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Der Paritätische und die neuen sozialen Bewegungen

Grundsätze über die Mitgliedschaft

Vereine und Organisationen, die ihren Ursprung in den neuen sozialen Bewegungen haben, bestimmen den Zuwachs im Verband enorm, werfen aber auch Fragen auf. Die Herausforderung: 1957 hatte man sich Grundsätze über die Mitgliedschaft gegeben, wonach keine Selbsthilfeorganisationen und Interessenverbände Aufnahme finden können, dennoch entscheidet sich der Verband für eine offene Aufnahmepraxis, begleitet von intensiven Diskussionen. Der Paritätische ist gerade wegen seiner weltanschaulichen Neutralität attraktiv für Vereine und Organisationen, die u. a. auch aus einer gewissen Kritik gegenüber dem Sozialstaat entstanden sind.

Nun sollen die Grundsätze überdacht werden: Schon am 7. Oktober 1964 wird in einer gemeinsamen Sitzung von Beirat und Vorstand durch den späteren Hauptgeschäftsführer Klaus Dörrie die Frage nach der korrekten Definition von Selbsthilfeorganisationen problematisiert. Begriffe wie Selbsthilfeorganisation, Interessenverband und Wohlfahrtsorganisation bedürfen einer neuen Abgrenzung, so der damalige sozialwissenschaftliche Referent. Selbsthilfeverbände, wie etwa die Elterninitiativen von Kindern mit Beeinträchtigungen, setzen neue Akzente in der wohlfahrtspolitischen Praxis. Diese bedürfen einer „Präzisierung der Aufnahmegrundsätze [...] und u.U. auch der Gemeinnützigkeitsverordnung“, berichtet das Protokoll weiter.

Auch vier Jahre später beschäftigt diese Debatte den Beirat noch immer. Zuvor wird bei einer Arbeitstagung eine Diskussion zum Verhältnis von Wohlfahrtspflege und Selbsthilfe diskutiert. Anfang der 70er Jahre verfestigt sich die Frage nach der Aufgabe der Wohlfahrtspflege. In einer Vorstandssitzung am 9. September 1977 einigt sich der Verband grundsätzlich darauf, an einer offenen Aufnahmepraxis festzuhalten. Die fachliche Verbreiterung des Verbandes, die man in den vergangenen Jahren erfahren hat, wird positiv bewertet. Der gesamte Diskussionsprozess stellt einen Umbruch in der Verbandsgeschichte dar. Viele Vereine und Organisationen, die im Kontext der neuen sozialen Bewegungen entstehen, zum Teil als Ergänzung, zum Teil aber auch als explizite Alternativbewegung zur Wohlfahrtspflege, finden schließlich Aufnahme unter dem Dach des Paritätischen und prägen den Verband in der Folge mit.

Der Paritätische und die neue Selbsthilfebewegung

Schon im 19. Jahrhundert existieren Formen von Selbsthilfe, die sich jedoch mit den Nöten der Industriearbeitenden befassen und Lücken im sozialpolitisch-liberalistischen Kaiserreich schließen sollen. Die sogenannte neue Selbsthilfebewegung hingegen befasst sich inhaltlich mit Lücken, die im Versorgungssystem der neuen Bundesrepublik klaffen.

In den 1970er Jahren kommen vermehrt Selbsthilfegruppen auf, die sich um eine Verbesserung der Situation von Patient*innen bemühen. Diese Gruppen umfassen sowohl Ärzt*innen, als auch Patient*innen. Hierbei handelt es sich auch um eine Reaktion auf konkrete medizinische Fortschritte: Die hochentwickelte, professionalisierte Medizin ist zwar wesentlich wirkmächtiger gegenüber vielen Krankheiten, kann jedoch den individuellen Ängsten und Bedürfnissen der Patient*innen, etwa im Kontext lebensbedrohlicher oder chronischer Erkrankungen, nicht immer gerecht werden.

Ein Beispiel hierfür ist die Selbsthilfeorganisation ILCO („Ileum“ für Dünndarm und „Colon“ für Dickdarm) für Menschen mit künstlichem Darmausgang. In einer Münchner Klinik beginnen sich Betroffene rund um den Arzt Dr. Konrad Arnold zu organisieren, auch in anderen Ländern haben sich solche Selbsthilfeorganisationen schon gegründet. Gerhard Englert, selbst Betroffener, schließt sich der Initiative an und erfährt dabei, welchen Unterschied eine Beratung durch Betroffene macht. Er beschließt, sich zu engagieren. 1975 wird er Vorsitzender der ILCO, die er 1977 in den Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband führt. Bereits 1972 wird die Deutsche Rheuma Liga Mitgliedsorganisation des Paritätischen, zwei Jahre später folgt die Deutsche Krebshilfe.

