Interview mit Kalligrafin Marleen Krallmann
Du hast im vergangenen Jahr in unserer Geschäftsstelle des Landesverbandes in Schleswig-Holstein die Buchstaben „Leave no one behind“ in die Fenster geschrieben. Wie ist der Landesverband auf dich aufmerksam geworden?
Ich habe im Stadtbild Kiels schon einige „#leavenoonebehind“s hinterlassen. Gleichzeitig bin ich mit Julia Bousboa aus der Presse- und Öffentlichkeitsabteilung beim Paritätischen in Schleswig-Holstein in Kontakt gewesen. Ich fand die Umsetzung des Hashtags dort sehr schön, weil ich eine ganze Fensterfront beschreiben durfte. D.h. meine Schrift war sehr viel größer als bei den meisten anderen, nämlich über drei Stockwerke. Julia hatte dafür gesorgt, dass auch die anderen Stockwerke mitmachen. Es sitzen ja noch andere Firmen und Institution in diesem Gebäude. Gleichzeitig ist es ganz in der Nähe, von da wo ich arbeite. Wir sitzen im Stadtteil Gaarden, der in Kiel relativ umstritten ist. Es heißt immer, er sei „sozial schwach“. Aus unserer Sicht ist er sozial stark. Deswegen habe ich mich besonders gefreut, dass ich dort hinkommen konnte, um auch den Stadtteil nochmal zu stärken.
Kanntest du den Paritätischen Wohlfahrtsverband insgesamt eigentlich schon vorher und hattest du da schon Verbindungen?
Nein, bisher nicht. Aber ich fühle mich da sehr zu Hause. Mir gefällt das Gleichheitszeichen im Logo. Das ist eins der Dinge, für die ich auch sehr viel arbeite und brenne, nämlich dass alle Menschen gleich sind und gleiche Chancen bekommen. Das muss die Grundvoraussetzung für Demokratie bzw. die Grundvoraussetzung für ein humanes Miteinander und auch nebeneinander sein. Von daher fühle ich mich den Werten sehr zugetan. Ich habe mich damals natürlich informiert, was der Paritätische ist und ob die mit meinen Grundwerten d’accord sind – wie bei allen Häusern, Firmen und Menschen, mit denen ich zusammenarbeite.
Warum eigentlich Kalligrafie als Ausdrucksform? Warum hast du die Schrift gewählt?
Das ist natürlich eine längere Geschichte. Ich habe Kommunikationsdesign mit dem Schwerpunkt Typografie an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel studiert. Dort habe ich auch Medienwissenschaften, Medienforschung und Philosophie vertieft. Da kam bei mir die Frage auf, warum wir immer Probleme mit unseren Handschriften haben. In Deutschland sind nach eigenen Statistiken (ich mache immer eigene Umfragen bei Vorlesungen oder Vorträgen) 70 Prozent der Deutschen unzufrieden mit ihrer Handschrift. Das ist natürlich fatal. Ich habe mich dann eingehend mit der Schriftgeschichte beschäftigt und habe ein Buchskript geschrieben, in dem es über 2500 Jahre europäische bzw. lateinische Schriftgeschichte geht. Seit ein paar Jahren halte ich dazu Vorlesungen. Am Anfang habe ich eigentlich nur Theorie gemacht und erst später selbst geschrieben. Ich bin linkshändig, was übrigens offiziell auch eine Minderheit ist, die auch Diskriminierungen ausgesetzt ist. Damit beschäftige ich mich auch in meinem Arbeitsalltag. Kurzum: Ich habe mich mit der Schulschrift und unserer Schriftgeschichte beschäftigt und habe dann erst mit Calligrafitti begonnen, selbst zu schreiben. Ich habe die traditionellen Schriftformen zwar schon lange im Kopf, aber die Umsetzung braucht Übung. Da war ich viel in Berlin und Kiel in Cafés unterwegs und hab einfach drauf losgeschrieben. Spannenderweise sind Handschrift und Calligrafitti zwei der Formen, die das handschriftliche Schreiben ins heute holen.
Kannst du sagen, was Calligraffiti von Graffiti unterscheidet?
