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Grenzzaun Foto: www.canva.com

Erfolgreiche Abschottung? Zur Debatte um die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes

Auf nationaler wie europäischer Ebene wird wieder einmal die Abschaffung, oder weitgehende Einschränkung des individuellen Asylrechts diskutiert. Die Begründnung: es ist unzumutbar, dass Tausende auf der Flucht ihr Leben lassen und Schlepper darüber entscheiden, wer nach Europa kommen darf und wer nicht. Statt legale Zugangswege zu ermöglichen, schottet sich Europa ab und kauft sich frei.

Das individuelle Asylrecht steht – mal wieder – zur Disposition. Auf die Abschaffung, oder zumindest faktisch weitgehende Einschränkung des individuellen Asylrechts zielen jedenfalls viele der Vorschläge ab, die derzeit auf nationaler wie europäischer Ebene diskutiert werden. Die Argumentation ist im Grunde immer ähnlich: Der jetzige Zustand, dass Tausende oder gar Zehntausende auf der Flucht ihr Leben lassen, ist unzumutbar. Zudem würden letztlich die Schlepper entscheiden, wer nach Europa kommen könne oder nicht. Und die, die kämen, seien ohnehin oft nicht die am meisten Schutzbedürftigen.

Außerdem könne Europa schließlich nicht die ganze Welt aufnehmen. Eine Hilfe vor Ort sei für alle besser: Man könne mit dem Geld, welches man hier für die Flüchtlingsaufnahme und Asylverfahren ausgebe, vor Ort ein Vielfaches bewirken. Man könne ja auch in einem geregelten Verfahren möglicherweise eine kleine Zahl von Flüchtlingen aus Erstasylländern in Kontingenten aufnehmen und darüber nachdenken, andere legale Zuwanderungswege nach Europa zu schaffen, aber Voraussetzung sei zunächst mal, dass die Zahl der spontan einreisenden Asylsuchenden weiter drastisch reduziert werde. Die Kontrolle der europäischen Außengrenzen müsse erstmal wieder hergestellt werden.

Gemeint ist damit in Wahrheit, dass kaum noch ein Flüchtling nach Europa kommen soll. Es geht um die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes in die Regionen, aus denen die Flüchtlinge kommen. Das will man sich dann etwas kosten lassen, schon jetzt hat die Bundesregierung ihre diesbezüglichen Hilfen erhöht, auch wenn der Betrag angesichts dessen, was vor Ort nötig wäre, teilweise lächerlich gering erscheint.

Auf europäischer Ebene werden seit einiger Zeit Vorschläge diskutiert, mit denen diese Strategie umgesetzt werden soll. So sieht der Vorschlag für die neue Dublin IV-Verordnung u.a. vor, dass zukünftig das europäische Land, in das ein Asylsuchender zuerst kommt, zunächst prüfen muss, ob der Flüchtling nicht vorher bereits in einem anderen nichteuropäischem Land sicher war. Wird dies bejaht, soll er dahin zurückgeführt werden, ohne dass inhaltlich sein Schutzbedarf geprüft wird. Aktuell wird in Brüssel darüber gestritten, wann man denn ein anderes Land als „sicher“ bezeichnen kann, ohne allzu sehr gegen bestehende Menschenrechtsstandards zu verstoßen.

Immer neue Hürden für Grenzübertritt

Was ist nun falsch an dieser Argumentation? Zunächst einmal die Reihenfolge der praktizierten Maßnahmen! Natürlich kann es nicht das Ziel sein, den jetzigen Zustand, bei dem viele Menschen auf der Flucht ihr Leben verlieren, beizubehalten. Sie gehen diesen gefährlichen Weg, weil es legale Wege nicht gibt und in den letzten 20 Jahren immer neue Hürden für einen Grenzübertritt aufgebaut wurden. Wenn jetzt darüber nachgedacht wird – mehr ist es ja nicht – mehr Flüchtlinge aus Erstasylländern in Form von Kontingenten nach Europa zu holen: bitte schön, das wäre doch großartig. Der UNHCR hat 2016 den weltweiten Resettlementbedarf auf 1.150.0000 Menschen beziffert. Kürzlich hat Filippo Grandi, der UNHCR Hochkommissar, die EU aufgefordert, zumindest 40.000 Resettlementplätze jährlich zur Verfügung zu stellen. Das wären dann für Deutschland 10.000 Plätze. Deutschland hat sich durchaus zur Aufnahme von Resettlement Flüchtlingen bereiterklärt, so ist es nicht: 500 Plätze will man bereitstellen. Da ist doch noch deutlich Luft nach oben!

