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Themenoffensive

#EchtGut – Vorfahrt für Gemeinnützigkeit

Vor blauem Himmel steht eine Familie: Oma, Opa, Papa, Mama und ein Kind, sie halten einen Luftballon mit einem Paritätischen Logo und einen Ballon mit einem Herz, sie schauen zufrieden und entschlossen, Oma und Mama recken die Faust in den Himmel.
Der Paritätische und seine zahlreichen Mitgliedsorganisationen aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich sichern den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine wichtige Stütze ist das Prinzip der Gemeinnützigkeit: Gewinne fließen nicht in die Taschen einzelner, sondern gehen dorthin, wo sie gebraucht werden. Wir fordern von der Politik: Vorfahrt für Gemeinnützigkeit gegenüber Profitstreben und Verstaatlichung! Hier informieren wir über unsere Aktivitäten im Rahmen der Themenoffensive "Vorfahrt für Gemeinnützigkeit!" in den Jahren 2022 und 2023.

Interview: Gemeinwohl mal zwei – Agrarpolitik und Wohlfahrt

Die Forderung nach mehr Gemeinwohlorientierung erstreckt sich über viele politische Felder. Wir haben für unser Verbandsmagazin 3/21 zum Schwerpunktthema "Menschen statt Märkte" mehrere Doppelinterviews geführt - mit jeweils zwei Menschen, die sich in ganz unterschiedlichen Bereichen für mehr gemeinnütziges Handeln und Wirtschaften aussprechen.

Elisabeth Fresen ist Landwirtin und im Bundesvorstand der Aktionsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL). Sie beschäftigt sich sowohl praktisch als auch theoretisch damit, wie ihr Berufszweig ökologisch und sozial für Alle wirtschaften kann. Dr. Joachim Rock ist Leiter der Abteilung Sozialpolitik, Arbeit und Europa. Er interessiert sich für Alternativen zum aktuellen Wirtschaftssystem im Neoliberalismus.

Frau Fresen, Herr Rock, was haben Landwirtschaft und Agrarpolitik mit Wohlfahrtspflege gemeinsam?

Fresen: Landwirtschaft und die Agrarpolitik betreffen ja einen Teil der Wirtschaft und in den Händen von uns Bäuerinnen und Bauern liegen ganz wertvolle Ressourcen: der Boden, das Wasser, die Artenvielfalt, das Thema Naturschutz und das Tierwohl. Also all das liegt in unseren Händen und deswegen ist es so wichtig, dass wir unser Wirtschaften an Kriterien des Gemeinwohls ausrichten...

Rock: ...da kann ich gleich anschließen. Gemeinwohlorientierung ist für uns als übergreifende Kategorie in der Wohlfahrtspflege natürlich auch zentral. Ich glaube, da gibt es eine Menge Parallelen. Ich fühle mich in beiden Welten ein bisschen zu Hause, meine Eltern haben einen Hof. Die große Gemeinsamkeit zwischen Wohlfahrtspflege und Landwirtschaft ist, dass beide Bereiche wirklich Werte für die Gesellschaft produzieren. Das ist nicht in allen Bereichen unserer Wirtschaft so gegeben. Denken wir an die Finanzindustrie, die unsere Wirtschaft sehr stark prägt. Landwirtschaft und Wohlfahrtspflege sind tatsächlich von so elementarer Bedeutung, dass es sie überall gibt und geben muss, selbst in der kleinsten Gemeinde, überall in Deutschland .

Frau Fresen, Landwirtschaft schafft Mehrwert per se, die Nahrung, die uns alle nährt. Sie haben aber schon besondere Vorstellungen davon, wie Landwirtschaft besser organisiert werden könnte. Sie sagen explizit, es braucht eigentlich noch viel mehr Gemeinwohlorientierung ganz konkret in der Wirtschaft. Finden die Idee alle Landwirte toll?

