Zum Hauptinhalt springen

Nach dem Mauerfall: Der Paritätische in West und Ost

Die Parität im Fokus

Nachdem sich der Verband 1989 den Grundsätzen nach als Verband für soziale Gerechtigkeit definiert, soll auch das Logo die Bedeutsamkeit von Parität unterstreichen: Infolge verabschiedet man sich von dem langjährigen Logo, der Wohlfahrtszacke bzw. dem stilisieren „VWV, welches seit der Gründung besteht, aber aufgrund der hohen Abstraktion auch immer wieder infrage gestellt wurde.

Der Schwerpunkt soll zudem auch visuell im Schriftbild hervorgehoben werden. Bildlich und sprachlich liegt nun mehr denn je die Parität im Vordergrund.

Neue Landesverbände nach dem Mauerfall

Von den Ereignissen des Mauerfalls wird der Paritätische zunächst überrascht. Als erste Reaktion öffnen der Gesamtverband, die Landesverbände sowie ihre Mitgliedsorganisationen ihre Einrichtungen zur Beratung von Ankommenden aus der DDR. Auch werden die Landesverbände und Mitgliedsorganisationen vom Gesamtvorstand dazu aufgerufen, sich für Anfragen sozialer Initiativen aus der DDR zu öffnen. Und obwohl man zunächst abwarten möchte, überschlagen sich die Ereignisse: Schon bald kommt es auch in der DDR zur Gründung von Ablegern bereits in der Bundesrepublik bestehender Verbände. So werden im Januar und Februar 1990 die ersten DDR-Ortsverbände des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) u. a. in Güstrow, Bankow und Görlitz gegründet. Im Februar 1990 wird in Erfurt die Krebsliga gegründet, der Paritätische lädt im April 1990 dessen Vertreter*innen ins Wilhelm-Polligkeit-Institut nach Frankfurt am Main ein. Im März 1990 entsteht in Ost-Berlin ein DDR-Ableger der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft.

Nach anfänglicher Hilfestellung geht der Paritätische schließlich auch dazu über, auf dem Gebiet der DDR eigene Ableger zu gründen. Der erste Schritt hierzu ist, dass sich am 13. Mai 1990 mehrere in der DDR tätige überregionale Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege zu einer republikweiten Paritätischen Arbeitsgemeinschaft in der DDR zusammenschließen. Ihr Ziel ist es, die satzungsmäßigen Aufgaben des Paritätischen als Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege auf dem Gebiet der DDR auszuüben. Noch bevor das Bundesland gegründet ist, entsteht 1990 der Paritätische Landesverband Brandenburg. Als weitere Landesverbände folgen noch im selben Jahr Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Am 5. Oktober 1990 gründet sich, zwei Tage nach dem offiziellen Vollzug der Deutschen Einheit und damit endgültigem Ende der DDR, der letzte Landesverband, Mecklenburg-Vorpommern. Bei seiner Rede zum Gründungstag formuliert der Gesamtverbands-Vorsitzende Dieter Sengling seine Sorgen, die in vielerlei Hinsicht später bestätigt werden sollen: „Der Einigungsprozess hat mit einer hohen Geschwindigkeit begonnen, von gegenseitiger Anpassung kann leider keine Rede sein.“ Seine Sorge gilt unter anderem einem möglichen Identitätsverlust für die Menschen aus der ehemaligen DDR.

Ein weiterer bedeutender Schritt der Entwicklung der Paritätischen Strukturen in den neuen Bundesländern ist die Integration der Volkssolidarität in den Verband. Die frühere DDR-Massenorganisation mit rund 40.000 Beschäftigten tritt im Dezember 1990 geschlossen in den Verband ein und kann so als Verein mit eigenständigem ostdeutschen Profil fortbestehen.

Auseinandersetzung mit Rassismus und rechter Gewalt

Zu Beginn der 1990er Jahre wird das wiedervereinte Deutschland von einer Welle rechter Gewalt erfasst. Als im September 1991 in Hoyerswerda erst ein Heim für ehemalige „Vertragsarbeiter“ und anschließend ein Asylbewerber*innenheim durch Neonazis angegriffen werden, greift kaum jemand ein. Im August 1992 erfolgt der Angriff auf das sogenannte Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, einem Wohnheim für ehemalige DDR-„Vertragsarbeiter“ aus Vietnam. Das Haus und die nahegelegene zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber werden vier Tage lang von Neonazis und deren Sympathisant*innen belagert und mit Brandsätzen angegriffen. In Solingen werden bei einem rassistischen Brandanschlag im Mai 1993 fünf türkischstämmige Frauen bzw. Mädchen getötet.

Der Paritätische findet klare Worte, benennt die Taten als Rassismus, veranstaltet Begegnungstage und fordert, Migrant*innen die Einbürgerung zu vereinfachen. Im November 1992 macht der Verband „Rechtsextremismus und Rassismus als Problem der Jugendhilfe“ zum Monatsthema in seinem Mitgliedermagazin und fordert einen „grundlegenden gesellschaftlichen […] Prozess der Rezivilisierung“, damit rechtsextreme Gewalttäter in Zukunft nicht mehr beklatscht, sondern geächtet und zur Rechenschaft gezogen werden.

