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Erste Einschätzung zum Sondierungsergebnis aus Paritätischer Sicht

Sozialpolitisch unambitioniert und flüchtlingspolitisch inakzeptabel – so muss aus Paritätischer Sicht das Ergebnis der Sondierungen zwischen Union und SPD bewertet werden. Viele wichtige Themen werden zwar angesprochen, sind aber genau wie im letzten Koalitionsvertrag der Großen Koalition entweder nur unter Finanzierungsvorbehalt oder von vorneherein unterfinanziert. Das Versprechen der Verhandlungspartner, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, kann so nicht eingelöst werden. Vielmehr ist zu erwarten, dass sich die Spaltung durch die skizzierten Maßnahmen noch verschärft.

Flucht und Integration

CDU, CSU und SPD planen eine Obergrenze für Zuwanderung von 180.000 bis 220.000 Menschen. Diese Begrenzung ist aus Sicht des Paritätischen scharf zu kritisieren. Stark begrenzt werden soll ebenso die Familienzusammenführung bei subsidiär Geschützten. Insgesamt sollen maximal 1000 Menschen pro Monat nachziehen dürfen. Im Gegenzug soll die Aufnahme von monatlich 1000 Menschen aus Griechenland und Italien auslaufen. Diese Pläne stehen im scharfen Widerspruch zum Grundrecht auf Asyl und zur Genfer Flüchtlingskonvention. Zusätzlich sind die Formulierungen des Papiers hier, wie an anderen Stellen, äußerst schwammig. So bleibt beispielsweise unklar, ob auch unbegleitete minderjährige Geflüchtete weiterhin Anspruch auf Familiennachzug haben.

Die Parteien haben sich darauf geeinigt, dass Asylverfahren zukünftig in „zentralen Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen“ stattfinden. Hier sollen die Menschen ankommen, auf die Entscheidung über ihren Asylantrag warten, um dann auf die Kommunen verteilt zu werden oder ausreisen zu müssen. Angesichts der monatelangen Verfahren ist dieser Vorschlag aus humanitärer und integrationspolitischer Sicht fatal. In diesen Sammellagern soll ebenfalls eine umfassende Identitätsfeststellung stattfinden. Für unbegleitete Minderjährige gilt ausdrücklich, dass die Feststellung des Alters vor der Inobhutnahme durch die Jugendämter erfolgt. Auch diese Pläne sind äußerst kritisch zu sehen.

Schließlich ist die geplante Ausweitung der Liste der sicheren Herkunftsländer asylpolitisch untragbar. Hier planen die möglichen Koalitionsparteien, dass Algerien, Marokko und Tunesien und weitere Länder mit einer langfristigen Anerkennungsquote unter 5 Prozent in die Liste aufgenommen werden.

Gesundheit

Die SPD konnte sich mit ihrer Forderung nach Einführung einer Bürgerversicherung erneut nicht gegen die Unionsfraktionen durchsetzen. Bereits an diesem Punkt wird deutlich, wer künftig den politischen Kurs und Ton angeben wird, sollte es zu einer Fortführung der Großen Koalition kommen. Statt die ungerechte Zwei-Klassen-Medizin abzuschaffen, haben sich die möglichen Koalitionäre von Union und SPD auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt: Die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die GKV-Beiträge sollen demnach wieder zu gleichen Teilen von den Arbeitgebern und den Beschäftigten getragen werden.

Die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung ist eine langjährige Forderung des Paritätischen Gesamtverbandes und findet daher unsere volle Zustimmung und Unterstützung. Die paritätische Finanzierung ist eine der langjährigen und bewährten Grundprinzipien des Sozialversicherungssystems gewesen. Insbesondere die damit verbundenen Zusatzbeiträge, die seither ausschließlich von den gesetzlich Versicherten gestemmt werden mussten, bedeuteten für viele Haushalte eine enorme finanzielle Belastung. Ihre Abschaffung wird von uns daher ausdrücklich begrüßt.

Aus Sicht des Paritätischen ist es damit jedoch nicht getan. Eine echte finanzielle Entlastung und mehr Gerechtigkeit im medizinischen und gesundheitlichen Versorgungssystem würde die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung bringen. Die Forderung des Paritätischen lautet daher, die Zweiteilung von privater und gesetzlicher Krankenversicherung aufzuheben und alle Einkommensarten gleichermaßen in das Krankenversicherungssystem einzubeziehen. Bei einer Wiederauflage der Großen Koalition ist nach den heutigen Ergebnissen die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin nicht zu erwarten und erneut in weite Ferne gerückt.