Fresen: Nein, es gibt selbstverständlich auch unter Landwirtinnen und Landwirten unterschiedliche Meinungen. Wir sind nicht sozusagen eins. Was uns eint, ist, dass wir abhängig sind von unserer Umgebung. Also auch die ist ein Gemeingut! Klima, sauberes Wasser oder gesunder Boden sind Gemeingüter. Das sind unsere Wirtschaftsgrundlage und wir sind abhängig, dass diese Wirtschaftsgrundlagen geschützt werden. Gleichzeitig halten wir sie auch in unseren Händen und wollen sie möglichst gut in die nächste Generation übergeben. Das ist der eine Aspekt. Deswegen liegt es eigentlich schon im Urinteresse von Bäuerinnen und Bauern, Gemeinwohlleistung zu erbringen, Gemeingüter zu schützen und sogar zu verbessern. Ein neuer interessanter Aspekt, der in den letzten Jahren aufgekommen ist, dass wir mit der Erbringung von Gemeinwohlleistung Geld verdienen können müssen. Es geht nicht, dass wir beispielweise kostenlos klimaschonend wirtschaften und nicht dafür entlohnt werden. Das ist ein neuer Gedanke. Das Problem ist aber, dass wir als Bäuerinnen und Bauern immer spezialisierter arbeiten müssen und dass es dabei unter so einem Druck dazu kommt, dass das Gemeinwohl hinten runterfällt. Daher fordern wir, dass ein Wirtschaften möglich ist, bei dem Gemeinwohlgüter nicht zu Schaden kommen, sondern sie im besten Falle noch aufgebaut und geschützt werden.

Wie ist aktuell so das Verhältnis? Wie viel Bäuerinnen und Bauern sind noch individuell in Deutschland unterwegs und wo sind es nur noch große Agrarkonzerne?

Fresen: Es gibt im Moment ungefähr 270.000 landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland und es werden immer weniger. Wir verlieren jedes Jahr ungefähr drei Prozent der Höfe. Das bedeutet, dass die bestehenden Betriebe immer größer werden. Und da haben wir schon ganz unterschiedliche Strukturen. In Ostdeutschland sind die Betriebe tendenziell größer als in Süddeutschland. Allerdings kann man jetzt nicht sagen: „Ein großer Hof ist immer schlecht und ein kleiner Hof ist immer gut.“ So einfach geht das nicht. Ich habe auch einen relativ großen Betrieb mit 170 Hektar und erbringe sehr hohe Gemeinwohlleistungen, weil ich sehr viel Naturschutz betreibe. Ich halte meine Kühe sehr artgerecht und erbringe noch viele andere Gemeinwohlleistungen. Man kann Gemeinwohl nicht an Betriebsgrößen festmachen. Wir haben viele Bäuerinnen und Bauern und viele Höfe. Vielfalt ist auch Resilienz, Ideenvielfalt. Viele, vielfältige Betriebe bedeuten, dass unser System resilienter ist und mehr Innovation einfach geschieht.

„Vielfalt stärkt die Resilienz“, Vielfalt ist wichtig. Da ist man ja quasi sofort bei den Grundwerten des Paritätischen, Herr Rock. Wie ist das in der Wohlfahrtspflege, sind da Trägervielfalt und Innovationsfähigkeit auch gefährdet durch aktuelle Entwicklungen?

Rock: Ja, die Vielfalt ist auch hier gefährdet, denn in der Wohlfahrtspflege droht im Teil genau das Gleiche, was Elisabeth Fresen am Beispiel der Landwirtschaft beschreiben kann, also dass es Konzentrationsprozesse und große Ketten gibt, die nach immer dem gleichen Muster und immergleichen Standards soziale Arbeit organisieren. In den 19070ern hatten wir in Deutschland über 1.000.000 Höfe, jetzt haben wir nur noch ein Viertel. Und da geht natürlich ein hohes Maß an Vielfalt mit unterschiedlichen Herangehensweisen verloren und genauso droht das auch in der Wohlfahrtspflege. Soziale Arbeit ist eigentlich etwas, das in Koproduktion zwischen dem betroffenen Menschen, der eine Dienstleistung in Anspruch nimmt und dem Menschen der Hilfe leistet, stattfindet, sie ist damit etwas höchst Individuelles und Vielfältiges. Mit unseren über 10.000 Mitgliedsorganisationen im Paritätischen haben wir die Möglichkeit und das Privileg, dass wir ja auch ungefähr über 10.000 verschiedene Herangehensweisen an Soziale Arbeit haben. Und da sind viele spannende neue Sachen, die man sonst gar nicht mehr entdecken würde. So entstehen Innovationen.

