Zum Hauptinhalt springen
Trending Topics/flickr/CC BY 2.0

Es geht nicht um die Disziplinierung der Armen, sondern um die Legitimierung der Reichen – ein Gedanke zur Sanktionen-Debatte

Erstellt von Ulrich Schneider

Sanktionen in Hartz IV: Eine breite Debatte hat (endlich) eingesetzt zur Frage der Sinnhaftigkeit, der Verfassungsgemäßheit und der moralischen Bewertung, dass Menschen bei Verstößen gegen die Regeln und Auflagen der Jobcenter mit Leistungskürzungen unter das offizielle Existenzminimum abgestraft werden.

„Was soll die Diskussion?“, heißt es da nicht selten: Es werden doch ohnehin nur rund drei Prozent der erwachsenen Hartz-IV Bezieher abgestraft.  Dieser erst einmal pragmatische klingende Einwand übersieht zweierlei: Wenn auch nur drei Prozent sanktioniert werden, so ist doch der ganze Apparat auf Sanktionierung ausgerichtet. Zudem geht es tatsächlich in folgenschwerer Weise um das Prinzip. Es geht um in prinzipieller Weise um den Zusammenhang von Gleichheit, Ungleichheit, Privilegien und deren Rechtfertigung. Die gesellschaftliche Wirkung der Sanktionen liegt weniger in der Disziplinierung der Armen als in der Legitimation der reichen. 

Ungleichheit ist erst einmal etwas Schönes. Sie ist gut und sie ist wesentlich für eine dynamische Gesellschaft. Ungleichheit im Sinne von Verschiedenheit ist die Voraussetzung für Lebendigkeit und für Vielfalt. Sie ist ein Motor für Bewegung. Sie ist eine Kraftquelle. Dies schließt auch soziale Ungleichheit durchaus mit ein. Es ist die Frage, wie und wo ich wohne, mit wem ich mich umgebe, aber auch, über welche Ressourcen ich verfüge, oder – einfach: wie ich lebe. Grundvoraussetzung für ein solch positives Verständnis von Ungleichheit ist jedoch ihre Freiwilligkeit. Ungleichheit und Vielfalt müssen das Ergebnis freier Entscheidungen freier Menschen sein. Es geht letztlich um die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.

Das gilt auch für die sehr wichtige Frage ungleicher Ressourcen: Wenn jemand denkt, er müsse unter Hintanstellung  von fast allem anderen sein Glück darin suchen, Besitztümer anzuhäufen, mag dies aus psychologischer Sicht bedenklich sein, doch ist es, sofern dies einer freien Entscheidung entspringt, erst einmal genauso legitim wie die freie Entscheidung für ein ausgeglichenes Leben bei nur sehr überschaubarem Besitz. Entscheidend ist: Ungleichheit - soll sie positiv besetzt sein -  darf nicht das vornehmliche Ergebnis von Herkunft und zugeteilten oder eben nicht zugeteilten Privilegien sein. Wo Ungleichheit aufoktroyiert ist, wo sie auf quasi hoheitlicher Zuteilung von Ressourcen und Privilegien beruht, wird sie für die Unterprivilegierten zur Diskriminierung in des Wortes doppelter Bedeutung: Die wird zur Benachteiligung und sie wird zur Herabwürdigung. Sie sorgt dann nicht mehr für produktive Vielfalt in einer Gesellschaft, sondern führt zu Spaltung und Erstarrung.

Benachteiligung und Herabwürdigung sind ein Geschwisterpaar, gehen notwendigerweise immer Hand in Hand. Denn Ungleichheit in Form der Benachteiligung braucht in einer Gesellschaft, die sich als aufgeklärt verstanden wissen will, immer ihre besondere Legitimation. Dem Ideal der Aufklärung folgend, sind alle Menschen ihresgleichen, „niemandes Herren, niemandes Knecht“; wahlweise auch alle „Gottes Ebenbild“ – je nach Fasson. Jeder und jede sind gleich an Würde und gleich an Recht. Die ungleiche Zuteilung ungleicher Privilegien steht dem grundsätzlich entgegen, wird dem nicht gerecht und kann deshalb nicht gerecht sein. Es liegt daher nahe, zur Rechtfertigung extremer Ungleichheit dem Unterprivilegierten schlicht seine Gleichwürdigkeit abzusprechen. Dies ist der eigentliche Grund, weshalb Privilegierte sich stets bemühen, die von ihnen Diskriminierten zugleich zu diffamieren.

Es war daher keinesfalls ein zufälliges Zusammenspiel, dass die Schrödersche Agenda–Politik -  die vor allem durch eine neoliberale Ressourcenumverteilung von unten nach oben gekennzeichnet war, durch steuerlichen Privilegien für die Reichen einerseits und massiven Leistungskürzungen für die Armen anderseits - begleitet wurde von einem bis dahin in dieser Form kaum gekanntes öffentliches Bashing der Armen und der Arbeitslosen. Sie waren die Faulen, die nicht arbeiten wollen, die es sich auf Kosten der Fleißigen in einer Hängematte bequem machten, die moralisch Fragwürdigen, die die Fleißigen ausbeuteten. Von oben herab wurden Sozialneiddebatten geschürt, um die Mehrheit der Nichtarmen gegen die Armen aufzubringen, deren Gleichwürdigkeit und Respektabilität in Frage gestellt wurde. „Es gibt kein Recht auf Faulheit“, donnerte Agenda-Kanzler Schröder ins Land. Das war schon deutlich mehr als ein entwürdigender Generalverdacht gegenüber allen Nicht-Erwerbstätigen, der da ausgerufen wurde. Es war die geforderte Diffamierung der Armen.

Es ist vor diesem Hintergrund auch kein Zufall, dass Hartz IV in jedem einzelnen Absatz dieses Gesetzes von tiefer Misanthropie geprägt ist. Der Arme muss kontrolliert werden, er muss gezwungen werden und er muss sanktioniert werden. Dabei ging und geht es weniger darum, irgendwelchen praktischen Anforderungen eines Fürsorgesystems gerecht zu werden – die Zahl der Sanktionierten liegt ohnehin nur bei rund drei Prozent. Es ging und geht vor allem darum, das negative und herabwürdigende Bild vom Armen zu bedienen und aufrechtzuerhalten, das zur Legitimation ungerechtfertigter Privilegien der Reichen so wichtig ist.