Warum nicht die Asylgesuche in irgendwelchen afrikanischen Ländern vorprüfen und dann die „aussichtsreichen“ Fälle nach Europa holen? Mal abgesehen von zahlreichen praktischen und vor allem menschen- und flüchtlingsrechtlichen Problemen: die zentrale Frage wäre doch, ob die EU bereit wäre, die „anerkannten“ Flüchtlinge dann auch aufzunehmen. Eine solche Bereitschaft zeichnet sich aber nicht ab.

Humanitäre Visa? Zweifelsohne eine gute Idee. Bisher allerdings nur in wenigen Fällen praktiziert. Umsetzung – zumindest in größerer Zahl – auch sehr unwahrscheinlich. Denn es würde dann gewiss mit der „Sogwirkung“ dagegen argumentiert. Dabei gibt es – z.B. in der Schweiz – durchaus gute Erfahrungen mit der Erteilung humanitärer Visa.

Andere legale Zuwanderungswege schaffen. Tolle Idee. Macht nur keiner – es sei denn für Studenten oder sonstige qualifizierten Kräfte. Wir werden nach der Bundestagswahl in Deutschland in jedem Fall eine Diskussion darüber führen, wie die Einwanderung nach Deutschland zukünftig gestaltet werden soll – Stichwort Einwanderungsgesetz. Da soll es aber um die gehen, „die wir brauchen“. Es ist aber dringend notwendig, im Rahmen  dieser Diskussion auch darüber zu streiten, wie wir legale Zuwanderungswege ausbauen und fördern, für diejenigen – etwa aus afrikanischen Ländern – die noch nicht qualifiziert sind. Es gab vor kurzem ein Programm „Mobi pro“, mit dem die Anwerbung von Auszubildenden aus EU-Staaten unterstützt wurde. Warum gibt es das nicht längst für Nicht-EU- Staaten?

Familienzusammenführung eingeschränkt

Wer die spontane Flucht einschränken will mit dem Argument, sie sei für die Betroffenen zu gefährlich, aber gleichzeitig die Möglichkeiten der Familienzusammenführung von Flüchtlingen einschränkt, verliert jede Glaubwürdigkeit. Jeder kann sich vorstellen, was es bedeutet, dauerhaft von der Familie getrennt zu leben. Dass das die Integration hier erschwert, braucht man nicht lange zu erläutern. Auch nicht, dass es gegen das Recht auf Schutz der Familie nach dem deutschen Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Vor allem aber führt es dazu, dass sich dann eben weitere Familienangehörige auf den gefährlichen, individuellen Weg nach Europa machen, weil ihnen der legale Weg verwehrt wurde. Wie viele Flüchtlinge tatsächlich im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland kommen wollen, ist nicht genau absehbar. Das Auswärtige Amt rechnet wohl, so heißt es, mit 200.000 bis 300.000 Familienangehörigen aus  Syrien und dem Irak. Wohlgemerkt: nicht im nächsten Jahr, sondern mehreren Jahren, denn es dauert ja allein 12 Monate, um einen Termin in der Botschaft in Beirut zu bekommen. Wäre das nun eine „Überforderung“, wenn Deutschland in dieser krisenhaften Zeit  innerhalb mehrerer Jahre 300.000 Familienangehörige aufnähme?

Der Innenminister will nun die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland nicht nur durch bessere Kontrollen der Außengrenzen reduzieren, sondern indem er die Sozialleistungen hier kürzt (bzw. „europaweit vereinheitlicht“), da diese die Schutzsuchenden nach Deutschland lockten. Mal ganz abgesehen davon, dass die zentralen Beweggründe für die Wahl Deutschlands als Zufluchtsland in der Regel andere sind – nämlich neben dem Zusammensein mit der Familie und der Community vor allem auch die Chance, hier eher Arbeit zu finden als etwa in Rumänien – hat das Bundesverfassungsgericht solchen – hinlänglich bekannten – Kürzungsabsichten im Jahr  2012 einen Riegel vorgeschoben: es hat festgestellt, dass alle, die sich hier legal aufhalten, einen Anspruch auf Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums haben.

Da niemand bisher glaubhaft darlegen konnte, warum  bei Asylsuchenden von einem geringerem Bedarf auszugehen sei als bei Hilfebedürftigen im Sinne des SGB II oder SGB XII, orientieren sich die Leistungen für Asylsuchende faktisch sehr stark an diesen Regelsätzen. Vor allem aber hat das Bundesverfassungsgericht dargelegt, dass die Leistungen nicht aus migrationspolitischen Gründen gekürzt werden dürfen, sondern nur, wenn für eine Gruppe tatsächlich ein geringerer Bedarf nachgewiesen wäre. Die Vorstellungen des Innenmisters, der die Leistungskürzungen ja ausdrücklich migrationspolitisch begründet, sind damit unvereinbar. Herr Minister De Maiziere wird das auch wissen.