Kritiker*innen sagen: Wohlfahrt steht doch gerade den Innovationen im Weg. „Ihr wollt doch bloß Eure Pfründe sichern, wenn Ihr kommerzielle Unternehmen da aus der Erbringung sozialer Leistungen raushalten wollt.“

Rock: Es ist ein ganz merkwürdiges Verständnis. Wirkungsorientierung versucht man heute immer nach vorne zu stellen. Ich habe häufig Anrufe, wo Menschen sagen: „Wir würden Sie gern mit unternehmerischen Ideen für den sozialen Bereich vertraut machen, aber haben Sie keine Angst, wir kommen da nicht mit verrückten Ideen. Das sind alles wirkungsgeprüfte Sachen, die nach bestimmten Mustern ablaufen.“ Und da sage ich: „Das möchte ich gerne nicht. Ich möchte gerade die verrückten Ideen.“ Innovationen entstehen nicht durch Wiederholungen, sondern dadurch, das man das Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze respektiert und fördert. Das ist wie der Unterschied zwischen einer handfesten Monokultur und einer bunten Blumenwiese: Da bringt die bunte Blumenwiese nicht nur das schönere Bild, sondern tatsächlich auch die lebendigere Landschaft.

Herr Rock, Sie kritisieren unter anderem sogenanntes Social- und Greenwashing von „Renditejägern der Gegenwart“, die sich als soziale Unternehmer tarnen. Aber wenn am Ende etwas Gutes für Mensch und Umwelt dabei rumkommt, kann es doch eigentlich dem Menschen egal sein, wie das Unternehmen aufgestellt ist, das mir dann hilft, oder nicht?

Rock: Wenn am Ende etwas Gutes für die Menschen rum kommen würde, dann wäre das natürlich grundsätzlich zu begrüßen. Was ich kritisiere ist, dass damit häufig eine Form der Mimikry, der Verkleidung zur Tarnung, verbunden ist.  Man versucht sich so zu verkleiden, als wäre man tatsächlich ein gemeinwohlorientiertes, ein gemeinnütziges Unternehmen. Man ist es aber nicht, weil tatsächlich die Rendite im Vordergrund steht. Das ist, glaube ich, ein großes Problem z.B. auch für die Ernährungsproduktion, wenn Dinge als Bio dargestellt werden, die tatsächlich damit nichts zu tun haben. Und das ist Teil des Problems auch unseres Wirtschaftssystems.

Frau Fresen, ökologisch orientierten Menschen wird oft vorgeworfen das Soziale nicht mitzudenken. Wie bringen Sie das Soziale in Ihr Konzept ein? Können Sie das kurz umreißen?

Fresen: Zum einen geht es darum, dass die Subventionen, die wir erhalten, eben sozial gerecht gezahlt werden müssen. Wir sind ja ein hochregulierter Wirtschaftssektor, wenn man es so ausdrücken möchte. Also wir bekommen sehr viele Subventionen und die werden im Moment nicht nach sozialen Kriterien ausgezahlt, sondern einfach nach Fläche. Das ist nicht in Ordnung, schon gar nicht in Pandemiezeiten. Da müssen wir uns fragen: Wir haben nur begrenzt Geld und wer bekommt eigentlich Geld und wofür geben wir eigentlich Geld aus? Und dann ist es nicht in Ordnung, wenn große Konzerne, die Investoren gehören, einfach sehr viel Geld bekommen von unseren Steuergeldern. Wir als Aktionsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) fordern, dass Subventionen gedeckelt werden. Es sollte eine Höchstgrenze geben, eine maximale Fördersumme und alles was darüber hinausgehen würde, wird einfach nicht gezahlt. Das ist eine soziale Komponente. Eine andere ist, dass Menschen, die im Lebensmittelsektor arbeiten, also Saisonarbeiter*innen, zum Beispiel in Schlachthöfen, besser bezahlt werden können. Es kann doch nicht sein, dass ich den ganzen Tag schufte und Spargel steche und mir am Ende nur das billigste Fleisch leisten kann. Alle Menschen in Deutschland müssen fair bezahlt werden, so dass sie sich dann auch gute Lebensmittel leisten können. Und da kommen wir auch nochmal zu etwas anderem. Wenn Bäuerinnen und Bauern keine fairen Preise bekommen, können auch Bäuerinnen und Bauern sich keine guten Lebensmittel leisten und können auch nicht vorsorgen für das Alter. Sie können sich auch nicht gut um sich selbst kümmern. Also die soziale Frage betrifft uns Bäuerinnen und Bauern auf mehreren Ebenen und wir versuchen das eben auch als AbL auf verschiedenen Ebenen zu adressieren.

