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Der Paritätische im Nationalsozialismus

Nationalsozialistische Wohlfahrtspolitik

Den Wohlfahrtsstaat, wie er sich in der Weimarer Republik ausgebildet hat, lehnen die Nationalsozialisten ab. An seine Stelle tritt ab 1933 eine Fürsorgepolitik, die explizit nicht dem Einzelnen dient, sondern allein der Förderung der rassisch definierten Volksgemeinschaft.

Getragen wird die NS-Wohlfahrtspolitik von der 1932 in Berlin gegründeten Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), der zunächst keine besondere Bedeutung zukommt neben den etablierten Verbänden der freien Wohlfahrtspflege. Dies ändert sich mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler (30. Januar 1933), der raschen Etablierung der NS-Herrschaft und der Erhebung der NSV zur Parteiorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) unter Leitung von Erich Hilgenfeldt im Mai 1933: Die NSV wird Massenorganisation mit Führungsanspruch in der Wohlfahrtspflege.

Personeller Umbau und wachsender Einfluss der NSV

Auf der Vorstandssitzung des Paritätischen am 29. April 1933 muss Leopold Langstein sein Amt als geschäftsführender Vorsitzender niederlegen. Obwohl Langstein, einer der führenden Kindermediziner der Weimarer Republik, zum evangelischen Glauben konvertiert, gilt er nach nationalsozialistischer Definition als jüdisch. Auch Anna von Gierke hat aus ähnlichen Gründen keine Zukunft mehr in der Verbandsleitung. In den Landes- und Provinzialvertretungen treten im Laufe der Jahre 1933 und 1934 zudem zahlreiche Amtsträger*innen zurück.

Auf Langstein folgt im Amt des Vorsitzenden Albrecht Freiherr von Pechmann, ein aus dem Fränkischen stammender ehemaliger Berufsoffizier, der dem Vorstand des Paritätischen zu diesem Zeitpunkt erst seit wenigen Monaten angehört und seit 1932 darüber hinaus Vorsitzender des bayerischen Landesverbandes ist. Mit der Wohlfahrtspflege kam Pechmann zuvor allenfalls in seiner Funktion als Präsidiumsmitglied des Bayerischen Veteranen- und Kriegerbundes in Berührung, der sich auch der Unterstützung Hinterbliebener widmet. Es erscheint wahrscheinlich, dass die Verbandsgremien mit seiner Ernennung ein Zeichen der Anpassung an die neuen Machtverhältnisse setzen wollen.

Pechmann wird die zentrale und handlungsleitende Figur bei der Überführung des Paritätischen in die NSV und der Selbstauflösung des Verbandes. Loyal an seiner Seite steht dabei Otto von Holbeck. Obwohl Holbeck zum Gründerkreis des Paritätischen zählt und in den 1920er Jahren zu einem der engagiertesten Verbandsvertreter wurde, setzt er dem Prozess der Übernahme durch die NSV nicht nur keinen Widerstand entgegen, sondern unterstützt diesen aktiv.

Der Eintritt von Erich Hilgenfeldt, Leiter der NSV und ab 1934 auch des Hauptamtes für Volkswohlfahrt, in den Vorstand des Paritätischen am 26. September 1933, verdeutlicht den immer weiter wachsenden Einfluss der NS-Wohlfahrtsorganisation. Mit der Verabschiedung einer neuen Satzung nur wenige Wochen später werden die neuen Machtverhältnisse offensichtlich: Der Paritätische unterstellt sich mit dieser vollständig der NSV, die nun unter anderem über Neuaufnahmen in den Verband entscheidet.

Der Weg in die Selbstauflösung

Bereits ab Ende August 1933 werden durch von Pechmann und von Holbeck zudem Fragebögen an die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen versendet, die der NSV dazu dienen, sich einen Überblick über die Mitgliedschaft des Verbandes zu verschaffen. Nicht jede Mitgliedsorganisation begrüßt die kooperative Haltung des Verbandes gegenüber der NSV. Der Verein Kinderheime e. V. äußert in einem Brief an die zuständige Landes- und Provinzialvertretung sowohl Unmut über die Situation, in der sich die freie Wohlfahrtspflege allgemein befindet, als auch mit der Art der Kommunikation durch den Paritätischen Wohlfahrtsverband: „Verschiedene Vorkommnisse in der letzten Zeit, durch welche die Vermögenslage der Anstalten der freien Liebestätigkeit berührt wird (Erschwerung der Sammlung von Liebesgaben, Verbot von Aufrufen bzw. Kollekten auf Weihnachten) geben der Vermutung Raum, dass für die Tätigkeit derselben z. Zt. kein günstiger Wind weht & schlimmes befürchten lässt. Es wäre uns sehr von Interesse zu erfahren, was dort in der Sache bekannt ist.“

Die vom Verein Kinderheime e. V. aufgeworfenen Fragen kann die Verbandsleitung nicht zufriedenstellend beantworten. Die Mitgliedsorganisation zieht entsprechende Konsequenzen, tritt aus dem Paritätischen aus und verhandelt mit der Inneren Mission über einen möglichen Beitritt. Im Jahr 1933 verliert der Paritätische Wohlfahrtsverband 186 Mitgliedsorganisationen. Allein 78 der ausgetretenen Organisationen lösen sich auf.

