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Digitale Selbsthilfe — viele Chancen, einige Risiken

Fachinfo
Erstellt von Jutta Hundertmark-Mayser

Rund 3,5 Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich in der gesundheitlichen Selbsthilfe. In den 60er und 70er Jahren begannen sie damit, sich in regionalen Gruppen zu organisieren, um gemeinsam die Folgen einer Erkrankung oder sozialen Problemlage besser zu bewältigen. Schon bald vernetzten sich lokale Gruppen und gründeten Landes- oder Bundesverbände. Heute ist die Selbsthilfe eine unverzichtbare Säule im Gesundheitswesen.

Trotz Wachstums und hoher Professionalisierung hat sich das Prinzip der Selbsthilfe über Jahrzehnte nicht geändert: der gemeinsame Austausch in Gruppen, also im persönlichen Austausch von Angesicht zu Angesicht stattfindet. Doch seit einigen Jahren nimmt die Digitalisierung in der Selbsthilfe immer mehr Raum ein und hat das Gesicht der Selbsthilfe verändert.

Informationsaustausch und Kommunikation zwischen den Betroffenen finden in unserer modernen und medialen Welt nicht nur allein Face-to-face und in den Selbsthilfegruppen vor Ort statt. Vielmehr macht die zunehmende Digitalisierung die Wege kürzer: Informationen zu Erkrankungen und Problemen aus Betroffenensicht können im Internet gelesen, Menschen mit seltenen Erkrankungen gefunden und Kontakte geknüpft werden, über Messengerdienste werden Termine ausgetauscht oder in Foren über Befindlichkeiten „gesprochen“ -  die digitale Welt ermöglicht zeitnahe und niedrigschwellige Suche nach Informationen und Austausch mit Menschen, die an derselben Krankheit leiden.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass heutzutage fast jede Bundeselbsthilfeorganisation eine eigene Homepage hat. Angesichts zahlreicher Fragen nach Unterstützung beim Aufbau eigener Internetseiten von regionalen Selbsthilfegruppen hat die NAKOS 2018 zahlreiche Hinweise und Tipps auf ihrer „Beispiel-Homepage“ zusammengestellt. Hier erfahren Selbsthilfegruppen was beim Aufbau einer eigenen Internetseite zu beachten ist. Was dabei zu beachten ist, erfahren Interessierte auf der Beispiel-Homepage der NAKOS. Dort sind auch viele technische Aspekte beschrieben, die dabei eine Rolle spielen.

Die Digitalisierung verändert auch die Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit: Was Selbsthilfe ist und wie sie gelebt wird, wird lebendig und unmittelbar nachvollziehbar durch Videoclips, die oft auf YouTube veröffentlicht werden – Deutschland wird hier von einem regelrechten Boom überrollt. Ein prominentes Beispiel ist der Song „Zusammen" der Musiker Ben Jung & Rhobbin.

Ganz aktuell hat die NAKOS einen Blog als neues Medium ihrer Öffentlichkeitsarbeit online gestellt. Unter dem Titel "Lebensmutig." bloggen 15 junge Autor*innen mit unterschiedlichen Themen wie Depressionen, Krebs oder Muskelerkrankungen über ihre Erfahrungen in Selbsthilfegruppen, ihre Herausforderungen im Leben und ihre ganz persönliche Sicht auf Themen wie Anderssein, Gemeinschaft und Inklusion. Durch den Blog soll die junge Selbsthilfe als Netzwerk sichtbarer werden.

Ein neuer Trend sind digitale Anwendungen zur Erleichterung des Betroffenenalltags in Form von Apps wie z.B. die „rheuma-Auszeit“ der Rheuma-Liga, die „Kognitions-App“ der Deutschen Multiple-Sklerose Gesellschaft oder die App „inKontakt“, das Tor zur Welt von Wir pflegen, der Interessenvertretung begleitender Angehöriger und Freunde in Deutschland e.V.

Ob Apps für Selbsthilfekontaktstellen, die die Struktur von Selbsthilfeangeboten abbilden, sinnvoll sind und welchen Mehrwert sie haben können, hat die NAKOS jüngst auf ihrer Homepage veröffentlicht.

Als bundesweite Fachstelle zur Selbsthilfe beobachten wir einen enormen Aufschwung der Selbstorganisation von Betroffenen in Form digitaler Selbsthilfe. Zum Beispiel: Eine russischsprachige Elterninitiative von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen aus Berlin gründete eine eigene Internet-Austauschplattform und schafft so einen bundesweiten Rahmen für gemeinschaftliche Selbsthilfe. Hunderte von Familien haben sich mittlerweile angeschlossen und bundesweite örtliche Selbsthilfegruppen für reale Begegnungen gegründet. Oder: Frauen, die nach dem Einsetzen von Brustimplantaten wieder an Krebs erkranken organisieren sich auf Facebook, finden an die 1.000 Gleichbetroffene und fragen bei der NAKOS an, wie sie sich nun weiter in der realen Welt als „Selbsthilfe“ organisieren können. Facebook und soziale Medien sind für viele Menschen Teil ihrer Lebenswelt. Diese Medien werden genutzt für Empowerment, dafür sich über die Erkrankung zu informieren, sich zu vernetzen, sich mit Gleichbetroffenen auf Augenhöhe auszutauschen. Das Netz bietet auch die Chance zur Zusammenarbeit über geografische Hürden hinweg, dabei wollen immer mehr Betroffene auch gesundheitspolitisch mehr mitreden, sich mit Fachleuten austauschen.

Es ist offensichtlich, dass heutzutage eine elementare Form des Selbsthilfeengagements im digitalen Bereich liegt. Immer berücksichtigt werden muss aber, dass bei der digitalen Selbsthilfe meist hoch vertrauliche Informationen zur eigenen Gesundheit und Persönlichkeit in einem letztlich öffentlichen Raum ausgetauscht oder (unwissentlich) preisgegeben werden. Der im Selbsthilfebereich unabdingbare Schutz von persönlichen Daten ist dabei häufig nicht adäquat gewährleistet. Die EU–Datenschutzgrundverordnung, so lästig sie in der Umsetzung ist und so viele Unsicherheiten sie gerade in der Selbsthilfe hervorruft: sie ist auch eine Chance für die Selbsthilfe, sorgsam mit hochsensiblen und vertraulichen Informationen umzugehen. Aktuell führen wir mit Förderung des BMG ein Projekt zur Umsetzung der DSGVO in der Selbsthilfe durch. Erste Tipps für Selbsthilfegruppen haben wir gerade in unserem Themenbereich „Datenschutz“ auf nakos.de veröffentlicht.

 

Jutta Hundertmark-Mayser ist stellvertretende Geschäftsführerin der NAKOS