Und wie sieht es auf der Verbraucher*innenseite aus? Macht es die Produkte im Laden im Endeffekt teuer? Kann es dann sein, dass sich viele auch den Liter Milch nicht mehr leisten können?

Fresen: Ja und nein. Lebensmittel müssten tatsächlich teurer sein, damit Bäuerinnen und Bauern fair entlohnt werden. Gleichzeitig müssen aber auch Menschen genügend Geld verdienen und die soziale Grundsicherung muss hoch genug sein, damit auch diese Menschen sich Milch aus artgerechter Haltung leisten können. Und was wir nicht vergessen dürfen ist, dass wir alle Steuergelder zahlen, die in Form von Subventionen auf die Betriebe kommen.. Und diese Subventionen sollten im Sinne der Gesellschaft eingesetzt werden. Die Gesellschaft will artgerechte Tierhaltung. Die Gesellschaft will vielfältige Bauernhöfe. Sie will nachhaltige Produktion, Wasserschutz, Klimaschutz. Und wir können das als Bäuerinnen und Bauern. Wenn man all diese verschiedenen Komponenten beachtet oder nutzt, dann werden Lebensmittel mit Sicherheit teurer sein, aber auch nicht unerschwinglich.

Sie stellen konkrete Modelle vor, wie das praktisch umgesetzt werden könnte. Sie sprechen von der solidarischen Landwirtschaft, von der Regionalwert-AG. Hört sich jetzt für Leute, die nicht tagtäglich in dem Bereich sind, irgendwie cool an, aber vielleicht skizzieren Sie kurz, was verbirgt sich dahinter?

Fresen: Das sind zwei Konzepte, an denen wir das exemplarisch zeigen wollten. Es gibt auch noch andere Lösungen, aber diese sind quasi sehr bildlich. Die solidarische Landwirtschaft funktioniert so: Ich würde als Bäuerin sagen: Hey, hier ist mein Hof. Ich habe Arbeitskapazität. Ich habe Boden. Ich habe Wissen. Beispielsweise 100 Menschen können sich bei mir Anteile kaufen und würden mir, bevor ich überhaupt anfange zu arbeiten, zusichern, dass sie mir monatlich einen gewissen Geldbetrag zahlen und dafür werde ich alles, was ich auf dem Hof produziere durch diese 100 Menschen teilen. Ich habe ein sicheres Einkommen und die Menschen, die diese Anteile haben, haben Einfluss auf die Produktion. Sie können mitbestimmen, was ich anbauen soll, nach welchen Standards ich arbeite, welche Sorten ich einsetze und so weiter. Sie haben also direkten Einfluss auf die Arbeit, die geschieht und profitieren davon, wenn es mal eine sehr gute Ernte gibt, tragen aber auch mit, wenn etwas mal schiefläuft. Und solche solidarischen Höfe bzw. Höfe mit solidarischer Landwirtschaft stellen sich häufig sehr vielfältig auf, weil das einfach Resilienz bedeutet. D.h. niemals würde ein Hof nur Kartoffeln anbauen. Erstmal ist es gar nicht schön für die Mitglieder, wenn sie nur Kartoffeln essen können und dann tragen eben auch alle das Risiko und sagen: „Hey, nein bloß nicht nur Kartoffeln. Wir brauchen ja 20 verschiedene Gemüsesorten und am besten haben wir noch einen Hühnerstall usw.“ Also das wird sehr bildlich, sehr handfest und alle arbeiten direkt zusammen. Da ist dann auch eine Verbindung und das ist die große Stärke der solidarischen Landwirtschaft.

Eine Regionalwert AG funktioniert so, dass in einem größeren Raum, also über mehrere Landkreise, eine Regionalwert AG geschaffen wird. Dort können dann Betriebe Mitglied werden, also Höfe. Es können aber auch Restaurants, Schlachthöfe, Molkereien und Lebensmitteleinzelhandel Mitglied werden. Alle dort bauen sich ein Netzwerk auf. Ich würde dann z. B. mein Fleisch an ein Restaurant liefern, das ebenfalls in der Regionalwert AG ist. Und das Tolle ist: die Menschen aus dieser Region können sich Anteile kaufen. Ihr Geld also sehr sinnvoll einsetzen und bekommen als Dividende Genussscheine. Sie können dann mit der Dividende bei mir im Hofladen einkaufen, ins Restaurant gehen oder sich das Saatgut von einem Saatgutproduzenten kaufen. Das ist wirklich die Ernährungswende vor Ort umgesetzt. So schaffen wir uns vor Ort ein tolles Netzwerk mit regionaler Lebensmittelerzeugung.

