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Gamze Çalışkan vom Planungsladen zeigt auf ein modernisiertes Haus im Quartier Nordmarkt, die Sozialarbeiterin wohnt selbst in der Gegend.

Der Geruch von Armut

Erstellt von Annabell Fugmann

Das Quartier Dortmunder Nordmarkt ist oftmals erste Anlaufstelle von Neueinwanderern aus Rumänien und Bulgarien. Weil viele keine Chance in ihren Heimatländern sehen, suchen sie ihr Glück in Deutschland. Das Team des Planerladens nimmt sich ihnen an und hilft bei der Suche nach Arbeit und Wohnungen. Ein schwieriges Unterfangen, wissen die Mitarbeiter.

Um 8.20 Uhr standen alle 70 im Planerladen bei Gamze Çalışkan auf der Matte: Das Ordnungsamt hatte eines der Dortmunder Problemhäuser in der Nordstadt geräumt. Somit wurden viele obdachlos. „Darunter Schwangere und viele Kinder“, erinnert sich Çalışkan. Die Sozialarbeiterin und ihre Kollegen vom Planerladen vermittelten: begleiteten die Betroffenen zum Mieterverein und zum Sozialamt.

Seit 1982 gibt es den Planerladen in der Dortmunder Nordstadt. Die Arbeit des Vereins zielt auf die Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingungen der Anwohner ab. Die Mitarbeiter, oftmals mit Migrationshintergrund, planen Veranstaltungen, klären auf und beraten ihre Klienten zu ihren Problemen. Wie an jenem Morgen, als Gamze Çalışkan und ihre Kollegen 70 Menschen vor der Obdachlosigkeit bewahren mussten.

Der Bulgare Hasan Naskow war einer von ihnen, seine Frau hochschwanger. Zusammen mit 68 anderen lebten sie auf engstem Raum, ein Matratzenlager. Er erinnert sich: Überall lagen Sachen, Schuhe, Strümpfe herum, „es war ekelig“. „Das ist ein Geschäft für die Vermieter“, weiß Çalışkan vom Planerladen und rechnet vor: Von jedem Mieter wurden 350 Euro kassiert, dabei lebten vier bis fünf Personen zusammen in einem Zimmer bei vier Wohnungen. Auch in der Küche und dem Flur. Viel Geld für die Vermieter, aber die baulichen und hygienische Zustände – katastrophal.

Zirka 100 dieser „Ekelhäuser“ zählte die Nordstadt 2007. „Als Folge schlechter Bewirtschaftung und spekulativer Vorgänge standen die Häuser schon länger leer und verwahrlosten“, erklärt ein Mitbegründer des Planerladens, Reiner Staubach. Zirka 4.300 Menschen, mehr als 50 Prozent der Zugewanderten aus Bulgarien und Rumänien in Dortmund, sind in der Nordstadt untergekommen. „Zuwanderer aus bestimmten Regionen verteilen sich scheinbar selbstselektiv auf bestimmte Ankunftsstadtteile, weil die Erstankömmlinge durch Informationen aus erster Hand den Nachzüglern Orientierungshilfe liefern“, erklärt der Stadtplaner.

Keine Chancen auf dem normalen Wohnungsmarkt
Die Mallinckrodtstraße im Quartier Nordmarkt ist bekannt dafür, dass hier Bulgaren und Rumänen zusammenkommen. Betroffene Gebäude sind schnell zu finden, Klingelschilder nur schlecht oder unkenntlich beschriftet, mehrere Namen übereinandergeschrieben. „Da bekommen die oft Ärger mit den Ämtern wegen der Meldepflicht, die begreifen die Wichtigkeit von Klingelschildern erst, wenn ernste Probleme da sind“, erklärt Sozialarbeiterin Gamze Çalışkan bei einem Rundgang. Heruntergelassene Jalousien verdreckt und durchlöchert, ein Blick ins Haus zeigt zerstörte Briefkästen. Für viele Neuzuwanderer würden die heruntergekommenen Gebäude dabei die letzte Zufluchtsmöglichkeit darstellen, denn auf dem normalen Wohnungsmarkt hätten sie kaum Chancen.

„Es ist sehr schwierig eine Wohnung und Arbeit zu finden“, weiß Çalışkan. Auch auf dem Arbeitsmarkt werde die Lage der Zuwanderer ausgenutzt: „Keiner von denen bekommt Mindestlohn.“ Die Profiteure arbeiten mit unrechten Mitteln: Im Planerladen haben die Mitarbeiter schon viele unzulässige Arbeits- und Mietverträge gesehen. So verlangten Vermieter hohe Transaktionskosten, nicht wenige Neuzuwanderer müssten eine Art Provision an Wohnungsbesitzer bezahlen. Normale Wohnungen seien schwer zu bekommen, viele Besitzer würden offen zugeben, dass sie nicht an Bulgaren vermieten. „Es gibt viel Diskriminierung“, sagt Çalışkan.