Die Aufnahme erster Frauenhäuser im Verband

Bis weit in die 1960er Jahre hinein ist das Thema der sexuelle Selbstbestimmung der Frau ein gesellschaftliches Tabu. Mit der Frauenbewegung gelingt es, dieses Thema stärker in das öffentliche Bewusstsein zu tragen und die Forderung nach einer Kriminalisierung der Vergewaltigung innerhalb der Ehe wird lauter. Um Frauen und Mädchen vor sexualisierter Gewalt zu schützen, werden 1976 in Berlin und weiteren Städten Beratungsstellen und Frauenhäuser gegründet, in denen Frauen und Kinder, die Gewalt in unterschiedlichen Formen erfahren haben, unterkommen können.

Der Paritätische hat schon früh Beratungsstellen für Opfer von Gewalt sowie Bildungsangebote für Frauenhäuser eingerichtet: Im Jahr 1977 nimmt der Paritätische die ersten Frauenhäuser auf und erweitert die Zahl der Mitglieder über die kommenden Jahrzehnte. Heute sind in den Paritätischen Strukturen rund 130 Frauenhäuser und 200 Frauenberatungsstellen organisiert.

Insgesamt ist das Paritätische Bildungswerk in diesem Punkt ein wichtiger Motor innerhalb des Verbandes: Bei den Inhalten der Arbeit stechen in der Folge die Themen Kindererziehung und neue pädagogische Konzepte hervor. Zudem nimmt der Bereich Sexualpädagogik eine bemerkenswerte Rolle in der Arbeit und den pädagogischen Diskussionen des frühen Bildungswerkes ein.

Mit dem Ende der 1970er Jahre gegründeten Arbeitsbereich „emanzipatorische Bildungsarbeit mit Frauen“ versucht das Bildungswerk weitere Themen der zweiten Welle der Frauenbewegung zu bearbeiten. An Bedeutung gewinnt hier vor allen Dingen das Thema Frauenhäuser.

Seit den 1980er Jahren wird hier unter anderem an einem Konzept für die berufsbegleitende Weiterbildung des Personals von Frauenhäusern gearbeitet. Im Zuge dessen stehen auch Finanzierungsprobleme im Mittelpunkt der Diskussion, sowohl innerhalb des Paritätischen Bildungswerks als auch auf Gesamtverbandsebene.

Zivildienstleistende als neue Zielgruppe der Bildungsarbeit

Zu den besonderen Arbeitsschwerpunkten des Bildungswerks gehört ab den 1970er Jahren das Thema Zivildienst. Die Einführungslehrgänge sind durch das Zivildienstgesetz vorgeschrieben und die Durchführung organisiert das Bildungswerk. Sie sollen die Zivildienstleistenden auf ihre konkrete Tätigkeit vorbereiten sowie die Rechte und Pflichten thematisieren.

Von der zweiten Hälfte des Jahrzehnts an werden bereits Lehrgänge für Zivildienstleistende angeboten, die in Mitgliedsorganisationen des Paritätischen arbeiten. Das Seminar Zivildienst, welches mit der Durchführung der Einführungsfortbildungen beauftragt ist, wird im Jahr 1976 gegründet. Inhalt und Struktur ändern sich dabei im Laufe der Jahre.

Bereits 1960 tritt das Gesetz über den zivilen Ersatzdienst in Kraft. Den Hintergrund bildet die in der Bundesrepublik Deutschland vier Jahre zuvor eingeführte allgemeine Wehrpflicht und das im Grundgesetz verankerte Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Der Ersatzdienst dauert zunächst 12 Monate und wird schließlich 1962 auf 18 Monate ausgedehnt. Zunächst trauen sich nur wenige junge Männer, den Kriegsdienst zu verweigern. Viele von ihnen werden als „Feiglinge“ oder „Drückeberger“ tituliert. Doch das gesellschaftliche Klima verändert sich: 1973 verweigern mehr als 30.000 Wehrpflichtige den Dienst an der Waffe.