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Angekommen in der Berliner Republik: Die 2000er Jahre

Aufbruch mit neuem Führungspersonal

Mit dem neuen Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider, der 1999 auf Klaus Dörrie folgt und der zwei Jahre später zur Vorsitzenden gewählten Barbara Stolterfoht startet der Verband in die 2000er Jahre. Beide läuten Veränderungen ein.

Mit der Wiedervereinigung und dem Umzug des Regierungssitzes nach Berlin stellt sich auch für den Paritätischen Gesamtverband die Frage eines Umzuges von Frankfurt am Main nach Berlin. Man entscheidet sich zunächst für die Einrichtung einer Außendienststelle in Berlin. Bereits zum Jahresbeginn 2001 wird aber deutlich, dass immer mehr für den Verband wichtige Termine in der Hauptstadt stattfinden, sodass sich der Vorstand bereits im November 2001 für einen Komplettumzug ausspricht. Zum 1. Oktober 2003 verlegt der Paritätische Gesamtverband seine Fachabteilungen nach Berlin, und zwar dorthin, wo der Verband bis zu seiner Selbstauflösung im Jahr 1934 ansässig war: In der Oranienburger Straße 13/14 in Berlin-Mitte. Es ziehen fast alle Mitarbeitenden mit. Einzig die Finanzverwaltung bleibt zunächst im Haus der Parität in Frankfurt, drei Jahre später kommt auch diese Abteilung nach Berlin.

Der Paritätische in neuem Look

Auch das äußere Erscheinungsbild des Verbands ändert sich in diesen Jahren. Nach mehreren Anläufen verabschieden sich die Verbandsgremien 2007 von der traditionsreichen Wohlfahrtszacke bzw. dem stilisierten „VWV“ und beschließen die Einführung eines neuen Logos. Erstmals ist nun auch im äußeren Erscheinungsbild sichtbar, wofür der Verband steht: Für die Gleichwertigkeit von Ungleichem, für Respekt und Toleranz. Der ehemalige Hauptgeschäftsführer Klaus Dörrie formuliert es folgendermaßen: „Diese Gleichwertigkeit, die Ebenbürtigkeit, ist enorm wichtig für die Identität und den Zusammenhalt im Verband.“

Über Grenzen hinweg

Im Zuge der Globalisierung und der immer wichtiger werdenden Rolle der Europäischen Union, auch bei der Gesetzgebung, hält auch der Paritätische internationale Verbindungen und unternimmt Überlegungen, eine Vertretung in Brüssel einzurichten.

Vor allem zu den polnischen Woiwodschaften bauen die verschiedenen Landesverbände des Paritätischen bereits in den frühen 1990er Jahren eine intensive Verbindung auf und unterstützen die dortigen Transformationsprozesse und den Aufbau wohlfahrtspflegerischer Strukturen. Diese deutsch-polnische und europäische Zusammenarbeit geht schließlich im Verein Eurosozial e.V. auf.

Am 17. März 2000 beschließt der Verbandsrat, ein eigenes Europabüro des Gesamtverbandes in Brüssel einzurichten. Der Paritätische verstärkt seine europapolitischen Aktivitäten in der Folge zusehends. Zu den prägnanten Positionierungen zählen etwa die Paritätischen Vorschläge für eine Charta der Grundrechte in der Europäischen Union, die der Vorstand am 13. Mai 2000 verabschiedet, und der Entwurf von Paritätischen Vorschlägen für eine künftige Verfassung der Europäischen Union vom 18. Februar 2002.

Trotzdem entschließt man sich sechs Jahre später dazu, die Repräsentanz zu schließen. Wesentliche Gründe dafür sind, dass sich gezeigt hat, dass ein einzelner Verband aus einem einzelnen Mitgliedstaat der Union keinen wesentlichen Einfluss vor Ort entwickeln kann. Viele Aktivitäten erfordern zudem die direkte Einbeziehung der in der Geschäftsstelle gebündelten Expertise.