Auch Einrichtungen und Mitgliedsorganisationen des Paritätischen werden Ziel rassistisch motivierter Angriffe. Im Verbandsmagazin berichtet der Paritätische über die Zweigstelle des Frauenladens AIZAN, in der zukünftig „Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung ausländischer Mädchen“ im Hamburger Stadtteil St. Pauli durchgeführt werden sollen. Bereits vor der Eröffnung werden die Fensterscheiben der Einrichtung viermal mit Steinen zerstört. Der letzte Angriff auf das Ladenlokal findet im August 1992 am Vorabend der Eröffnung statt. Trotz aller Gegenwehr wird das Modellprojekt am nächsten Tag gestartet. Etwa 60 Mädchen kommen zur Einweihungsfeier.

Ungesicherte Pflege und Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen

In den 1990er Jahren wird auch das Problem der ungesicherten Pflegefinanzierung immer drängender. Durch den demografischen Wandel, die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen, die nun nicht mehr in demselben Maße wie früher häusliche Pflege leisten können und die immer häufigere räumliche Trennung von Familien, steigt die Zahl an Bedürftigen. Für viele Menschen bedeutet Pflegebedürftigkeit einen Abstieg in die Sozialhilfe, die damit zu einer Art Regelfinanzierung der Pflegekosten wird. Für die Kommunen als Träger der Sozialhilfe entstehen folglich erhebliche Mehrkosten, die sie zusehends zu überfordern drohen.

Die Finanzierung der Pflege gilt außer in einigen Ausnahmen in Deutschland bis in die 1990er Jahre als ungesichert. Schon früh kritisiert der Paritätische diese Lücke im Sozialstaat und fordert, die Pflege im Alter nicht als privat abzusicherndes Sicherheitsrisiko zu belassen. Die Bundesregierung einigt sich schließlich 1992 auf eine Pflegeversicherung, die per Umlagefinanzierung unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung die Versorgungslücke schließen soll. Das SGB XI, das Ende 1994 beschlossen wird und am 1. Januar 1995 in Kraft tritt, etabliert die Pflegeversicherung als eigenständigen Zweig der Sozialversicherung. Damit sind alle, die gesetzlich krankenversichert sind, auch automatisch in der sozialen Pflegeversicherung versichert.

Dennoch gilt die Pflegeversicherung auch als Vorbild für die Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen. Wenngleich die Idee nicht neu ist, so wird doch in der gesetzlichen Pflegeversicherung eine Gleichstellung privater gewinnorientierter und freigemeinnütziger Träger von Anfang an fest verankert. 1994 werden zudem erstmals Wirtschaftlichkeitsregeln für die Träger von sozialen Einrichtungen formuliert. Hilfen sollen dabei „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein. Der Paritätische kritisiert die Schritte und fordert bereits 1995 im Verbandsmagazin, Sozialkürzungen zurückzunehmen.

Im Paritätischen bleibt auch nach der Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes der Grundsatz bestehen, dass nur gemeinnützige Mitgliedsorganisationen aufgenommen werden, keine gewerblichen. Den Hintergrund bildet die ab Anfang der 1990er Jahre von Politik und Verwaltung betriebene Privatisierung und Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen. Der bewährte Vorrang für gemeinnützige Dienste wird in Sozialgesetzen ebenso aufgehoben wie die Wohngemeinnützigkeit im Steuerrecht. Renditeorientierte Anbieter werden so neue Geschäftsfelder eröffnet, Ausschreibungen ersetzen Wahl- und Mitgestaltungsmöglichkeiten der Betroffenen. Diese Entwicklungen betreffen mit der Freien Wohlfahrtspflege auch den Paritätischen und fordern den Verband seitdem heraus, Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im und gegen den Wettbewerb zu behaupten.

Aufarbeitung der Vergangenheit

Ende der 1990er Jahre kommen Zweifel auf, ob Wilhelm Polligkeit, der 1949 zum Ehrenvorsitzenden des wiedergegründeten Paritätischen Gesamtverbandes ernannt wird, tatsächlich dem Nationalsozialismus so distanziert gegenübergestanden hat wie bisher angenommen. Im Rahmen ihrer Promotion, die 2001 an der Universität Bremen eingereicht wird, nimmt Anne-Dore Stein eineinhalb Jahre Archivarbeit vor. Bereits während der wissenschaftlichen Recherchen wird deutlich, dass das bisherige Bild, Polligkeit habe sich in der NS-Zeit an die Universität zurückgezogen und dort unpolitische Forschungen betrieben, nicht mehr haltbar ist.

Der Paritätische trennt sich folglich von Polligkeit als Leitfigur. Das Wilhelm-Polligkeit-Institut wird in Haus der Parität umbenannt. Die Vergabe der Wilhelm-Polligkeit-Plakette wird eingestellt. Erfahren Sie mehr zu Wilhelm Polligkeit und seiner Rolle im Nationalsozialismus.

Mehr über die Entwicklung der Volkssolidarität erfahren...

In der DDR war sie eine Massenorganisation mit Monopolstellung, im wiedervereinigten Deutschland musste sie sich sprichwörtlich über Nacht neu erfinden und stand in Konkurrenz zu vielen anderen Wohlfahrtsangeboten. Zwei Zeitzeugen berichten in der Jubiläumsausgabe unseres Verbandsmagazins.

Mehr lesen