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Themenoffensive

#EchtGut – Vorfahrt für Gemeinnützigkeit

Vor blauem Himmel steht eine Familie: Oma, Opa, Papa, Mama und ein Kind, sie halten einen Luftballon mit einem Paritätischen Logo und einen Ballon mit einem Herz, sie schauen zufrieden und entschlossen, Oma und Mama recken die Faust in den Himmel.
Der Paritätische und seine zahlreichen Mitgliedsorganisationen aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich sichern den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine wichtige Stütze ist das Prinzip der Gemeinnützigkeit: Gewinne fließen nicht in die Taschen einzelner, sondern gehen dorthin, wo sie gebraucht werden. Wir fordern von der Politik: Vorfahrt für Gemeinnützigkeit gegenüber Profitstreben und Verstaatlichung! Hier informieren wir über unsere Aktivitäten im Rahmen der Themenoffensive "Vorfahrt für Gemeinnützigkeit!" in den Jahren 2022 und 2023.

Interview: Gemeinwohl mal zwei – Dorfgemeinschaft und Bürgerenergie

Die Forderung nach mehr Gemeinwohlorientierung erstreckt sich über viele politische Felder. Wir haben für unser Verbandsmagazin 3/21 zum Schwerpunktthema "Menschen statt Märkte" mehrere Doppelinterviews geführt - mit jeweils zwei Menschen, die sich in ganz unterschiedlichen Bereichen für mehr gemeinnütziges Handeln und Wirtschaften aussprechen.

Mara Dehmer ist Referentin für Kommunale Sozialpolitik beim Paritätischen Gesamtverband und interessiert sich besonders für die Möglichkeiten gemeinwohlorientiertes Handeln im ländlichen Raum. Olaf Bandt ist Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) und ein großer Verfechter der Bürgerenergie, also der lokalen Erzeugung von Energie vor Ort, unabhängig von großen Konzernen.

Frau Dehmer, Herr Bandt, wo liegen Ihrer Meinung nach die Überschneidungen in ihren Themenfeldern Bürgerenergie bzw. ländlicher Raum in Bezug auf das Gemeinwohl?

Dehmer: Spontan denke ich an die viele alternative Energie, die im ländlichen Raum produziert wird, sowie an alternative Konzepte der Energiewirtschaft, die oft im ländlichen Raum angesiedelt sind. Das fällt mir als erste Brücke zwischen den Themen ein. Diesen Faden kann ich weiterspinnen. Es gibt auch viel Gegenwind, aber auch viele Anschlüsse an ländliche Traditionen, wie man gemeinschaftlich und gemeinwirtschaftlich Dinge organisiert.

Bandt: Aus meiner Perspektive ist die nicht gewinnorientierte Bürgerenergie, bei der es ja um den Ausbau der Erneuerbaren Energien und damit um Klimaschutz geht, eine absolut gemeinwohlorientierte Zielstellung. Dazu kommt allerdings noch, dass es nicht nur bei der ökologischen Technologie bleibt, sondern dass es zum Konzept gehört, dass Menschen es miteinander vollbringen – einerseits in Bürgergenossenschaften, aber auch in gemeinnützigen GmbHs. Je nachdem, was gerade passt. Neu ist außerdem, dass sie es in ihren lokalen Räumen gemeinsam verbrauchen und dafür auch noch niedrigere Energiepreise zahlen, als würde der Strom aus ganz Deutschland dahin geführt. Das erfordert viel Gemeinschaftsinitiative, schafft ein Miteinander und einen Zusammenhalt im ländlichen Raum, aber auch in der Stadt.

Frau Dehmer, können Sie mir als überzeugten Stadtmenschen den Reiz des ländlichen Raumes erklären?

Dehmer: Ich bin ja auch ein Stadtmensch und überzeugt. Für meine Mitautorin Cornelia Harrer und mich war auch der Ausgangspunkt für unseren Text, dass wir beide überzeugte Städterinnen sind. Wir haben uns aber von den vielen Reizen des Landlebens überzeugen lassen. Das erste, was auf der Hand liegt, ist wohl das viele Grün und der der Platz und die Weite, die man auf dem Land hat. Für Städter*innen ist es ja was ganz besonderes, den Blick auch mal weit schweifen zu lassen. Darüber hinaus ist Landleben etwas, was mit Freiräumen und Zugehörigkeit zu tun hat. Heute bietet das Land fast im gleichen Maße Freiraum, wie es die Stadt bietet: Für neue Ideen, mehr Luft mit neuem Platz und Mitstreiter*innen. Auf der anderen Seite gibt es mehr Verbundenheit. In der Typisierung der Bewohner*innen des ländlichen Raumes finden wir ja einerseits „Stadtflüchtlinge“ und auch Rückkehrer*innen, die beispielsweise zum Studieren mal in der Stadt gewohnt haben. Letztendlich ist der Reiz des Landlebens aber auch etwas sehr Individuelles. Es gibt sehr viele Stereotypen und Zuschreibungen zum ländlichen Raum. Wir haben aber den Eindruck, dass diese sich mehr und mehr auflösen. Es ist gar nicht mehr so klar, was das Leben in der Stadt und auf dem Land jeweils bedeutet. Unterschiede gibt es eigentlich nur noch bei den Einkaufsmöglichkeiten und der Bustaktung. Ansonsten verschwimmt es zunehmend.