Ab 2007 wird die Europaarbeit in der Geschäftsstelle neu aufgestellt und die europapolitische Profilierung für ein soziales Europa – Grundsatzpapier, Forderungspapiere anlässlich der deutschen Ratspräsidentschaft oder auch zu den Wahlen zum EU Parlament - weiter vorangetrieben. 2008 widmet der Gesamtverband eine Ausgabe seines Verbandsmagazins dem Thema der EU-Förderprogramme.

Aktiv in der Katastrophenhilfe und -vorsorge

Auch im Bereich der Katastrophenhilfe geht man neue Wege. Der Paritätische Gesamtverband ist Teil des 2001 gegründeten Bündnisses Aktion Deutschland Hilft, welches von 23 deutschen Hilfsorganisationen getragen wird und vertritt innerhalb dieses Netzwerkes die Interessen seiner Mitgliedsorganisationen. Ziel von Aktion Deutschland Hilft ist es, bei großen Katastrophen und Notsituationen im Ausland – wie Naturkatastrophen, Hungersnöten oder gewaltsamen Konflikten – gemeinsam schnelle und effektive Hilfe leisten zu können. In Ausnahmefällen, wie beispielsweise im Rahmen des Hochwassers 2013 in Deutschland, ist Aktion Deutschland Hilft auch im Inland tätig.

Seit der Gründung hat das Bündnis bislang in über 50 sogenannten gemeinsamen Fällen mehr als eine halbe Milliarde Euro Spenden gesammelt, um mit Hilfsmaßnahmen und -gütern die Betroffenen vor Ort unterstützen zu können. Zusätzlich zu den Spendenaufrufen bei Katastrophen und Notsituationen sammelt Aktion Deutschland Hilft seit 2011 auch für die Katastrophenvorsorge.

2017 konstituiert sich darüber hinaus das Forum Rettungswesen und Katastrophenschutz als organisatorischer Zusammenschluss von Mitgliedsorganisationen des Paritätischen, der die Aufgaben verfolgt, Maßnahmen des Rettungsdienstes, der Notfallversorgung und des Katastrophen- / Bevölkerungsschutzes im Inland zu organisieren und durchzuführen. Dem Forum gehören Vertreter*innen aus dem Bundesverband des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB), der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG), des Bundesverbandes Rettungshunde e.V. (BRH) sowie der Björn Steiger Stiftung an.

Scharfe Kritik an Agenda 2010

In den Jahren 2003 bis 2005 wird mit der Agenda 2010 eine deutliche sozialpolitische Wende in Deutschland vollzogen, die der Paritätische scharf kritisiert. Zu dem von der rot-grünen Bundesregierung verabschiedeten Maßnahmenpaket zählen neben der Reduzierung von Leistungen der Krankenkassen und der Senkung des Rentenniveaus vor allem weitreichende Eingriffe in den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme.

Das umgangssprachlich als Hartz IV bezeichnete Arbeitsmarktinstrument sieht unter anderem vor, dass bereits nach einem Jahr die Bezugsdauer des neuen Arbeitslosengeldes endet. Der Paritätische kritisiert, dass der Druck auf die Antragstellenden, jede zumutbare Arbeit anzunehmen oder Sanktionen in Form von Kürzungen der bezogenen Gelder zu fürchten, steige. Für Anpassungen in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung soll die sogenannte Rürup-Kommission Maßnahmen entwickeln. Auch die Vorsitzende des Verbandes, Barbara Stolterfoht, ist Mitglied. Sie verweigert dem Abschlussbericht im Jahr 2003 allerdings ihre Unterschrift und begründet dies unter anderem mit der sozialen Unausgewogenheit der vorgebrachten Maßnahmen. Die Mehrbelastungen für Versicherte in Form von Praxisgebühr und Medikamentenkosten lehnt sie ab. Der alternative Vorschlag des Paritätischen für eine Bürgerversicherung findet keine Mehrheit.

