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Themenoffensive

#EchtGut – Vorfahrt für Gemeinnützigkeit

Vor blauem Himmel steht eine Familie: Oma, Opa, Papa, Mama und ein Kind, sie halten einen Luftballon mit einem Paritätischen Logo und einen Ballon mit einem Herz, sie schauen zufrieden und entschlossen, Oma und Mama recken die Faust in den Himmel.
Der Paritätische und seine zahlreichen Mitgliedsorganisationen aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich sichern den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine wichtige Stütze ist das Prinzip der Gemeinnützigkeit: Gewinne fließen nicht in die Taschen einzelner, sondern gehen dorthin, wo sie gebraucht werden. Wir fordern von der Politik: Vorfahrt für Gemeinnützigkeit gegenüber Profitstreben und Verstaatlichung! Hier informieren wir über unsere Aktivitäten im Rahmen der Themenoffensive "Vorfahrt für Gemeinnützigkeit!" in den Jahren 2022 und 2023.

Interview: Gemeinwohl mal zwei – Verkehrspolitik und Pflege

Die Forderung nach mehr Gemeinwohlorientierung erstreckt sich über viele politische Felder. Wir haben für unser Verbandsmagazin 3/21 zum Schwerpunktthema "Menschen statt Märkte" mehrere Doppelinterviews geführt - mit jeweils zwei Menschen, die sich in ganz unterschiedlichen Bereichen für mehr gemeinnütziges Handeln und Wirtschaften aussprechen. Dabei haben wir wenige Unterschiede und viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Den Auftakt machen Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes und Dierk Hirschel, Gewerkschaftssekretär bei ver.di und dort zuständig für Wirtschaftsfragen.

Starten wir mit einer Frage an Sie beide: Herr Schneider, Herr Hirschel, was haben denn nun ausgerechnet Verkehrs- und Pflegepolitik gemeinsam? Gibt’s da wirklich etwas Verbindendes?

Schneider: Das wird der Kollege Hirschel aus dem Effeff beantworten können…

Hirschel: Danke für den Ball! In beiden Bereichen sollte die Profitlogik zurückgedrängt sowie der öffentliche Sektor und die Gemeinnützigkeit gestärkt werden. Denn in beiden Sektoren zeigt sich, dass private Akteure nicht in der Lage sind, eine ausreichende bezahlbare Versorgung sicherzustellen. Das gilt für den Verkehrssektor insbesondere für den öffentlichen Verkehr, wo in den letzten Jahrzehnten bei der Bahn viele Strecken stillgelegt wurden und viele kleinere Städte nicht mehr ans Bahnnetz angebunden sind. Der ÖPNV ist im ländlichen Raum sehr schlecht ausgebaut und stößt in vielen Großstädten an Kapazitätsgrenzen. Im Pflegebereich wiederum, das kann Ulrich Schneider noch entsprechend ergänzen, haben wir das Problem, dass durch die Privatisierung der letzten Jahrzehnte inzwischen humane Pflege kaum noch möglich ist. Beide Bereiche, sowohl der Verkehr als auch die Pflege sind immer stärker auf Profit getrimmt worden und von ihrer eigentlichen Zielsetzung, nämlich dem Gemeinwohl zu dienen, immer weiter abgerückt.

Schneider: Verkehr und Pflege sind in der Tat ausgesprochene Opfer geworden des, sagen wir mal, neoliberalen Irrglaubens oder sogar -wahns, der Anfang und Mitte der 90iger Jahre eingesetzt hat. Da gibt es wirklich parallele Entwicklungen. Wir haben in der Pflege erlebt, dass 1994 ein Pflegeversicherungsgesetz verabschiedet wurde, das erstmals  den Markt öffnete für profitorientierte Anbieter. Es war der Wille der damaligen Bundesregierung, dass Investoren kommen, dass hier auch Gewinn gemacht und richtig Geld abgezogen werden kann. Es herrschte der Irrglaube, wenn man diese Leute nur machen ließe, dann wird‘s letztlich allen gut gehen. Dann würde auch die Pflege besser werden. Innerhalb kürzester Zeit war der ursprünglich gemeinnützige Pflege-Markt, wo eben keine Gewinne gemacht werden durften, wo jeder Cent zurückgehen musste ans Pflegebett, fast zur Hälfte von gewerblichen Anbietern dominiert, darunter internationale Investmentfonds aus Schweden, Luxemburg und sonst woher, die Rendite sehen wollen. Das Gleiche haben wir im Verkehr auch erlebt. Ich erinnere daran, wie es Anfang der 90iger bei der Verschmelzung von Reichsbahn und Bundesbahn und der Privatisierung unter Mehdorn hieß: „Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen. Wir machen eine Aktiengesellschaft daraus.“ Und: „Wir gehen jetzt an die Börse. Wir machen ein richtiges Börsenunternehmen!“, was fürchterlich nach hinten losging, denn im Endeffekt, das gilt für die Pflege wie für die Bahn, waren beide Bereiche völlig unterfinanziert. In der Pflege war es so, weil die öffentlichen Kassen den renditeorientierten Anbietern zurecht misstrauten und unter Mehdorn bei der Bahn war es so, weil man ein attraktives Börsenangebot machen wollte. Man musste auf Teufel komm raus mit den Kosten runter. Wir in Berlin haben es hautnah erlitten, als die S-Bahnen nicht mehr richtig gewartet wurden und letztlich immer wieder ausfielen. Die Bürger waren es letztlich, die nicht mehr gut versorgt wurden, sei es mit Verkehr oder mit Pflege.