Wie geht es weiter? Eine „atmende Obergrenze“ bei der Aufnahme von Flüchtlingen, haben CSU Politiker nun vorgeschlagen, also eine jährlich zu bestimmende Zahl von Flüchtlingen, die spontan, im Rahmen der Familienzusammenführung oder im Rahmen von Resettlementprogrammen aufgenommen werden. Zu befürchten wäre  angesichts der aktuellen Stimmungslage, dass die Politik, wenn sie eine solche „atmende Obergrenze“ festlegt, von akuter Kurzatmigkeit befallen wäre, es also eine recht übersichtliche Zahl wäre, die aufgenommen würde. Vor allem aber zielt der Vorschlag, wie auch andere aktuelle Beiträge darauf ab, das individuelle Recht auf Asyl abzuschaffen, es umzuwandeln in ein Gnadenrecht.

Deutschland zieht sich vom Flüchtlingsschutz zurück

Es gäbe keine individuellen Ansprüche mehr, es wäre ins Belieben des Staates gestellt, ob und in welcher Zahl er Flüchtlinge aufnimmt. Mal ganz davon abgesehen, dass solche Überlegungen weder mit dem Grundgesetz noch mit der Genfer Flüchtlingskonvention vereinbar wären, werden sie auch der historischen und aktuellen weltpolitischen Bedeutung Deutschlands nicht gerecht: Deutschland zieht sich vom Flüchtlingsschutz zurück „bitte übernehmen Sie“ so geht dann der Ruf an die in der Regel viel ärmeren Erstasylländer. Dabei leben bereits heute 86% aller Flüchtlinge weltweit in Entwicklungsländern. Nein, zu Deutschlands Verantwortung in der Flüchtlingspolitik gehört auch, Flüchtlingen in Deutschland in angemessener Zahl Zuflucht zu bieten, sich also nicht freizukaufen von der Flüchtlingsaufnahme. Denn wieso sollten andere Staaten zur Flüchtlingsaufnahme bereit sein, wenn es das wohlhabende Deutschland nicht mehr wäre?

Es gibt nicht eine Lösung für die anstehenden internationalen Herausforderungen, man muss vieles gleichzeitig anstoßen. Aber in einem anderen Tempo als bisher: im Jahre 1990 hat die damalige Bundesregierung, konkret der damalige Bundesinnenminister Dr. Schäuble, die „neue Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung“ vorgestellt. Als zentrale Ziele wurden da u.a. benannt: schnellere Asylverfahren, schnellere Rückführung, mehr Unterstützung der Erstasylländer, bessere Bekämpfung der Fluchtursachen! Schon mal gehört? Natürlich ist es sinnvoll, Erstasylländer viel stärker zu unterstützen, Fluchtursachen zu bekämpfen und Flüchtlingen andere legale Zufluchtswege zu eröffnen. Aber das alles ist kein Grund, das individuelle Recht in Frage zu stellen. Wenn die genannten Maßnahmen zu einem Rückgang der Flüchtlingszahlen führten, wäre das sehr zu begrüßen, nicht aber, wenn der Rückgang der Flüchtlingszahlen ausschließlich auf erfolgreicher Abschottung, auf der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes beruht!

Der Paritätische Wohlfahrtsverband tritt daher nachdrücklich dafür ein, dass das individuelle Asylrecht  - auch faktisch  - erhalten bleibt. Wer wirklich verhindern will, dass Schutzbedürftige auf der gefahrvollen Flucht nach Europa ums Leben kommen, muss legale Zugangswege eröffnen. Deutschland muss daher u.a. sein Resettlement Kontingent  deutlich erhöhen. Der Familiennachzug darf Subsidiär Geschützten nicht länger verweigert werden. Die Hilfen für Erstasylländer müssen aufgestockt und vor allem verstetigt werden.  Auf entschiedenen Widerstand des Paritätischen stoßen  Überlegungen, Sozialleistungen für  Asylsuchende zu senken und somit das Sozialrecht für Abschreckungszwecke zu instrumentalisieren. Nicht die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes oder die Abschreckung von Schutzsuchenden sollte im Mittelpunkt der Debatte stehen, sondern die Frage, wie die Rahmenbedingungen für die Integration der hier lebenden Flüchtlinge verbessert werden können. Dafür engagieren sich zahlreiche Paritätische Mitgliedsorganisationen, dafür liegen viele konkrete Vorschläge auf dem Tisch.