Herr Bandt, Sie vergleichen die Bürgerenergie mit dem Creative Commons-Projekt Wikipedia. Können Sie erklären, wie Sie das meinen?

Bandt: Wikipedia lebt von einem unbezahlten Engagement der Menschen und schafft ein Wissenssystem, welches normalerweise unbezahlbar wäre –  und das auch noch in einem System ohne hierarchische Kontrolle. Es funktioniert dadurch, dass Menschen gegenseitig die Artikel besser machen und letztendlich kontrollieren, aber eben nicht zentralistisch wie bei einem Lexikon. Das ist bei Wikipedia hervorragend gelungen und hat eine weltweite Kraft gewonnen. Die Idee der Bürgerenergie ist auch, dass Menschen wieder befähigt werden, Strom aus Wind und Sonne nicht in Abhängigkeit von großen Konzernen zu produzieren, sondern für sich selbst. So als würde man gemeinsam einen Garten bewirtschaften und die Erzeugnisse gemeinsam konsumieren. Das ist eine weitere Parallele: Bei Wikipedia produzieren Menschen Wissen, nutzen es aber auch gleichzeitig. Und es gibt viele, die nicht mitproduzieren, aber trotzdem das Wissen nutzen können. Das ist bei der Bürgerenergie auch eine Möglichkeit. Man muss nicht die gesamte Energie, die man gemeinsam in einer Energiegenossenschaft erzeugt, aufbrauchen. Man kann es auch an den Markt geben. Am Ende profitiert die ganze Gesellschaft davon, dass sich wenige zusammentun und gemeinsam Photovoltaik oder Windräder bauen.

Nun ist Energiepolitik auch manchmal ein heißes Eisen, gerade in den ländlichen Gebieten, wenn man an Demonstrationen gegen Windräder denkt. Ist da die Landbevölkerung noch nicht weit genug?

Bandt: Nach unserer Erfahrung hat die im Jahr 2000 mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz gestartete Energiewende dort, wo im ländlichen Raum Windräder von Bürgerenergie-Initiativen betrieben wurden, wesentlich mehr Akzeptanz bekommen als dort, wo Konzerne oder Investoren hingekommen sind und einfach ein Windrad bauen wollten. Davon profitiert ja auch nur derjenige, der dafür sein Land hergibt. Bei den Bürgerenergiegenossenschaften haben die Menschen in der Region oder dem Dorf gemeinsam eine Anlage und profitieren unmittelbar. Das verändert die Debatte komplett. Dramatischerweise wurde diese Möglichkeit in den vergangenen Jahren immer weiter erschwert. Wir müssen wieder mehr Bürgerenergie möglich machen und ich bin mir sicher, das sich dann auch wieder Debatten, die wir momentan um erneuerbare Energien haben, auflösen.

Dehmer: Ich möchte noch ergänzen, dass man natürlich nicht pauschal sagen kann, dass die Landbevölkerung dagegen wäre. Es gibt ja überall Möglichkeiten, gegen etwas zu mobilisieren. Ich teile da auch die Einschätzung von Herrn Bandt, dass es viel mit Kommunikation zu tun hat und wie man im Dialog auftritt. Es hat vielleicht auch etwas damit zu tun, inwiefern wir Stadt und Land stärker zusammendenken. Es gibt dann oft die Befürchtung: Die anderen brauchen es, aber dann soll es bei uns stehen. So ist es ja nicht. In vielerlei sind Land und Stadt voneinander abhängig und existieren gemeinsam. Man sollte sowieso viel mehr nach dem Gemeinsamen suchen.

Herr Bandt, ist die Energiewende eine Chance für die Bürgerenergie oder liegt die Energiepolitik zu sehr in den Händen der Energiekonzerne?