Herr Rock, Sie machen sich für eine „Bedarfswirtschaft“ stark. Passt das, was Elisabeth Fresen erzählt, zu diesen Vorstellungen?

Rock: Der Begriff der Bedarfswirtschaft bezeichnet eine Wirtschaft, die sich an den Bedarfen der Menschen orientiert und nicht am materiellen Gewinn. Er bezeichnet Wirtschaftsbereiche, wo es eben nicht um Effizienz geht, sondern wo Nichteffizienz zum Teil dazu gehört, damit die Dinge auch richtig funktionieren. Denken wir an das Rettungswesen. Wenn wir Rettungswagen so auslasten würden, dass jeder Rettungswagen wirklich dauernd durch die Gegend fahren würde, dann wäre das wirtschaftlich ungemein effizient. Der wäre aber dann nicht in 5 Minuten da, wenn mal ein Verkehrsunfall passiert. Damit würde er seinen Zweck verfehlen, gerade wegen der Effizienz. Und genauso haben wir viele Bereiche im sozialen Bereich, die ein Stück Nichteffizienz sich leisten müssen, um zu funktionieren. Es wäre unheimlich effizient, wenn unsere Intensivstationen immer maximal ausgelastet wären. Dann könnten sie aber gerade solche Herausforderungen, wie wir sie jetzt leider sehr eindrücklich erfahren, gar nicht mehr bewältigen. Diese Bereiche der Bedarfswirtschaft zeigen, dass es Bereiche geben muss, die nicht nach strengen marktwirtschaftlichen Prinzipien funktionieren dürfen. Und wenn man jetzt im Supermarkt eine extra teure Milch kaufen muss, die mit einem zusätzlichen Siegel für einen fairen Anteil des Produzenten wirbt, dann ist das ja Ausdruck eines unheimlichen Marktversagens. Der Markt selbst stellt diesen fairen Preis für die Produzenten längst nicht mehr her. Das Geld geht woanders hin. Das zeigt, dass wir von dieser Form der Profitwirtschaft wegkommen müssen. Die Bedarfswirtschaft ist ein Modell, um davon wegzukommen und hat deshalb auch hohe Parallelen zur solidarischen Landwirtschaft.

Eins möchte ich in dem Zusammenhang noch betonen:  Es wird jetzt sehr viel auch in den Wirtschaftsteilen von konservativen Zeitungen kritisiert, dass Enteignung drohen wird. Einen Bereich haben wir schon lange enteignet. Die Landwirtschaft! Mir war das auch selbst bis vor einigen Tagen gar nicht klar, aber 60 Prozent der Agrarflächen in Deutschland gehören gar nicht mehr Landwirten. Die gehören inzwischen Investoren, die gehören großen Unternehmen und das hat zu einem erheblichen Preisanstieg und Spekulationen geführt. Innerhalb der letzten 15 Jahre sind die Preise für Agrarflächen um das doppelte gestiegen. Land ist inzwischen auch ein Spekulationsobjekt geworden und das wieder tatsächlich an den Bedürfnissen der Menschen gerade vor Ort auszurichten ist ganz, ganz wichtig...

Land und Boden, gute Stichworte. Frau Fresen, also im Prinzip ist ja nun jedes Quadratnanometerchen auf dieser Erde verplant und in Deutschland sowieso. Wenn Sie jetzt überall solidarische Landwirtschaftsnetzwerke initiieren wollen, brauchen Sie ja noch viel mehr Ackerboden als Sie jetzt gerade individuell haben. Oder andere brauchen die Ackerböden. Die Preise für Ackerboden haben sich in den letzten 15 Jahren verdreifacht. Wie wollen Sie denn das ganze teure Land von all den Spekulanten wieder zurückholen?