Positiv bewertet der Paritätische Gesamtverband hingegen das erklärte Ziel, für alle bettenführenden Krankenhausabteilungen Pflegeuntergrenzen einzuführen. Dies ist vor dem Hintergrund des aktuellen, bundesweiten Pflegenotstands in den Kliniken allerdings schon seit Jahren überfällig.

Alle weiteren Ergebnisse zum Thema Gesundheit bleiben im Allgemeinen und sind leider wenig konkret. Es bleibt daher abzuwarten, was bei einer schwarz-roten Regierungsbildung genau mit "deutlich erhöhten Investitionen in Krankenhäuser für Umstrukturierungen, neue Technologien und Digitalisierung" beabsichtigt ist. Befürchtet werden muss jedoch, dass Krankenhausschließungen – wie nicht nur aus Reihen der Unionsfraktion seit längerem gefordert –, von denen vor allem kleinere Häuser betroffen wären, beabsichtigt sind. Für die medizinische (Notfall-)Versorgung, nicht nur in strukturschwachen Regionen, könnte dies fatale Folge haben.

Kinderarmut

Die SPD betont, die Bekämpfung der Kinderarmut sei ein Schwerpunkt einer neuen Großen Koalition. Einer genaueren Betrachtung des Sondierungspapiers hält diese Aussage jedoch nicht Stand. Arme Familien profitieren nicht von den geringen Steuererleichterungen und das Kindergeld wird für Bezieher/-innen von ALG II auch nach seiner Erhöhung um 25 Euro komplett angerechnet. Lediglich für einen Teil der erwerbstätigen Hartz IV-Bezieher/-innen macht sich dagegen die Erhöhung des Kinderzuschlags positiv bemerkbar. Gemeinsam mit dem Kindergeld soll es das sächliche Existenzminimum (aktuell 399 Euro) decken. Insgesamt ist im Sondierungspapier jedoch kein Plan zu erkennen, Kinderarmut entschlossen zu bekämpfen. Die angekündigten möglichen Verbesserungen beim Bildungs- und Teilhabepaket sind angesichts des tatsächlichen Ausmaßes der Kinderarmut vernachlässigenswert.

Rente

Union und SPD möchten eine sogenannte Grundrente einführen, die Menschen mit 35 Beitragsjahren (inklusive Kindererziehung und Pflegezeit, aber nicht Arbeitslosigkeit) eine „Rente“ garantiert, die zehn Prozent über der Grundsicherung liegt. Sie soll nur bei Bedürftigkeit gewährt werden und von der Rentenversicherung verwaltet werden. Hierbei handelt es sich eher um eine bessere Sozialhilfe als um eine Rente. Die Einführung würde zu einer Ausweitung der Leistungsberechtigten führen, gleichzeitig bleiben aber all jene weiterhin außen vor, denen Beitragszeiten fehlen. Dadurch entstünden neue große Ungleichheiten.

Die Parteien möchten außerdem das Rentenniveau bis 2025 gesetzlich bei 48 Prozent absichern. Angesichts der aktuell guten Konjunktur ist dieses Vorhaben ausgesprochen unambitioniert. Faktisch resultiert daraus für die Rentner/-innen keine Verbesserung. Eine dringend geforderte Antwort auf die wachsende Altersarmut sähe anders aus.

Die sogenannte Mütterrente II wird nur für Mütter mit drei und mehr Kindern vor 1992 eingeführt. Sie würde bestehende Ungleichbehandlungen nicht vollständig beseitigen, zumal sie nicht über Steuern finanziert werden soll, sondern von den Beitragszahlern geschultert werden muss.

Die geplante Versicherungspflicht für Selbstständige ist dagegen positiv zu bewerten.

Arbeitsmarkt

Nach den Plänen der möglichen Koalitionäre sollen Langzeitarbeitslose besser gefördert, aktiviert und in den Arbeitsmarkt integriert werden. Der Passiv-Aktiv-Transfer soll ermöglicht und ein neues Regelinstrument im SGB II „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ mit Beteiligung von 150.000 Menschen jährlich geschaffen werden. Der Eingliederungstitel wird dafür um 1 Milliarde Euro pro Jahr aufgestockt. Dieses Vorhaben ist aus Sicht des Paritätischen sehr positiv zu bewerten.

Es soll eine Fachkräftestrategie entwickelt werden und dabei unter anderem die Qualifizierung von gering qualifizierten Beschäftigten in gemeinsamer Verantwortung von Arbeitgebern und Beschäftigten gestärkt werden. Gemeinsam mit den Sozialpartnern soll es eine nationale Weiterbildungsstrategie geben, die Arbeitnehmer/-innen einen beruflichen Aufstieg und den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit in der sich wandelnden Arbeitswelt ermöglicht. Alle Arbeitnehmer/-innen erhalten ein Recht auf Weiterbildungsberatung, das sie bei der Bundesagentur für Arbeit einlösen können. Das Initiativrecht der Betriebsräte für Weiterbildung soll gestärkt werden. Die Einwanderung von qualifizierten internationalen Fachkräften will man mit einem Fachkräfteeinwanderungsgesetz erleichtern.