Ja, beim Graffiti wird eher gemalt. Man zeichnet Buchstaben vor und malt sie aus, meistens auf Papier geplant und dann mit Dose umgesetzt. Bei der Kalligrafie geht’s wirklich ums schreiben, in der Bewegung sein, in die man mit Auf- und Abbewegungen der Hand kommt. Das ist für mich ein sehr wichtiger Unterschied. Es gibt dann in dem Zuge im Streetart noch das Stylewriting, was man häufig auch als Tagging betitelt. Das bedeutet, dass Leute ihren Namen irgendwo in die Stadt schreiben. Wenn es wirklich gut ist, kann man es dann auch Stylewriting nennen. Die Kalligrafie ist spezieller, weil man für die meisten Schriften eine breite Feder oder einen breiten Pinsel braucht. Damit schreibe ich meine Sachen am liebsten. Im Calligraffiti nutze ich dann parallel auch einen breiten Marker, mit dem ich den gleichen Zug bekomme, wie mit einer Breitfeder.
Du hast gerade schon gesagt, dass du dich vorher informierst, für wen du arbeitest und würdest dich da schon als politische Akteur*in sehen?
Ja, unbedingt. Es ist mehr denn je wichtig, sich politisch zu positionieren. Als ich die ersten Infos aus dem griechischem Camp Moria auf Lesbos gelesen hatte, konnte ich nicht fassen, wie mit Menschen auf Flucht umgegangen wird, erst recht zu Pandemiezeiten. Mit meiner Aktion wollte ich die Petition „leave no one behind“ von Erik Marquardt unterstützen, die Mitte März 2020 rausging. Ich habe mich sehr schwergetan, als ich das erste „leavenoonebehind“-Fenster geschrieben habe. Da wollte ich erstmal nur Menschen informieren und habe einen Flyer dazu produziert, um einige Fakten für Interessent*innen darzulegen die z.B. auch nicht im Internet unterwegs sind. Das sind hier im Stadtteil vermutlich einige. Und als das Fenster fertig war, waren zwei Freund*innen von mir da und haben gefilmt und Fotos für mich gemacht. Da haben wir schon gedacht, es wird nicht nur ein Fenster bleiben: „Ok, jetzt bin ich öffentlich politisch.“ Ich war vorher auch schon politisch positioniert, aber sich geschäftlich zu positionieren ist noch einmal ein anderer Schritt. Mich parteipolitisch zu positionieren mache ich absichtlich nicht, das könnte schnell nach Marionettenspiel aussehen. Außerdem glaube ich, dass es die Mischung macht, gerade in einer Demokratie.
Eine abstrakte Frage zum Schluss… Inwiefern ist Schrift ein politisches Medium?
Schrift bedeutet immer Inhalt. Das heißt, meiner Meinung nach ist man auch verantwortlich für den Inhalt, wenn man Schrift nutzt. Und das ist eine Problematik zum Beispiel bei Instagram. Da gibt es Schreiber*innen, die einfach nur „A,B,C,D,E …“ schreiben. Da haben die schon ein Medium, das eine so direkte Aussage machen kann und dann nutzen sie es nicht. Nehmen wir jetzt abstrakte Malerei: Da kann man einfach nicht so eine konkrete Aussage machen. Mein Grundsatz ist, wenn ich mit Schrift arbeite, dann muss ich mich auch inhaltlich positionieren. Ob das nun immer politisch ist … da ist dann die Frage, was ist alles politisch? Ist mein Tagebuch politisch?
Bei dieser abstrakten Frage müssten wir Autor*innen heranziehen. Ich möchte Hannah Arendt sagen, wobei sie in der Anti-Rassismus-Debatte wegen rassistischer Aussagen gegenüber PoC umstritten ist. Bei ihr ist jedes Handeln politisch gedacht, weil jedes Handeln oder in dem Fall schreiben intentional positioniert. Wobei das Politisch-Sein bei Arendt auch viel weiter gefasst ist, als die parlamentarische Auseinandersetzung. Die Frage ist, ist dann positionieren und/oder sich äußern immer politisch?
Das Interview führte Philipp Meinert