Nun sagen Sie ja, dass diese ganze Entwicklung, die Privatisierung, Konkurrenz und Wettbewerb mitnichten alternativlos wären, auch wenn da in den 90igern alles auf Profit getrimmt wurde. Wie könnte man es denn anders organisieren?

Hirschel: Ich möchte zunächst die Frage stellen, ob  in der Daseinsvorsorge Wettbewerb und Profitlogik überhaupt sinnvoll sind. Wir haben in Großbritannien und anderen angelsächsischen Ländern gesehen, dass Wettbewerb bei einer Netzinfrastruktur wie der Bahn weder wirtschaftlich noch im Hinblick auf die Versorgung funktioniert. Herr Schneider hat es angesprochen, was wir nach dem geplanten Börsengang der Bahn erlebt haben. Das deutsche Schienennetz ist um ein Fünftel geschrumpft, die Zahl der Weichen und Kreuzungen wurde halbiert und jeder sechste Bahnhof wurde geschlossen...

Schneider: Ja, das ist die weitere Schnittstelle zur Pflege. In der Pflege hat Preiswettbewerb überhaupt keine Rolle zu spielen, weil es ja niemals den genauen Bedarf trifft. In einer Pflegeeinrichtung habe ich es ja mit Menschen zu tun. Menschen, die jeden Tag anders drauf sein können. Ich kann es mit alten demenziell erkrankten Menschen zu tun haben, die morgens aufwachen und vielleicht völlig verstört sind. Da muss man sich dann erstmal eine Viertelstunde Zeit nehmen und einfach nur die Hand halten, bevor man überhaupt irgendetwas anderes machen kann. Es kann sein, dass jemand vielleicht einen ganz schlechten Tag hat und sehr viel Zuwendung braucht oder auch einen guten Tag hat und dann verbringt er den Tag mit anderen. Das lässt sich nicht im Detail planen. Marktwirtschaftliche Preiskonkurrenz heißt jedoch eben, dass man Ressourcen zusammenspart, bis es quietscht, und für die Wechselfälle des Lebens nicht mehr genug Ressourcen in Reserve hält. Der einzig angemessene Versorgungsstandard in der Pflege aber ist im Grunde die „Überversorgung“. Ich muss Reserven haben.

Durch die Pandemie sind die angespannte Situation in der Pflege und gerade auch die Pflegenden ja tatsächlich auch stark in den Fokus gerückt. Da müsste sich doch jetzt eigentlich etwas bewegen. Wir haben doch alle an den Fenstern gestanden und applaudiert und das wird doch irgendetwas bringen, oder nicht?

Schneider: Ja, es hat sich etwas bewegt im Pandemiejahr, aber nicht im Sinne der Betroffenen. In Bewegung gekommen ist der Pflegemarkt: Gerade große internationale Fonds und Immobiliengesellschaften haben noch stärker ihren Blick auf die Pflegeeinrichtungen geschwenkt. Es ist eine außerordentlich stabile Anlagemöglichkeit mit Renditen von bis zu 3 Prozent, die garantiert werden. Dadurch war 2020 eines der erfolgreichsten Jahre auf dem „Pflegemarkt“, was die Übernahme von Einrichtungen, den Handel mit Einrichtungen, anbelangt. Das ist eine völlig makabre Entwicklung, die unterm Strich nochmal deutlich gemacht hat: Man kann den „Pflegemarkt“, die Einrichtungen, vor allem aber die Menschen, nicht einfach zum Spielball irgendwelcher Rentenfonds machen …

Herr Hirschel, zurück zum Verkehr. Auch hier gibt es eine lebhafte öffentliche Debatte, vor allem unter ökologischen Aspekten. Sie haben bisher über die Bahn gesprochen. Wie sieht es denn mit dem Individualverkehr aus?