Grundsätzlich ist das Vorhaben zur Stärkung der Fort- und Weiterbildung für gering qualifizierte Beschäftigte oder Langzeitarbeitslose sehr zu begrüßen. Dieses ist finanziell jedoch nicht abgesichert, insbesondere angesichts der geplanten Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um 0,3 Prozentpunkte. Das angekündigte „Recht auf Weiterbildungsberatung“ kann alleine durch die Angebote der Bundesagentur für Arbeit nicht bedarfsgerecht eingelöst werden. In der aktuellen Situation eines sehr aufnahmefähigen Arbeitsmarkts und angesichts der bestehenden rigiden Zumutbarkeits- und Vermittlungsgrundsätze (auch) in der Arbeitslosenversicherung ist kritisch danach zu fragen, welche frühzeitigen Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit sinnvoll sein können, ohne (vor allem) einen Zwangscharakter zu entfalten.

Keinen Anknüpfungspunkt gibt es für die dringend notwendige bessere finanzielle und soziale Absicherung von arbeitslosen Menschen (Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, Mindestarbeitslosengeld, Regelbedarfe, Sanktionen). Statt weitergehender Reformen belässt man es im Bereich des SGB II bei Prüfaufträgen zur Vermögensanrechnung und kleineren Verbesserungen beim Bundes- und Teilhabepaket.

Dringend notwendige und auch vom Paritätischen geforderte Maßnahmen zur Eindämmung prekärer Beschäftigungsverhältnisse (siehe etwa die Forderung nach Neuordnung der Minijobs, der Leiharbeit u.a.m.) werden nicht aufgegriffen. Mit der Ankündigung, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz 2019 zu evaluieren, wird eine bereits per Gesetz beschlossene Maßnahme um lediglich ein Jahr vorgezogen.

Pflege

Die Vorschläge zur Pflege sind grundsätzlich begrüßenswert, aber nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie gehen nicht weit genug und ihre Finanzierung ist nicht hinreichend und sozial gerecht gesichert. Die Eigenanteile stellen für Pflegebedürftige weiterhin ein großes Armutsrisiko dar. Das Sondierungspapier enthält keine Aussage zur Forderung des Paritätischen nach einer Deckelung des Eigenanteils. Auch weitere Forderungen des Paritätischen sind nicht aufgegriffen, zum Beispiel der Ausbau der Pflegeversicherung zu einer solidarischen Bürgerversicherung, die Finanzierung der Behandlungspflege im stationären Bereich durch Krankenkassen oder die Übernahme der Investitionskosten durch die Länder.

Begrüßenswert ist das Vorhaben, unterhaltspflichtige Kinder erst ab einem Einkommen von 100 000 Euro im Jahr zum Unterhalt der Eltern heranzuziehen.

Finanzen und Steuern

Der Verzicht auf eine stärkere Besteuerung sehr hoher Einkommen und hohen Vermögen ist das grundlegende Manko dieses Sondierungspapiers. Dringend notwendige sozialpolitische Maßnahmen – von höheren Leistungen der Grundsicherung bis hin zu familienpolitischen Leistungsverbesserungen – sind ohne zusätzliche Steuermittel nicht realisierbar. Das Gleiche gilt für den dringend notwendigen Ausbau kommunaler und sozialer Infrastruktur, worunter auch die Förderung sozialer Dienstleistungen durch die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen fällt. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass selbst die im Sondierungspapier genannten sozialpolitischen Projekte unterfinanziert bleiben. Regionale und soziale Spaltungen können so nicht überwunden werden, sondern werden eher noch vertieft.

Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Kinder

Aus Sicht des Paritätischen ist der Fokus auf die Bekämpfung von Gewalt gegenüber Frauen und Kindern sehr zu begrüßen. Leider enthält das Sondierungspapier dazu jedoch wenig konkrete Vereinbarungen. Ziel sei es, die Arbeit von Frauenhäusern bedarfsgerecht auszubauen, in Weiterqualifizierung und psychosoziale Hilfen zu investieren. Zudem solle es einen Runden Tisch von Bund, Ländern und Kommunen geben. Im Finanztableau finden sich diese zusätzlichen Kosten jedoch nicht wieder. Zu befürchten ist deshalb, dass hier vielen Worten keine konkrete, dringend notwendige Hilfe folgt.

 

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