Im gesamten Prozess bezieht der Paritätische klare Haltung, wie beispielsweise in der Erklärung, welche der Vorstand des Gesamtverbands im Mai 2003 veröffentlicht. Darin heißt es: „Der Paritätsiche fordert die Bundesregierung auf, ihre Agenda 2010 unter den Kriterien der Solidarität, der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs zu überarbeiten. Er fordert die Bundesregierung auf, ein Konzept vorzulegen, das integriert statt ausgrenzt, das soziale Lasten gerecht verteilt, anstatt die Schwächsten unter uns weiter an den Rand zu drängen, und das strukturiert Maßnahmen für einen Zeitraum von mindestens zehn Jahre enthält, die auch dazu beitragen, das verlorene Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wieder zurückzugewinnen.“

Im Nachhinein werden Nachbesserungen in Form von Befreiungsmöglichkeiten von Zuzahlungspflichten bei Medikamenten, der Gewährung von Mehrbedarfen sowie der Einführung von Härtefallregelungen gefordert. Auch im Bereich der Pflege stellt der Verband vor den Bundestagswahlen des Jahres 2005 einen Forderungskatalog an die Politik auf. Demnach sei der besondere Pflegebedarf von Menschen mit kognitiven Einschränkungen sowie Demenzerkrankungen unzureichend berücksichtigt worden und habe zu einer realen Benachteiligung gegenüber pflegebedürftigen Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen geführt. Hiermit erhebt der Paritätische die Stimme für ein Kernklientel, das seit den 1960ern Einzug in den Verband findet.

Selbstbestimmung, Inklusion und Teilhabe

Die Behindertenbewegung hat in Deutschland eine bewegte Vergangenheit und seit den Gründungen der 1960er Jahre etablieren sich kontinuierlich Organisationen, die auch Mitglied beim Paritätischen werden. Selbstbestimmung und Teilhabe sind zentrale Forderungen dieser Bewegung, was sich auch in der Gründung des Deutschen Behindertenrates (DBR) Ende 1999 niederschlägt. Hier sind überregionale Mitgliedsorganisationen des Paritätischen, wie der Bundesverband für körper- und mehrfach behinderte Menschen (bvkm), der Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK), der Bundesverband für Förderung für Menschen mit Autismus (autismus Deutschland e.V.) und der Sozialverband VdK Deutschland e.V (Sozialverband vdK) beteiligt. Die Institutionalisierung der Behindertenbewegung nimmt gemeinsam mit dem Paritätischen an Fahrt auf.

Dabei finden essentielle Forderungen der Verbände und des Paritätischen in dieser Zeit Niederschlag in den Gesetzgebungen. Zuvor erreichte Meilensteine sind unter anderem die Grundgesetzänderung von 1994 (Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden) oder das Pflegegesetz von 1995. Aber dennoch fehlt es noch immer an einem spezifischen Leistungsgesetz für Menschen mit Beeinträchtigungen. Auch hier sind es erneut die Verbände von Menschen mit Behinderungen und der Paritätische, die dieses Anliegen auf das politische Parkett bringen und dadurch das Bundessozialhilferecht reformieren. Den ersten wichtigen Schritt zur Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen am gesellschaftlichen Leben stellt dabei das 2001 verabschiedete SGB IX dar, wonach aktive Teilhabeleistungen als Lösung durch ein persönliches Budget umgesetzt werden können. Gesetze mit ähnlichen Ansätzen sind unter anderem das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) von 2002 und das Antidiskriminierungsgesetz bzw. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006. Bei beiden waren die unterschiedlichen Behindertenverbände des Paritätischen in der Konzeptionsphase involviert.

Zudem stellt die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vom 13. Dezember 2006 einen weiteren Meilenstein für das Konzept der Inklusion dar, welche knapp zwei Jahre später in Deutschland ratifiziert wird. Der Paritätische widmet der UN-Behindertenkonvention im Juni 2008 eine Ausgabe seines Verbandsmagazins. Die Konvention führt dazu, dass schließlich 2016 ein Bundesteilhabegesetz (BTHG) verabschiedet wird. Dennoch, trotz kontinuierlicher Arbeit zeigen intensive Debatten um das BTHG und die teilweise fehlende Umsetzung der UN-BRK, wie viel Arbeit dem Paritätischen und seinen Mitgliedsorganisationen noch bis zur inklusiven Gesellschaft bevorsteht.