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Ausgabe 01 | 2024: 100 Jahre Der Paritätische
Schwerpunkt
David Ausserhofer

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock im Interview

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock ist seit 2012 der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbandes. Zwölf Jahre, in denen viel passiert ist, die Prof. Dr. Rosenbrock begleitet und mitgestaltet hat. Aber auch zuvor hatte er ein bewegendes und spannendes Leben. Es war an der Zeit für ein großes Interview.

Herr Prof. Dr. Rosenbrock, wir alle kennen Sie als aktuellen Vorsitzenden des Paritätischen Gesamtverbandes. Was haben Sie eigentlich davor gemacht?

Ich wurde durch die Studentenbewegung Ende der 60er Jahre politisiert. Das hat mich nachhaltig für das Problem von Ungerechtigkeit und der sozial bedingten Ungleichheit von Chancen sensibilisiert. Danach habe ich auch mein Studium ausgerichtet, das mich über die Betriebswirtschaftslehre zur Volkswirtschaftslehre, über die Politologie zur Soziologie führte. Ich habe sehr früh angefangen, interdisziplinär zu denken und zu forschen. Außerdem hatte ich das Riesenglück, dass ich mich in meiner gesamten beruflichen Laufbahn im Wissenschaftsbetrieb eigentlich immer Themen und Tätigkeiten widmen konnte, die mit meinen Überzeugungen in Übereinstimmung zu bringen waren. In meiner Dissertation habe ich mich kritisch mit den Praktiken der Pharmaindustrie auseinandergesetzt. Anschließend war ich über 30 Jahre am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung beschäftigt und konnte dort eine Arbeitsgruppe Public Health aufbauen und jahrzehntelang leiten sowie den Studiengang Public Health an der TU Berlin mitaufbauen. Je tiefer man in das Problem der Gesundheit eindringt, desto klarer wird, wie eng die gesamtgesellschaftlichen Verteilungsfragen, wie eng Bildungspolitik und Wohnungspolitik mit Gesundheitspolitik zusammenhängen. Deshalb habe ich in allen Forschungsprojekten gesundheitliche und gesundheitspolitische Fragen unter dem Aspekt betrachtet, wie sie auf Ungleichheit wirken, ob Entwicklungen, Prozesse und Maßnahmen der Politik die Ungleichheit verringern oder vergrößern. Und wie wir wissen, vergrößert sich die Ungleichheit laufend. Und das ist schlecht für die Gesundheit und Lebenserwartung der Bevölkerung, am stärksten für die Armen, aber das zieht sich durch alle Schichten durch. Wird aber von der Politik beharrlich ignoriert. Von daher war es am Ende meiner beruflichen Tätigkeit naheliegend, mich nach einem Ehrenamt umzusehen, wo auch diese Frage im Mittelpunkt steht oder zumindest eine große Bedeutung hat. Erfahrungen im zivilgesellschaftlichen Umfeld hatte ich seit Langem als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V., Mitglied im Paritätischen und Veranstalter des jährlichen Kongresses ‚Armut und Gesundheit‘, der sich aus einer studentischen Initiative zur größten Public Health Veranstaltung in Deutschland entwickelt hat.

Wie hat sich Ihr Forschungsfeld über die Jahrzehnte gewandelt?

Zu Beginn habe ich über Probleme der Krankenversorgung und der Arzneimittelversorgung, der Krankenhauspolitik, der Politik der Ärztehonorare und strukturellen Fragen des Gesundheitswesens geforscht. Es wurde aber immer stärker deutlich, dass die wichtigen Fragen der Gesundheit für den Einzelnen, die Einzelne und die Bevölkerung sich eigentlich vor dem Gang ins Krankenversorgungssystem entscheiden. Es geht also um die Gestaltung von Lebenswelten und die Gestaltung von Teilhabechancen. Das ist der eigentliche Kern der Gesundheitspolitik. Im Sachverständigenrat der Bundesregierung und den zahlreichen weiteren Gremien der Politikberatung auf Bundesebene, in die ich berufen worden bin, habe ich diesen Ansatz vertreten, fachlich erfolgreich, politisch wenig wirksam. Mit diesem Vorwissen habe ich mich dann entschlossen, 2012 für den Vorsitz des Paritätischen Gesamtverbandes zu kandidieren, und war sehr froh und dankbar, dass mir diese Chance gegeben wurde. Es lag für mich sehr nahe, beim Paritätischen zu arbeiten, weil die Themen soziale Ungleichheit, Spreizung der Gesellschaft sowie vor allem Armut als schlimmste Ausdrucksform von gesellschaftlicher Ungleichheit hier eben auch eine sehr große Rolle spielen und ich hier auf viele Kolleginnen und Kollegen gestoßen bin, die dieser Frage auch nicht nur einfach aus arbeitsvertraglichen Gründen nachgehen, sondern weil es ihnen selber am Herzen liegt. Das ist auch der wichtigste Grund dafür, dass ich mich im Verband und im Verbandsgeschehen so wohlfühle.