Spätestens im Dezember 1933 scheint die Eingliederung der Paritätischen Mitgliedsorganisationen in die NSV beschlossene Sache zu sein. Erich Hilgenfeldt versendet entsprechende Richtlinien an die Landes-, Gau-, Kreis- und Gruppenverwalter der NSV und erläutert darin, dass es sich beim Paritätischen lediglich um einen wirtschaftlichen Zweckverband für ansonsten juristisch selbständige Vereine handele. Eine Funktion, die zeitnah seine NSV übernehmen werde. Die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen sollen „gleichgeschaltet“ werden, indem sie entweder nach einer Prüfung direkt in die NSV übergehen oder als korporative Mitglieder beitreten. Die Entscheidungsträger in den jeweiligen Mitgliedsorganisation müssen dabei unbedingt das Vertrauen der NSDAP genießen.

In den folgenden Monaten wird die „Gleichschaltung“ des Verbandes auf allen Ebenen zügig vorangetrieben: Die Landes- und Provinzialvertretungen des Paritätischen werden instruiert, die ihnen angeschlossenen Einrichtungen über die Anforderungen einer Aufnahme in die NSV zu informieren. Neben politischer Zuverlässigkeit verlangt die NS-Wohlfahrtsorganisation u. a. die Pflicht zu Gehorsam gegenüber ihren Anweisungen in den Satzungen festzuschreiben. Die Landes- und Provinzialvertretungen werden angewiesen, ihre Akten, Einrichtungsgegenstände und selbst aufgebrachten Geldmittel, für die es keine Verwendung gibt, der jeweiligen Landesleitung der NSV zu übergeben. Die endgültige Abwicklung des Paritätischen steht nun unmittelbar bevor.

Erich Hilgenfeldt ordnet am 30. Mai 1934 schließlich die Auflösung des Paritätischen als „selbständige juristische Persönlichkeit“ und die Löschung des Verbands aus dem Vereinsregister an. Die Rechte und Pflichten des Verbandes und die ihm angeschlossenen Mitgliedsorganisationen werden vom Amt für Volkswohlfahrt übernommen und in dessen Abteilung III integriert. Für die Anstalten und Heime wird dort ein gesondertes Referat eingerichtet, welches Karl Mailänder verantwortet.

Vor diesem Hintergrund hat die am 23. Juni 1934 einberufene Mitgliederversammlung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes nur noch die Aufgabe, die Selbstauflösung formal zu beschließen. Dieser Aufgabe kommt sie nach.

Ungebrochene Karrieren und Beteiligung an NS-Verbrechen

Einige zentrale Akteur*innen des Verbandes erhalten nach der Selbstauflösung des Paritätischen Positionen an Scharnierstellen des nationalsozialistischen Wohlfahrtsstaates. Otto von Holbeck etwa wird Mitarbeiter im Amt für Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe des Hauptamts für Volkswohlfahrt der NSDAP. Das frühere Vorstandsmitglied Fritz Rott wird stellvertretender Führer der Reichszentrale für Gesundheitsführung im Reichsministerium des Innern.

Beim Wiederaufbau des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges spielen Personen eine zentrale Rolle, die z. T. umfassend in NS-Verbrechen verwickelt waren. Dabei handelt es sich um Persönlichkeiten, die in der jungen Bundesrepublik hohe Anerkennung genießen und mit zahlreichen Ehrungen bedacht werden. Fragen zu ihren Aktivitäten während der Zeit des Nationalsozialismus werden nicht gestellt.

So zum Beispiel Karl Mailänder, der nach der Wiedergründung des Paritätischen Gesamtverbandes Teil des Vorstandes wird, ab 1959 für ein Jahr sogar Vorsitzender des Verbands. Zudem übernimmt Mailänder bereits 1947 den Vorsitz des wiedergegründeten Paritätischen Landesverbandes Württemberg-Baden (später Landesverband Baden-Württemberg). Mailänder setzt sich in der NS-Zeit offensiv für eine Fürsorgepolitik nach nationalsozialistischen Prinzipien ein und trägt auch persönlich Verantwortung für den Tod von Menschen. Für das Jahr 1944 kann beispielsweise seine Mitverantwortung für die Deportation von Sinti*zze und Rom*nja in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau nachgewiesen werden. Von den 39 Kindern, für deren Deportation er die Zusage erteilt, überleben wohl nur vier. Von 21 ist die Ermordung zweifelsfrei dokumentiert. Belangt wird er hierfür nie.

Der Ehrenvorsitzende des 1949 wieder gegründeten Paritätischen Gesamtverbands, Wilhelm Polligkeit, gilt in Bezug auf seine Aktivitäten während des Nationalsozialismus zunächst als unbelastet. Der Gesamtverband benennt seine 1962 eröffnete Geschäftsstelle, die darüber hinaus auch Bildungsstätte ist, nach dem Ehrenvorsitzenden Wilhelm-Polligkeit-Institut. Eine posthume Würdigung Polligkeits stellt die vom Paritätischen gestiftete Wilhelm-Polligkeit-Plakette dar, die im Oktober 1961 erstmals vergeben wird.

Polligkeits hohes Ansehen erfährt erst Ende der 1990er Jahre eine Revision. Eine im Jahr 2001 an der Universität Bremen eingereichte Dissertation macht deutlich, dass das bisherige Bild, Polligkeit habe sich in der NS-Zeit an die Universität zurückgezogen und dort unpolitische Forschungen betrieben, nicht haltbar ist. Nach der Vorstellung der vorläufigen Ergebnisse beschließt der Paritätische Gesamtverband, sich von Polligkeit als Leitfigur zu trennen. Das Wilhelm-Polligkeit-Institut wird in Haus der Parität umbenannt. Die Vergabe der Wilhelm-Polligkeit-Plakette wird eingestellt.