Hirschel: Deutschland ist ein Autoland. Die deutsche Automobilindustrie ist das Herz des Rheinischen Kapitalismus. Kein anderes entwickeltes Industrieland ist so abhängig vom Autobau wie wir. Ein großer Teil unserer Wirtschaftskraft hängt am Autobau. Aber die Zukunft unseres Landes kann nicht darin bestehen, noch mehr Autos zu bauen. Wir exportieren zwar 75 Prozent der Autos, aber auch in vielen anderen Industrieländern stößt das automobile Wachstum an seine Grenzen. Insbesondere in den Großstädten ist das Fahrzeug nur noch ein Stehzeug. Die Umweltbelastung ist für viele Menschen nicht mehr ertragbar. Wir müssen jetzt die fossilen Antriebssysteme auswechseln und mehr Verkehr vom Auto auf die Schiene bringen. Klar ist aber auch: Wir werden diese Transformation der Automobilindustrie nur unter Beteiligung der Betroffenen organisieren können. Gleichzeitig müssen der öffentliche Nah- und Fernverkehr als Alternative zum motorisierten Individualverkehr ausgebaut werden. Wenn die Beförderungskapazität des ÖPNV in den nächsten zehn Jahren verdoppelt würde, könnten wir auch viele neue gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen. In der Zugproduktion, beim Waggonbau und in der Schienenherstellung. Das würde nicht ausreichen, um alle wegfallenden Arbeitsplätze der Automobilindustrie aufzufangen, aber es würde zumindest eine teilweise Kompensation bieten.

Sie sagen, der Autoverkehr habe seine Grenzen erreichen. Bedeutet das, die ökologische Verkehrswende kommt jetzt auf jeden Fall?

Hirschel: Nein, sie wird nur gelingen, wenn wir auch den öffentlichen Verkehr ausbauen. Im ländlichen Raum haben wir aktuell kaum Alternativen zum Auto. Die Autodichte im ländlichen Raum ist nicht umsonst die höchste. Der Bus fährt dort nur alle paar Stunden und häufig gibt es keinen Bahnanschluss. Das muss sich ändern. Dafür brauchen wir massive Investitionen in den ÖPNV und die Deutsche Bahn. Doch wer soll das bezahlen? Wir reden hier nicht über Peanuts, sondern über hohe zweistellige Milliardenbeträge. Das ist eine Mammutaufgabe, ein finanzieller Kraftakt.

Die Vorschläge, die Sie zur Reform in der Pflege haben, Herr Schneider, lassen sich ja auch nicht zum Nulltarif umsetzen.  Und sie bedeuten ebenfalls eine erhebliche Transformation der bisherigen Strukturen. Sie wollen u.a., dass Investoren mit Pflege keinen Profit mehr machen können… Glauben Sie, dass Sie breite Akzeptanz für diese Ideen finden?

Schneider: Ja, weil wir Lösungen mitliefern. Wenn wir alle Beschäftigten in der Pflege gut bezahlen würden, bspw. orientiert am TVÖD, das Tarifwerk des öffentlichen Dienstes, dann wären das rund 4 Milliarden Euro jährlich zusätzlich. Ich glaube, keiner würde sich im Moment trauen, zu sagen, das hätten die Beschäftigten nicht verdient. Wenn wir dann hingehen würden und den Beschäftigten in der stationären Pflege vernünftige Arbeitsbedingungen verschaffen würden, in dem wir mehr Personal ermöglichen, dann bräuchten wir aus dem Stand heraus rund 120.000 Pflegekräfte mehr in den Einrichtungen. Das sind nochmal einige Milliarden, die das kostet. Das heißt, wir sind hier bei insgesamt 8 oder 9 Milliarden, die gestemmt werden müssen. Und jetzt ist die Frage: Wie macht man das? Wie ist das möglich, wenn man gleichzeitig private Investoren nicht mehr in die Pflege reinlassen möchte, die Gewinne abschöpfen wollen. Das lässt sich in der Tat nur dadurch in den Griff kriegen, dass hier eine neue Partnerschaft von Staat und gemeinnützigen Anbietern entsteht. Wir haben im Moment ein außerordentlich geringes Zinsniveau. Wenn der Staat derzeit Schulden aufnimmt, macht er geradezu ein Geschäft. Das heißt, im Moment hätten wir wie kaum in irgendeinem Zeitraum zuvor die Möglichkeit, mit öffentlichen Mitteln notwendige Investitionen in der Pflege zu betreiben. Geht es um die laufenden Kosten, die ich ansprach, etwa die Personalkosten, dann kommen wir wahrscheinlich nicht um Steuerzuschüsse und damit auch um eine andere Steuerpolitik herum. Wir müssen die die Einnahmenseite der öffentlichen Kassen stärken. Und da ziehen ver.di und Paritätischer ja nicht erst seit heute an einem Strang. Wir brauchen ein neues Nachdenken über Vermögenssteuer, über die Spitzensteuersätze in der Einkommenssteuer, über Erbschaftssteuer, über Transaktionssteuer und anderes. Da könnte jetzt Dierk Hirschel als Chefvolkswirt von ver.di ganz viel ausführen. Wir müssen die Dinge bis zum Ende durchdenken und wer nicht umverteilen will, der wird auch nichts tun können für Pflege oder auch für Verkehrsinfrastruktur.