Fresen: Ich denke am charmantesten und  grundlegendsten wäre es, das Übel an der Wurzel anzupacken. Also warum ist Land so teuer geworden? Das hat ja verschiedene Gründe. Zum einen ist es Spekulationsobjekt. Es ist eben reizvoll, dort im Moment Geld anzulegen. Das müsste doch eigentlich verboten sein. Eigentlich dürfte es doch nur möglich sein, Land zu kaufen, wenn man darauf nachhaltig wirtschaftet. Das ist das eine. Aber warum können eigentlich Konzerne Land kaufen und es damit Bäuerinnen und Bauern wegnehmen? Da ist auch gerade in Ostdeutschland nach der Wende viel schiefgelaufen. Dann steigen Pachtpreise auch, weil wir viel zu viele Nährstoffe haben in Deutschland und manche Betriebe einfach Gülle oder andere Wirtschaftsdünger, so aus der Hühnerhaltung z.B., loswerden müssen. Die müssen irgendwie auf das Feld und es gibt eben eine Regulation, weil das Grundwasser bereits verschmutzt ist. Da werden Höchstpreise geboten, damit ich irgendwo meine Gülle oder irgendwo mein Substrat aus der Biogasanlage loswerde. Das muss irgendwo richtlinienkonform verklappt werden. Dadurch steigen auch Landpreise. Genauso steigen Landpreise, weil Verpächter oder Verkäufer wissen: „Hey du kriegst da übrigens noch 300 Euro pro Hektar Subventionen darauf, ohne dass Du dafür irgendetwas machst. Reiche die doch mal bitte an mich durch.“ Das sind verschiedene Gründe, warum Landpreise zum Verkauf und zu Verpachtung steigen. Das führt dazu, dass es schwierig ist als bäuerlicher Betrieb überhaupt an Land zukommen und noch viel schwieriger ist es, für junge Menschen, die nicht erben, überhaupt einen neuen Betrieb zu gründen. Für die ist es quasi unmöglich. Manche Landwirtschaftskammern tun gar nichts. Die hatten noch nie den Vorgang „Betriebsgründung“. Die kennen nur „Hofübernahme“ oder „Hofschließung“. Ich habe hochqualifizierte Freundinnen und Freunde. Sie haben einen Plan, was sie machen wollen, aber kommen einfach nicht an das Land, um eine Grundlage zu bekommen. Da werden 20 Hektar lieber an den Großbetrieb hingeschoben, als dass ein junger Mensch eine Existenz gründen kann. Die Ursachen sind verschieden und die Wirkung der hohen Preise ist wirklich schlimm.

Herr Rock, gemeinnützige Organisationen sind weit überwiegend von Teams organisiert, etwa von den Vereinsvorständen.  Diese Organisationen seien kleine Demokratien, sagen Sie gern. Sie fordern eine Stärkung der sozialen Bewegung und eine Repolitisierung des sozialen Nahraums. Was genau meinen Sie damit?

Rock: Ich finde in der Tat, dass es die besondere Qualität, nicht nur in einer Demokratie zu leben, sondern auch als Organisation Demokratie zu leben, gerade in der Wohlfahrtspflege gibt. Unternehmen sind immer Strukturen, die meistens wirtschaftlichen Imperativen folgen. Meistens gibt es einen Unternehmer oder auch Aktionäre, die dann in einer sehr abstrakten Art und Weise die Richtung des ganzen bestimmen.In der Freien Wohlfahrtspflege sind es immer Vereine oder ähnliche kollektive Organisationsformen. Es sind Menschen, die gewählt sind, die sich zusammen tun, die von einem gemeinsamen Ideal auch bewegt sind. Das ist das eine. Das andere ist, dass die dann auch gemeinsam die Erfahrung machen, dass ihr Engagement tatsächlich wirkt. Und gerade diese gemeinsame Wirksamkeitserfahrung braucht es viel stärker. Gerade viele einkommensärmere Menschen habenlängst nicht mehr das Gefühl, dass sie etwas ändern können an sozialen Verhältnissen. Und deshalb sind es vereinsmäßige Arrangements, die uns helfen können, Demokratie wieder stärker einzuüben. Vereinsarbeit und auch solidarische landwirtschaftlich Engagementformen wirken vor Ort und halten den sozialen Zusammenhalt vor Ort aufrecht,

Einkommensarme Menschen, die sich schon komplett abgehängt fühlen und politisch vielleicht auch frustriert sind, an die musste ich vorhin auch denken als Frau Fresen von den Genussscheinen in der Regionalwert AG sprach, die man sich kaufen kann. Einkommensarme Menschen, die von Ihren Vorschlägen lesen und hören, wie würde Sie denen Mut machen sich auch einzubringen und sich zu engagieren?