Die Mehrheit der bulgarischen und rumänischen Neuzuwanderer in der Nordmarkt gehöre den Rom-Völkern an und damit zu der größten Minderheit Europas – laut EU-Kommission zur stärksten diskriminierten Gruppe. Nach Stadtplaner Staubach leiden die Roma zudem am meisten unter rassistisch motivierten Straftaten sowie unter sozialer Ausgrenzung und Verelendung. Die Integration des Wandervolks kommt in den EU-Mitgliedstaaten eines kürzlich veröffentlichten Berichts der EU-Kommission nur schleppend voran, trotz EU- Vorgaben zur Integration der Roma. Auch in Dortmund stoße laut der Mitarbeiter das Volk auf Vorurteile und habe mit extremen Ungleichbehandlungen zu kämpfen.

Bestehende Systeme funktionieren nicht
Ein Zimmer, viele Betten, ein Couchtisch in der Mitte. Monatelang hat die Sozialarbeiterin Çalışkan noch daran gedacht und den Geruch in der Nase. Am Tisch kochte eine Mutter einer fünfköpfigen Familie das Essen auf einer elektrischen Pizzapan. Ein Gerät für alles, ein Raum für alle, zum Schlafen, waschen, leben und essen. „Dieser Essensgeruch, der in der Wohnung hing, das war der Geruch von Armut“, das mit anzusehen und wenig tun zu können, das habe ihr so wehgetan.

Sie ist müde: Çalışkan wäre froh, wenn bereits bestehende Systeme funktionieren würden. „Dafür kämpfen wir“, sagt sie. Vieles ihrer Arbeit hätte mit Formalitäten vom Jobcenter und Familienkasse zu tun, Miet- oder Arbeitsverträge prüfen, aufklären. „Einiges hat sich schon getan“, meint sie. Seit 2011 agieren im Dortmunder „Netzwerk EU-Armutszuwanderung“ unter der Federführung des Sozialdezernats Wohlfahrtverbände und andere lokale Akteure.

Im Stadtteil sind die Helfer präsent, das Ordnungsamt hat ein „Fallmanagement Problemhäuser“ eingerichtet und befindet sich mit einem Büro an der Mallinckrodtstraße. Der Planerladen ist an mehreren Standorten mit Ladenlokalen oder Büros vor Ort, an vielen Stellen kann man Ladenlokale von Sozialdiensten entdecken. Laut EU-Kommission hat sich bei der Bildung und Armutsbekämpfung die Lage der Roma in der EU zwar verbessert, im Gesundheitsbereich und beim Zugang zu Beschäftigung und Wohnungen seien hingegen kaum Verbesserungen zu verzeichnen.

Sanierung kann zu Verdrängung führen
Nicht alle Ansätze greifen: In Dortmund wurden 2013 von der Dortmunder Gesellschaft für Wohnen mbH (DOGEWO21) 30 Problemimmobilien im Norden erworben. Mittels eines Fonds sollten die Gebäude instandgesetzt werden. Die Akteure wurden 2014 dafür mit dem Preis „Soziale Stadt“ ausgezeichnet.

Den Roma half es nicht: Bei der späteren Belegung sollte eine andere Zielgruppe angesprochen werden, um „eine Vermischung und Stabilisierung“ zu gewährleisten und keine Neider auszulösen, meint Planerladen-Vorstandsmitglied Staubach. „Beispiele aus Dortmund und Duisburg zeigen, dass die an sich begrüßenswerte Sanierung von Problemhäusern zur Verdrängungsstrategie gerät.“ Das Problem wird verlagert.

Zahlreiche Veranstaltungen sowie Aufklärungsarbeit des Planerladens hätten Wirkung gezeigt: Ein Schritt in die richtige Richtung sei nun von der Stadt getan. Im Februar 2017 übertrug sie im Rahmen eines sozialen Bewirtschaftungsvertrags der Stiftung Soziale Stadt und der Grünbau GmbH die Aufgabe der Sicherung von 40 Wohneinheiten plus zwei Gewerbeeinheiten am Nordmarkt, die unter Zwangsverwaltung standen und sicherte so den Bestand ohne Verdrängung der Bewohner.

An anderer Stelle gehen Räumungen weiter, ohne dass Vorsorge geleistet wird. Nach der Hausräumung von Hasan Naskow kamen einige der Bewohner in Übergangsheimen unter, einige gingen nach Bulgarien zurück. Auch Naskow wurde nahegelegt, in sein Heimatland zurückzukehren, obwohl er eine sozialabgabenpflichtige Beschäftigung hat. Da übernachtete Naskow drei Monate lang in bulgarischen Cafés, seine schwangere Frau nutzte eine Rückkehrhilfe und gebar das Kind in der alten Heimat, bevor sie wieder zu ihrem Mann stieß.

Dieser Text stammt aus unserem Verbandsmagazin Der Paritätische 02/19 mit dem Schwerpunkt  "Europa."

Außerdem möchten wir auf die große Demonstration "Ein Europa für alle" in sieben deutschen Städten am 19. Mai hinweisen, die der Paritätische mitverantstaltet: www.ein-europa-fuer-alle.de

Die „Problemhäuser“ in der Nordstadt sind schnell zu finden: Der Hauseingang zeigt einen Blick ins Innere, Briefkästen sind zerstört, der Zusand der Fassaden ist katastrophal.