Hirschel: Natürlich können wir in Niedrigzinszeiten solche Investitionen erstmal mit der Kreditkarte bezahlen. Es wäre auch ökonomisch unsinnig, es nicht zu tun. Darüber hinaus, geht es darum, die staatliche Einnahmeseite durch eine höhere Besteuerung von Topverdienern, von finanzstarken Unternehmen, von Vermögenden und Großerben zu verbreitern. So schaffen wir die finanzielle Spielräume, um mehr Personal einzustellen, um höhere Sozialausgaben zu bezahlen, den ÖPNV auszubauen und so eine sozialökologische Transformation hinzubekommen. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass Gewerkschaften, Umweltverbände, Klimaaktivisten und Sozialverbände sich gemeinsam auf eine Strategie des sozialökologischen Umbaus verständigen. Denn ohne sozialen Ausgleich gibt es keinen ökologischen Umbau.

Lassen Sie uns hier nachhaken. Sie fordern ja u.a. die Demokratisierung wirtschaftlicher Entscheidungen. Jetzt haben Sie das auf der institutionellen Ebene ausgeführt: Da müssen die Gewerkschaften, die Umwelt- und Sozialverbände, die Parteien mitmachen usw. Aber wie kann der*die Einzelne auf der Straße mit eingebunden werden? Sonst entscheiden es ja eigentlich wieder die großen Institutionen…

Hirschel: Ich würde mich dagegen wehren, große Institutionen und ihre Aushandlungsprozesse ausschließlich kritisch zu sehen. Der deutsche Kooperatismus, also der enge Austausch und die Kompromissfindung zwischen Verbänden und staatlichen Ebenen, hat in den letzten Jahrzehnten viel sozialen Fortschritt hervorgebracht. Kritisch ist die manchmal fehlende Transparenz.   Aber zweifelsohne ist es eine Errungenschaft der Nachkriegsdemokratie, dass mitgliederstarke Verbände nach gemeinsamen Lösungen suchen. So haben beispielsweise Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände unterschiedliche Interessen. Aber am Ende des Tages ist es ihnen häufig gelungen tragfähige soziale Kompromisse auszuhandeln. Deswegen ist es mir wichtig, darauf zu hinzuweisen, dass Institutionen wie die deutsche Unternehmensmitbestimmung, Betriebsräte oder unser Tarifsystem, gestärkt und ausgebaut werden müssen.

Was können wir tun, um größere Teile der Bevölkerung an der  sozial-ökologischen Transformation zu beteiligen? Wir Gewerkschaften wollen beispielweise in den großen Automobilclustern – Baden-Württemberg, Saarland, Bremen, Niedersachsen – regionale Transformationsräte. Dort sollen die vom ökologischen Umbau Betroffenen an einen Tisch geholt werden. Da gehören dann natürlich auch die Umweltverbände dazu. So könnten gemeinsame Transformationsstrategien entwickelt werden. In der Lausitz wurde auf diese Weise ein Kohlekompromiss erzielt. Hier wurden die Betroffenen zu Akteuren gemacht, Das ist zwar von Klimaaktivisten stark kritisiert worden, weil aus ihrer Sicht das Ausstiegsdatum nicht hinreichend ist. Aber ich bin der Auffassung, dass dieser Kohlekompromiss durchaus ein Vorbild  für sozialen Ausgleich ist. Deswegen gibt es in der Lausitz heute keine Gelbwestenbewegung. Die Kosten der Transformation konnten gerecht verteilt werden.  