Bandt: In den ersten Jahren war es so, dass die Energiewende in Form von Windkraftanlagen zur Hälfte in der Hand von Bürgerenergie-Initiativen war. In den letzten Jahren wurde das weiter erschwert, so dass es für viele inzwischen uninteressant geworden ist. Daher stagniert diese Zahl und der Zubau jetzt findet durch große Konzerne und Investoren statt. Das ist ein Problem, weil die ja auf die bereits geschilderten Vorbehalte treffen. Und einige stimmen ja auch: Es finden Landschaftsveränderungen statt und wenn ich direkt neben einem Windrad wohne, kann das durchaus eine Belastung sein. Das ist natürlich kein Treiber für eine Energiewende. Wir versprechen uns von so einer Bürgerenergiewende, dass wir viel schneller mit dem notwendigen Ausbau erneuerbarer Energien vorankommen, weil wir dann das Interesse dort haben, wo die Anlagen stehen. Man muss es so ausgestalten, dass die Menschen und nicht die Investoren an der Börse etwas davon haben beim Ausbau der Erneuerbaren.

Frau Dehmer, die stellen dem Land eine ganz gute Zukunftsprognose aus. Nun wurde durch Corona ja das Home Office entdeckt und sowohl Arbeitnehmer*innen als auch Arbeitgeber*innen sehen darin Vorteile. Wie wird sich das auf das Stadt-Land-Verhältnis auswirken. Stehen wir vor einer Stadtflucht?

Dehmer: Wenn wir zurückschauen gibt es eigentlich immer Wellenbewegungen im Verhältnis Stadt und Land. Die 2000er Jahre waren durch einen starken Urbanisierungstrend gekennzeichnet und einer Zunahme der Binnenwanderung in die Städte. Jetzt ist es eher umgekehrt. Es gibt Anzeichen für einen Trend zur Suburbanisierung. Da muss man aber auch nochmal genau hinschauen, was eigentlich der ländliche Raum ist. Derzeit profitiert vor allem der Stadtrand, auch Speckgürtel genannt, wie man an den steigenden Immobilienpreisen dort sehen kann. Der dehnt sich immer weiter aus, also es profitiert nicht unbedingt der klassische ländliche Raum. Das bezieht sich vor allem auf Binnenwanderung. Der internationale Zuzug findet weiterhin in die Großstädte statt und deswegen wachsen sie auch weiter. Trends und Wellen wird es immer geben. Die Struktur in Deutschland ist polyzentral, also alles existiert nebeneinander: Große, mittlere und kleine Städte sowie der ländliche Raum. Und erstmal ist davon auszugehen, dass dieses Nebeneinander bestehen bleibt. Und natürlich ist auch nicht jeder ländliche Raum gleich. Auch da gibt es Regionen, die attraktiver sind als andere. Das hängt zum Beispiel von Jobangeboten ab, aber auch ganz zentral von der Infrastruktur, insbesondere auch sozialen Diensten und Angeboten und ob es vor Ort Engagement, Initiativen und sowohl Lust als auch Möglichkeiten gibt, etwas mitzugestalten. Das ist es, was Leute anzieht und attraktiv ist.

Sie schreiben auch, das Modell des Dorfladens etabliert sich zunehmend dort, wo der klassische Supermarkt mehr und mehr verschwindet und dann durch ein genossenschaftliches Modell ersetzt werden muss. Wo Menschen sind, werden aber doch immer Lebensmittel gebraucht Warum zieht sich ausgerechnet hier der Kapitalismus so zurück?

Dehmer: Das finde ich manchmal auch nicht so eindeutig. Die Supermärkte sind natürlich daran interessiert, einen möglichst großen Raum einzunehmen und es gab auch lange einen Trend in den Kommunen, alles auf die sogenannte „grüne Wiese“ zu stellen, also große Gewerbeflächen auf dem Land oder außerhalb der Städte auszuweisen. Das sind auch attraktive Orte für einen großen Markt, aber die Kaufkraft in Dörfern ist nicht immer so groß. Das Charmante an den Dorfläden ist ja, dass es um mehr als um die Versorgung mit Lebensmitteln geht. Er ist ja auch die Seele des Dorfes, in dem man sich trifft, plaudert und etwas voneinander mitbekommt. Das ist die Idee von den Dorfläden: Eine Einkaufsmöglichkeit, oft noch mit anderen sozialen Dienstleistungen, aber auch ein Ort der Begegnung zu sein.

