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Rechtsstaatliche Verfahren brauchen „offene Grenzen“. Ein Einwurf zur asylpolitischen Diskussion

Folgt man der zugespitzten asylpolitischen Diskussion, könnte man den Eindruck gewinnen, Deutschland stünde aktuell vor ganz besonderen Herausforderungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen – so wie es 2015 der Fall war. Davon kann aber keine Rede sein.

Seit längerem sinken die Zahlen der Asylsuchenden europaweit, allein in den ersten Monaten dieses Jahres um rund 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und mit 700.000 Asylsuchenden in den EU-Staaten im vergangenen Jahr, was weniger als 0,2 Prozent der EU-Bevölkerungszahl entspricht, kann von einer Überforderung der EU auch keine Rede sein. Was sollten da diejenigen Erstasylländer sagen, die tatsächlich den Großteil der weltweit rund 65 Millionen Flüchtlinge aufnehmen? Problematisch ist gewiss, dass sich die Aufnahme in der EU auf wenige Staaten konzentriert.

Das liegt aber vor allem daran, dass es die EU – unter kräftiger Mithilfe Deutschlands – seit knapp 20 Jahren versäumt hat, ein System der solidarischen Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen in der EU zu installieren und stattdessen ein (Dublin)-System aufrechterhalten hat, welches die Hauptlast der Aufnahme auf die Grenzstaaten versucht abzuwälzen - wenn es denn funktioniert hätte. Weil sich nun hinsichtlich eines anderen Verteilungsmodus in der EU auch jetzt noch keine Einigung andeutet, setzt man nun verstärkt auf die Sicherung der Außengrenzen und die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes.

Über die Aufnahme von Flüchtlingen lässt sich eben entspannter diskutieren – so die dahinter stehende Logik – wenn es europaweit nur 300.000 anstatt 700.000 Asylsuchende gibt. Mit dem zusätzlichen Verweis auf eine scheinbar generalisierende Bedrohung der inneren Sicherheit durch Flüchtlinge ist somit auch die Grundlage für Ängste und Vorbehalte bei Teilen der Bevölkerung vorprogrammiert.

Gewiss gibt es grundlegenden Handlungsbedarf. Denn es kann niemanden unberührt lassen, wenn Jahr für Jahr tausende Menschen auf der Flucht nach Europa ums Leben kommen. Die richtige Antwort darauf kann aber nicht die Einstellung der Seenotrettung oder die Abweisung von Schiffen von Geretteten an den europäischen Häfen sein. Will man tatsächlich den Betroffen helfen, so bedarf es neben der stärkeren Unterstützung der Erstasylländer vor allem auch legaler Zugangswege für Schutzsuchende - in tatsächlich nennenswertem Umfang. Und es bedarf „offener Grenzen“: gemeint ist damit, dass Schutzsuchende, die an die Europäische Grenze kommen, auch tatsächlich in einem EU-Land Zugang zu einem fairen, rechtsstaatlichen Asylverfahren bekommen.

Menschen zu kriminalisieren, indem man ihnen vorwirft illegal ins Land zukommen, wenn man vorher alle legalen Zugangswege versperrt hat, ist mehr als zynisch. Und es sollte auch nicht in Vergessenheit geraten, dass die Mehrzahl der Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan kommt, aus Ländern also, in denen Krieg bzw. Bürgerkrieg herrscht und schwerste Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind.

Die Debatte um die Zurückweisung von Asylsuchenden an der deutschen Grenze - sei es im Alleingang oder europäisch abgestimmt - markiert nur einen Zwischenschritt. Denn nur rund 30 Prozent der Asylsuchenden sind solche „Dublin-Fälle“ und wären maximal davon betroffen. Noch größer ist die Gefahr, dass in einer Situation, in der die Staaten nur noch an ihre Einzelinteressen denken („Italy first“, „Germany first“ etc.) und die Furcht vor einer vermeintlich nicht zu bewältigen Flüchtlingsbewegung die Politik prägt, die Menschenrechte und das Grundrecht auf Asyl auf der Strecke bleiben. Um das zu verhindern, bedarf es einer verstärkten Anstrengung der Integration, einer europäisch abgestimmten solidarischen Regelung bei der Flüchtlingsaufnahme und faire Asylverfahren. Das wird aber nur gelingen, wenn die EU-Staaten die Grundwerte der Europäischen Einigung, nämlich die Achtung der Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ernst nehmen.