Herr Schneider, der Paritätische vertritt viele Klient*innen, die nicht unbedingt in Gewerkschaften oder auch in Betrieben unterwegs sind, sondern im Zweifel arm, ausgegrenzt und auf Hartz IV angewiesen und auch mit ihren eigenen Problemen einfach beschäftigt sind. Wie sehen Sie das? Ist die Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen für eine sozial-ökologische Transformation?

Schneider: Sie ist nur dann in der Breite zu gewinnen für eine ökologische Transformation, die kommen muss, wenn wir nicht unsere Lebensgrundlage letztlich zerstören wollen, wenn wir soziale Sicherheit geben. Was Menschen davon abhalten kann, sich in großer Zahl für eine ökologische Transformation bedingungslos zu erwärmen, sind Ängste zu existenziellen Fragen. Kann ich meine Miete noch zahlen? Werde ich im Alter ein Auskommen haben, so dass ich wirklich einen schönen Ruhestand verleben kann? Wie ist das mit meinen Kindern? Welche Zukunft haben sie? Wir werden die ökologische Transformation nur schaffen, wenn die Menschen keine Angst darum haben müssen, ihre Existenz bestreiten zu können. Wir brauchen also gerade auf dem Wohnungsmarkt, aber auch wenn ich mir anschaue in der Renten- oder Arbeitsmarktpolitik eine echte Offensive, die den Menschen so viel Sicherheit gibt, in einem Sozialstaat zu leben, dass sie sagen: „Okay, bei der ökologischen Transformation können wir mitziehen. Wir brauchen keine Angst davor zu haben.“ Das ist glaube ich ganz entscheidend. Und deswegen sind auch Soziales und Ökologie nicht zu trennen, für beide Seiten nicht. Als Vertreter von gerade einem Klientel, dem es nicht so gut geht, müssen wir uns für eine ökologische Wende einsetzen, denn es wird ja nicht besser, wenn wir gar nichts tun. Und umgekehrt: Die Umweltverbände müssen natürlich ein hohes Interesse daran haben, dem Menschen soziale Sicherheit zu geben, denn sonst findet eine Transformation keine politische Mehrheit.

Eine letzte Frage: Ihre Prognose, bis wann haben wir den Neoliberalismus überwunden?

Schneider: (lacht) Ich weiß nicht, wann war jetzt genau die Bundestagswahl? Wir werden auf jeden Fall alles nach Kräften dafür tun, den Menschen nach 30 Jahren massivem Neoliberalismus in Deutschland deutlich zu machen, dass Wettbewerb nicht das A und O ist, sondern dass Kooperation und solidarisches Miteinander in vielen Aufgabenfeldern das deutlich überlegene System ist. Es gilt, die Denkschablonen einzureißen, die der Neoliberalismus eingefräst hat in unsere Hirne, und den Kopf wieder frei zu bekommen für echte Alternativen.

Hirschel: Ich bin sehr zuversichtlich. Der entfesselte Kapitalismus musste in den letzten 15 Jahren zweimal auf die Intensivstation. Spätestens mit der pandemiebedingten Antikrisenpolitik ist der Neoliberalismus am Ende. In der Corona-Krise ist nochmals deutlich geworden, wie wichtig ein funktionierender Staat und eine leistungsfähige Daseinsvorsorge sind. Nur ein handlungsfähiger Staat kann in die Zukunft investieren und den Klimawandel bekämpfen. Deswegen erleben wir weltweit eine Renaissance staatlichen Handelns. Selbst in den USA pumpt der neue Präsident Milliarden US-Dollar in die Modernisierung der Infrastruktur seines Landes. Nach der Bundestagswahl wird keine Regierung, egal welcher Farbkonstellation, einfach nur den Reichtum der Oberschicht pflegen können. Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich gedreht und große Teile wehren sich gegen schlechte Löhne und Arbeitsbedingungen, zu hohe Mieten und die Zerstörung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen.. Ob diese gesellschaftliche Bewegung einen grundlegenden sozial-ökologischen Politikwechsel durchsetzen kann, ist dann nochmals eine andere Frage. Aber das neoliberale Zeitalter ist vorbei.

Das Interview führten Gwendolyn Stilling und Philipp Meinert im Mai 2021.