Bandt: Letztendlich ist ja derzeit das Credo des Neoliberalismus, dass wir uns als Gesellschaft weder einen Lebensmittelladen auf dem Land, noch eine Landwirtschaft leisten können, die gerecht mit Tieren umgeht. Am Ende heißt es immer: „Das können wir uns nicht leisten!“ In der letzten Konsequenz heißt es dann, dass man weder die Läden, noch die Menschen in der Landwirtschaft braucht. Das ist die nächste Stufe. Es wird immer weiter technisiert, dann bräuchte man auch keine Menschen mehr im ländlichen Raum. Damit würde man sich die Lebensgrundlage abschneiden und die Dorfstruktur aussterben lassen. Das bringt Frau Dehmer ja auch gut auf den Punkt: Der Kapitalismus sieht es derzeit nicht mehr vor, dass da Menschen leben. Und dafür müssen wir kämpfen. Wir brauchen eine Perspektive zur Gestaltung für Menschen im dörflichen Raum als Gegenentwurf zu „Immer billiger. Immer schneller, immer mehr“

Nun sind solche Konzepte aber auch relativ voraussetzungsreich. Also die Menschen müssen schon mitmachen. Aber wenn es mir jetzt egal ist, solange mein Strom aus der Steckdose kommt und ich mit meinem Auto eben in den nächsten Supermarkt fahren kann: Wie kann man die Menschen denn bewegen, sich in der Dorfgemeinschaft oder einem Energieprojekt einzubringen?

Bandt: Zunächst einmal brauchen wir politische Rahmenbedingungen. Die Europäische Union schreibt das sogar vor. Sie hat eine Richtlinie für den Ausbau der erneuerbaren Energien, in der Bürgerenergien eine große Rolle zugewiesen wird. Und das muss Deutschland in nationales Recht umsetzten. Damit hätte man eine Bedingung. Man braucht natürlich Strukturen, weil man das nicht ganz an den Energiemärkten vorbei machen kann. Wenn es das dann gibt, zeigt die Erfahrung im ländlichen Raum, dass das eine verbindende Perspektive sein kann, wenn Menschen nicht mehr von einem der vier großen Stromerzeuger in Deutschland abhängen wollen. Warum sollen sie über 30 Cent pro Kilowattstunde bezahlen, wenn der Strom für 10 Cent selbst gemacht werden kann? Wo das gelungen ist, berichten auch viele, dass sie abends nicht mehr allein vor ihren Fernsehern gesessen, sondern gemeinsam das Energienetz geplant haben. Da waren schichtübergreifend alle dabei. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, kann man das initiieren. Und was ist wichtiger, wenn nicht Klimaschutz? Und es wird ja auch finanziell gefördert. Dann sollten wir jetzt auch mal den Bürgerwillen freilassen und nicht mit Bürokratie behindern. Dafür braucht es auch veränderte Mehrheiten nach der Bundestagswahl.

Da muss ich noch einmal nachfragen: Dass der Strompreis deutlich sinkt, hat mich hellhörig gemacht, Herr Bandt. Denn hohe Strompreise sind ja auch ein soziales Problem. Und ein klassischer Vorbehalt ist ja, dass platt gesagt „Öko“ eher was für die Besserverdienenden ist. Muss man damit aufräumen?

Bandt: Die Prosumergemeinschaft, die Energie erzeugt und auch nutzt, wird von Netzentgelten befreit, die sich danach berechnen, dass ganz Deutschland eine Kupferplatte ist, wo der Strom beliebig hin- und hertransportiert wird, und die Kosten dafür stecken im Strompreis. Das sind erhebliche Summen. Wenn ein Großteil des Stromes direkt in der Region erzeugt und verteilt wird, benötigt man weniger Hochspannungsmasten und man könnte Netzentgelte in diesen Gemeinden reduzieren und so würde es günstiger. Das ist kein reiner Altruismus und nicht nur klimaschonend, es sollte sich auch finanziell lohnen für die Menschen.

Frau Dehmer, und wie sieht es mit der Bereitschaft zum Engagement für die Dorfgemeinschaft insgesamt aus? Welche Rahmenbedingungen braucht es, um diese zu fördern?

Dehmer: Wir brauchen vor allem Rahmenbedingungen, die Engagement und Gestaltung durch Bürger*innen ermöglichen. Nicht dazu gehören beispielsweise Gebietsreformen, die aus vermeintlichen Effizienzgründen dazu führen, das immer mehr Gemeinden politisch und administrativ zusammengelegt werden. Da stoßen wir im ländlichen Raum immer wieder drauf – im Ergebnis heißt das oft, dass Verwaltung und Politik eingedampft wird und dann sprichwörtlich auch noch der Briefkasten abgeschraubt wird. Das kann zu einem unheimlichen Entwertungsgefühl führen. Und egal ob auf dem Land oder in der Stadt: Engagement braucht immer Unterstützung. Der Einzelkämpfer oder die Einzelkämpferin kann nichts ausrichten. Dafür ist auch eine funktionierende Daseinsvorsorge und soziale Infrastruktur wichtig. Man muss die Menschen aber auch nicht zum Jagen tragen. Unsere Erfahrung ist, dass viele Menschen sich gerne dort engagieren, wo sie wohnen oder andersherum, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, braucht man die Leute nicht erst animieren, sich zu engagieren.

Das Interview führte Philipp Meinert im Mai 2021.