Sie haben auch eine Zeit als Student in Chile verbracht, und auch das hat einen politischen Aspekt. Könnten Sie das erklären?

Als ich mich dem Examen näherte, wurde in Chile 1970 in freien und demokratischen Wahlen ein sozialistischer Präsident gewählt. Der sprach nicht nur über den Sozialismus, sondern setzte diesen auch durch Enteignung und Neu-Verteilung von großen Landgütern, der großen Kupferminen, aber auch in den Bereichen Bildungspolitik, Frauenemanzipation und der Siedlungspolitik tatkräftig um. Das war eine Regierung, die demokratisch gewählt war, die die Gewaltenteilung und die Grundrechte garantierte und die politischen Kontroversen in der Koalition der Unidad Popular ehrlich und öffentlich führte. Das war die Form des Sozialismus, die ich mir immer vorgestellt habe. Daran wollte ich mitwirken. Deswegen habe ich für meine Doktorarbeit ein Thema über die chilenische Wirtschaftspolitik gewählt und dafür ein Stipendium erhalten. Ich war hoch motiviert, das auch zu machen. Allerdings war es so, dass am 11. September 1973 die chilenische Armee mit Unterstützung der USA den demokratischen Präsidenten stürzte und ermordete. Genau an dem Tag bin ich gerade aus Berlin abgereist. Ich habe dann trotzdem die Reise unternommen und bin im Oktober 1973 – fünf Wochen nach dem blutigen Putsch – in Chile angekommen. Da war aber mit Forschung zu sozialistischer Wirtschaftspolitik nichts mehr, da war faschistischer Terror. Ich habe dann zehn Monate im Lande im Kontakt mit den im Untergrund tätigen Resten der zerschlagenen und verfolgten Parteien der Unidad Popular humanitäre Arbeit geleistet. Ich hatte Zugang zu mehreren Gefängnissen und habe – in einer kleinen Gruppe vier junger deutscher AktivistInnen - viele verfolgte Menschen versteckt und in die Botschaften gebracht, damit sie Asyl bekommen konnten. Wir haben auch mit dafür gesorgt, dass das, was in Chile passierte, in die deutsche und die internationale Presse kam. Danach führte mich allerdings mein Weg nicht – wie ursprünglich geplant -  zurück nach Chile, sondern in die Wissenschaft, nach einigen Zwischenstationen zum Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Dr. Sigrun Paas
1974 in Santiago de Chile

In den 90ern waren Sie dann wiederum politisch aktiv bei der Bekämpfung der Aids-Epidemie. HIV ist heute kein Todesurteil mehr, zumindest wenn man die richtigen Medikamente bekommt. Sehen Sie darin auch ein Verdienst von Ihnen?

Das wäre sicherlich zu viel gesagt, aber ich war als Gesundheitswissenschaftler natürlich gefordert, etwas dazu zu sagen, wie man mit dieser Epidemie umgeht. Damals standen sich verschiedene Präventionsmöglichkeiten gegenüber. Eine Variante war die des bayerischen Staatssekretärs Gauweiler, also Isolierung, Diskriminierung, Ausgrenzung und auch direkte Verfolgung von Erkrankten. Die andere Variante war die Anwendung des Wissens und der Konzepte des Fachs, das ich gerade mit aufbaute: New Public Health. Ich habe das die ‚gesellschaftliche Lernstrategie‘ (im Gegegnsatz zur ‚individuellen Suchstrategie‘)  genannt, eine Strategie, bei der die verantwortlichen staatlichen Stellen in gleichberechtigter Kooperation mit der Zivilgesellschaft, den basisdemokratischen Aidshilfen einen direkten Zugang zu den Zielgruppen gewinnen und auf diese Weise die Prävention nachhaltig wirksam werden kann. Diese Strategie hat politisch gewonnen, und sie war auch epidemiologisch extrem erfolgreich. Wir haben heute um die 3000 Neuinfektionen mit HIV pro Jahr. Viel geringer wird man die Zahlen nicht kriegen können. Mit der Medikation zusammen, die es inzwischen in Deutschland durchgängig gibt, hat HIV seinen Schrecken verloren. Das war aber sicherlich nicht das Werk Einzelner. Das war eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung, bei der ich auf der einen Seite stand und versucht habe, diese Seite stark zu machen. Aber das Wesentliche war natürlich, dass es damals gelungen ist, über die hoch vulnerablen Gruppen der schwulen Männer, der i.v.-Drogenbenutzer und der Prostituierten sozusagen einen Kordon der Solidarität zu legen, das es verhinderte, ihre jeweilige Vulnerabilität für populistische Repressionen auszunutzen.

