentin für Familienhilfe/-politik, Frauen und Frühe Hilfen beim Paritätischen Gesamtverband, zeigen einige Probleme, die Politik und Gesellschaft besser mitdenken sollten.

Queere Community ist nicht homogen

Hinzu kommt und gleich vorneweg sei gesagt, dass die queere Community keine homogene Gruppe ist. Ihre (Diskriminierungs-) Erfahrungen und damit auch, wie sie Corona erleben und wie sich die Pandemie auf ihren Alltag auswirkt, sind nicht nur von ihrer sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Identität geprägt. Es macht einen Unterschied, ob jemand lesbisch, schwul oder bisexuell ist, in der Großstadt lebt oder auf dem Land, alt ist oder jung, weiß ist oder eine andere Hautfarbe hat, die deutsche Staatsbürgerschaft hat oder hier um Asyl kämpft, Kinder hat oder nicht. Bedürfnisse und mögliche Problemlagen sind auch davon geprägt, ob und wie man religiös sozialisiert wurde, welche soziale Herkunft man hat oder ob man etwa mit einer Behinderung lebt.

Idee von Familie: Fokus der Regelungen heteronormativ

Wenn es um Mobilitätsbeschränkungen und soziale Kontakte ging, fand sich in mehreren Regelungen Heteronormativität und eine sich auf biologische Verwandtschaft beziehende Idee von Familie. So wurden Ausnahmen etwa für Einreisen in ein Bundesland, für die Teilnahme an Beerdigungen und Trauungen oder den Besuch in Krankenhäusern, Alten- oder Pflegeheimen in vielen Bundesländern nur für den engsten Familienkreis bzw. auf Verwandtschaft in gerader Linie gemacht. Hier zeigt sich, wer als wichtige Bezugspersonen angenommen wird, und wem man daher das Zusammenkommen nicht verweigert. Freundschaften, die insbesondere für die queere Community oftmals den Stellenwert einer Wahl- und Ersatzfamilie haben, wurden hier nicht berücksichtigt. Andere Bundesländer haben hingegen offenere Formulierungen wie nahestehende Personen gewählt oder aber eine maximale Anzahl an Personen benannt, mit denen sich getroffen werden darf. Leider wurde dies nicht überall so gemacht – Einsamkeit war und ist die Folge.

Hohes Risiko für Einsamkeit

Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote und die weitreichende Schließung von Einrichtungen führten zu einem Rückzug aus dem öffentlichen Raum und einer generellen Abnahme sozialer Kontakte. Eine Onlinebefragung unter 2.461 Menschen eines Wissenschaftsteams der Fachhochschule Münster und der Charité Berlin ergab, dass in der Pandemie zunehmend mehr Menschen an Einsamkeit leiden. Diese geht mit erhöhter Depressivität und verringerter Lebenszufriedenheit einher. Ein hohes Risiko für Einsamkeit und Isolation haben neben Singles, Alleinlebenden und Menschen im Homeoffice auch LSBTI. Ein besonders stark erhöhtes Risiko für Einsamkeit haben asexuelle und trans* Menschen, die in der Hälfte der Fälle einsam waren.

Einreiseregelungen: Wenn Partner*innen nicht als Angehörige anerkannt werden

Ebenfalls sehr belastend ist die Pandemie für Fernbeziehungen, da man nicht reisen darf bzw. nicht weiß, wann man sich das nächste Mal sehen kann. Nicht-EU-Bürger*innen durften lange nur in die EU einreisen, wenn ihre Familie in einem Mitgliedsland der EU lebt. Erst seit dem 10. August zählt in Deutschland auch ein unverheiratet*r Partner*in als Familienangehöriger. Seit kurzem müssen diese binationalen Paare auch nicht mehr nachweisen, dass es bereits ein vorheriges Treffen in Deutschland gab oder einen vorherigen gemeinsamen Wohnsitz.

Viele EU-Staaten verhängen zudem nationale Einreiseverbote. Das kann für binationale Paare und Regenbogenfamilien in einigen Staaten zum massiven Problem werden, wenn Partner*innen dort nicht als Angehörige anerkannt werden. So galt etwa in Polen das Einreiseverbot zwar nicht für ausländische Ehepartner und Kinder polnischer Staatsbürger*innen. Da im Ausland geschlossene Ehen und Lebenspartnerschaften dort aber nicht anerkannt werden, treffen diese Beschränkungen gleichgeschlechtliche Paare hart.

Schutzräume und Infrastruktur fehlt

Für die gesamte Community ist der bereits beschriebene anhaltende Wegfall der wichtigen Infrastruktur eine besondere Schwierigkeit. Hilfs- und Unterstützungsangebote, die sich gezielt an queere Menschen und ihre Bedürfnisse richten, wurden zurückgefahren. Und das zu einer Zeit, in der sich aufgrund der Pandemie und des Lockdowns mehr Menschen in Krisensituationen befinden. Zwar reagierten viele Anlaufstellen mit der Verlagerung bzw. Verstärkung von Angeboten ins Digitale. Auch telefonische Beratung konnte oftmals noch stattfinden. Aber gerade, wenn Beratung heimlich aufgesucht wurde, etwa vor einem Coming-out, war es in Zeiten des Lockdowns schwieriger, solche Angebote wahrzunehmen, etwa wenn Angehörige im Nebenraum sind. Vor allem offene Angebote und Gruppentreffen mussten ausfallen. Orte, an denen man mit Gleichgesinnten zusammenkommen konnte, vielleicht zwei Stunden geoutet und spontan sein durfte, waren bzw. sind geschlossen.

Wie es mit queeren Angeboten weitergeht, ist unklar. Dies betrifft auch die kommerzielle Infrastruktur aus Treffpunkten und Clubs der Community. Die Corona-Krise zeigt sich diesbezüglich als Krise der Stadt. Bars, Clubs, Kinos, Konzerte und Ausstellungen – das kulturelle Angebot ist massiv eingeschränkt. Queeren Medien brechen die Anzeigenkunden weg. Das gesamte queere Nachtleben liegt mehr oder weniger brach. Auch wenn es vermehrt digitale, ortsunabhängige Angebote gab, mit denen potenziell mehr Leute erreicht werden konnten, fehlten Einnahmen.

Damit bricht nicht nur ein wichtiger Arbeitsplatz für LSBTI weg, sondern auch unersetzbare Orte des Rückzugs, der Selbstvergewisserung und Bestätigung, aus dem nicht zuletzt Resilienz gegen die heteronormative Alltäglichkeit und Kraft und Vernetzung für politisches und gesellschaftliches Engagement gegen Diskriminierung und Gewalt. Diese Orte kämpfen tatsächlich ums Überleben. Müssen sie schließen, verschwindet auch sichtbares queeres Leben aus dem öffentlichen Raum.

Tag der Menschenrechte 2020: Vielfalt, Offenheit und Toleranz

Der Paritätische steht für Vielfalt, Offenheit und Toleranz. 365 Tage im Jahr, nicht nur am Tag der Menschenrechte. Rechte, die die queere Community berühren, gehen alle Menschen an – denn sie sind Ausdruck eines gesellschaftlich menschenfreundlichen Fundaments, das nicht von der Mehr- zur Minderheit, sondern vom Einzelnen zur Gesamtheit diskutiert werden muss. Wir Paritäter*innen sind überzeugt: Uns gehen die Rechte jedes einzelnen Menschen an – nur so kann die Menschenwürde aller gewahrt werden.

Weitere Informationen auf der Website des LSVD:

Corona und Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen

Autor*innen:
Markus Ulrich und Katrin Frank

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de