Fresen: Einen wichtigen Punkt habe ich vorhin bei der solidarischen Landwirtschaft vergessen. Nämlich, dass Solidarität nicht nur bedeutet, dass die Menschen, die da mitmachen, mir all Bäuerin ein festen Einkommen zahlen und ich dafür meine ganze Ernte mit ihnen teile. Nein, es ist auch so, dass es Bietrunden gibt. Also, ich sage, ich brauche so und so viele tausend Euro im Jahr. Wie kommen die denn zustande? Und dann kann eben die Familie mit drei Kindern weniger in den Topf legen als z.B. das Rentnerehepaar. Die können dann mehr zahlen. Das bedeutet auch, dass nicht alle Menschen gleich viel zahlen, sondern alle Menschen so viel zahlen, wie sie können. Und das kann dazu führen, dass eine junge Familie mit vier Kindern und einem geringen Einkommen sehr viel weniger zahlt, aber viel mehr Lebensmittel bekommt als z.B. das Rentnerpaar, das gut verdient, mehr reingibt, als es kann, aber eben weniger Lebensmittel braucht. Das ist auch Teil des Solidarprinzips und eine Stärke der solidarischen Landwirtschaft.

Rock: Ich denke man unterschätzt häufig auch, dass es bei vielen Betroffenen der Alltag ist, dass sie sich selbst Nahrungsmittel anbauen. Gerade bei einkommensarmen Menschen in strukturschwachen ländlichen Regionen gehört es doch dazu, dass sie zur Ergänzung der häufig schmalen Renten oder von anderen schmalen Geldleistungen  selbst Kartoffeln, Gemüse oder Salat  anbauen. Das ist weit verbreitet. Und ansonsten ist gesunde Ernährung natürlich auch etwas, was man sich leisten können muss.. Häufig wird dann immer einkommensarmen Menschen unterstellt, dass sie eine Vorliebe so zu Konservennahrungsmitteln haben. Aber das ist ja auch den organisatorischen Zwängen und den ökonomischen Verhältnissen geschuldet. Eine Familie, die kein Auto zur Verfügung hat, kann sich frisches Gemüse nicht mal eben in der Stadt holen. Sie muss darauf achten, vor allem haltbare, preiswerte Lebensmittel zu haben, und da landet man dann schnell bei der Konserve – nicht aus Lust, sondern weil man muss.  Grundsicherungsberechtigte trifft das besonders. Daraus folgt, wir müssen schlicht für mehr Einkommen, mehr Geld für diese Menschen streiten, um ihnen zu ermöglichen, sich auch eben diese Lebensmittel, die möglichst regional bäuerlich dann hergestellt werden, leisten zu können.

Kommen wir zur letzten Frage: Herr Rock, müssen wir das Rad einfach nur zurückdrehen zur „guten alten Zeit“, bevor der Neoliberalismus seinen Durchmarsch hatte?

Rock: Nein, wir können das Rad nicht zurückdrehen, aber was wir uns bewusst machen müssen ist, dass wir vieles, was wir heute eigentlich nötig hätten, früher schon einmal hatten. Nehmen wir die Tarife im Pflegebereich. Das war damals in den Achtziger Jahren schon Realität, dass Menschen die in der Pflege tätig sind, selbstverständlich nach dem Tarif des öffentlichen Dienstes bezahlt wurden. Das hat man aus Kostengründen, aus Effizienzgründen in den Neunziger Jahren, die sehr neoliberal geprägt waren, abgeschafft. Und heute haben viele junge Menschen häufig gar nicht mehr das Bewusstsein dafür, dass es früher alles schon einmal anders funktionierte. Dieses Bewusstsein hochzuhalten, dass es anders sein kann, dass es eben nicht so sein muss wie das Wirtschaftssystem uns gerade suggeriert. Das ist, denke ich, was ganz wichtig ist, damit wir daraus alternative Ideen, Innovationen und das Bewusstsein für unsere Möglichkeiten weiter entwickeln.

Das Interview führten Gwendolyn Stilling und Philipp Meinert im Mai 2021.