Jetzt kommen wir endlich zu Ihrem derzeitigen Amt. Sie sind dann sozusagen im besten Rentenalter noch mal Vorsitzender des Paritätischen geworden? Sie haben bereits ein paar Sachen dazu gesagt. Was war Ihre Motivation dazu?

Ich fühlte mich einfach noch viel, viel zu jung, um das Arbeiten ganz aufzuhören. Ich habe auch am Wissenschaftszentrum zwei Jahre länger gearbeitet, als es die Rentenversicherung von mir verlangte. Ich wollte dann aber auch ein wenig den Fokus verschieben. Als Wissenschaftler ist man ja gewissermaßen immer wie die schlaue Eule, die oben auf der Fichte sitzt und guckt, was unten alles passiert und das dann alles sortiert. In einem Verband der freien Wohlfahrtspflege geht es um die Arbeit am Programm und Profil, auch um Lobbyarbeit. Es geht um direkte und indirekte Unterstützung der Betroffenen, es geht um direktes Empowerment für Menschen, die in Not oder sehr beengten Lebenslagen sind. Diese Verschiebung des Sichtwinkels von der Analyse weg, hin zur direkten Politikbeeinflussung, das hat mich sehr gereizt. Und auch diese Hoffnung ist im Verband in Erfüllung gegangen.

Bildschön/Trenkel
Beim Neujahrsempfang des Bundespräsidenten Dr. Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender 2024

Warum wurde es der Paritätische und nicht ein anderer Wohlfahrtsverband?

Der Paritätische ist mir immer schon aufgefallen, als der Wohlfahrtsverband, der eine im guten Sinne liberale Politik verfolgte und konsequent Armut und Benachteiligungen thematisierte, und zwar in meiner Wahrnehmung stärker als die anderen Verbände der freien Wohlfahrtspflege. Mental war ich dem Verband schon lange verbunden durch eine sehr lange und freundschaftliche Beziehung mit der früheren Vorsitzenden Barbara Stolterfoht, die mich auch immer dazu ermuntert hat zu überlegen, in diesem Bereich aktiv zu werden.

Wie haben Sie den Wandel des Verbandes in Ihrer Zeit seit 2012 so mitbekommen? Was waren die einschlägigen Veränderungen?

Der Paritätische Wohlfahrtsverband steht aus meiner Sicht programmatisch und auch personell und institutionell auf sehr soliden Füßen. Die Änderungen, die ich erlebt habe, waren vor allem solche, die von außen gefordert waren und die den Verband als reaktionsstark und resilient erwiesen haben. Recht bald nach meinem Amtsantritt wurde ich turnusmäßig für zwei Jahre Präsident der BAGFW, und dann kam die Herausforderung der Flüchtlingszahlen im Jahre 2015. Bei ihrer Bewältigung hat die gesamte Freie Wohlfahrtspflege eine sehr gute Rolle gespielt. Damit bekamen auch die Bereiche Migration, Integration und interkulturelle Öffnung einen neuen Schub im Verband, weil plötzlich eine Million Menschen da waren, die irgendwie versorgt werden mussten, obgleich sie die Sprache, die Kultur, die Sozialsysteme, den Arbeitsmarkt und alles das nicht kannten. Das war die erste Zäsur. Die zweite war das Wiedererstarken reaktionärer und rechtsradikaler Kräfte. Die unseren programmatischen Zentralwert der Gleichwürdigkeit aller Menschen aktiv bekämpfen und mit denen es auch keine Kompromisse geben kann. Ich glaube, hier ist der Verband in meiner Sicht gut positioniert und leistet eine sehr gute Arbeit, die freilich die gesamtgesellschaftlich riesigen Defizite aktiver Entlarvung und Gegenwehr allein natürlich nicht kompensieren kann. Dann habe ich miterlebt, wie die Klimafrage langsam an Schärfe gewann und wie der Paritätische auch in Zusammenarbeit mit den anderen Verbänden und in den relevanten Bündnissen das Konzept der sozialökologischen Wende mitentwickelt hat. Es ist ja eine nicht abgeschlossene Entwicklung, die wir da erleben und es wird spannend, ob es uns gelingt, die unerlässliche Bedingung des sozialen Ausgleichs bei der ökologischen Wende durchzusetzen. Das wird nicht leicht sein.

Gibt es etwas, worauf Sie in Ihrer Zeit als Vorsitzender besonders stolz sind?

Ich glaube nicht, dass ich ein großer profilgebender Vorsitzender war oder bin. Ich habe in meiner Arbeit die Stärken des Verbandes – seine Orientierung an Basisdemokratie und den Prinzipien Gleichwertigkeit, Vielfalt, Offenheit und Toleranz, sowie das daraus folgende antirassistische und sozialpolitische Profil – versucht stärker zu machen und offen für alles Neue zu sein. Fachlich hoffe ich, dass es mir gelungen ist, klarzumachen, dass die Verbindung zwischen sozialer Arbeit auf allen Feldern und gesundheitlicher Intervention sehr viel enger sind, als die Beteiligten es oft wahrnehmen. Da ist einmal die gemeinsame Abhängigkeit von den gleichen großen sozialen Determinanten, die durch Interventionen oft nur unzureichend kompensiert werden können. Und auch auf der Interventionsebene gilt: Gute soziale Arbeit ist immer auch Gesundheitsförderung, weil sie die persönlichen Ressourcen stärkt, weil sie zu Empowerment führt. Und gute Gesundheitsförderung kommt zunehmend weniger ohne gute soziale Arbeit aus. Diesen gesundheitlichen Akzent in der Arbeit des Paritätischen stärker bewusst zu machen, das war eines meiner Absichten, als ich gewählt wurde. Ob das nachhaltigen Erfolg hat, wird die Zukunft zeigen.

Stephanie von Becker
Prof. Dr. Rosenbrock zwischen Mitgliedern des ASB beim Christopher Street Day 2023 in Berlin.

Sie werden ja nicht wieder für den Vorsitz kandidieren. Welchen Rat würden Sie Ihrer potenziellen Nachfolgerin oder potenziellen Nachfolger geben?

Vor allen Dingen glaube ich an die Weiterführung des Ansatzes, den ich auch hier erlebt habe. Den Mitgliedsorganisationen und auch den im Verband arbeitenden Menschen Möglichkeiten zu geben, so weit wie möglich ihren eigenen Vorstellungen selbstständig nachzugehen. Die Referentinnen und Referenten im Verband haben nach meiner Beobachtung nicht nur eine hohe Motivation und Kompetenz, sondern auch kognitiv und emotional einen sehr guten Zugang zu den Problemgruppen und Problemen, die sie bearbeiten. Diese Kreativität zu heben und dafür zu sorgen, dass Innovationen, die in einzelnen Mitgliedsorganisationen gefunden werden, schnell ihren Weg zur Verallgemeinerung finden, ist glaube ich, die wichtigste Aufgabe eines Vorsitzenden neben der Repräsentation nach außen, der Orientierung nach innen und der Aufgabe, die Gremien so zu führen, dass überflüssige Konflikte vermieden werden. Konflikte müssen sein, auch Kontroversen müssen sein, aber etliche kann man sich sparen, wenn man rechtzeitig vernünftig miteinander redet.

Letzte Frage: Was werden Sie denn jetzt stattdessen machen, wenn Sie nicht mehr Vorsitzender sind?

Mein Mann ist auch gerade pensioniert worden, und wir sind nun dabei, unser Leben neu zu sortieren. Wir haben einen Garten im Oderbruch, und bislang waren wir immer in der Woche in Berlin und am Wochenende und dem Großteil der Schulferien im Oderbruch. Dieser Zwang hat sich jetzt aufgehoben. Es gibt noch einige Reisen, vor allen Dingen auch in Deutschland, die ich antreten möchte und viele Plätze, die es noch zu entdecken gibt. Dann spielt nach wie vor auch bei meinem Partner und mir die große Nähe zu Kunst und Musik eine große Rolle.

Dabei wünschen wir viel Spaß. Vielen Dank für das Interview!

Das Interview führte Philipp Meinert

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