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Ausgabe 01 | 2024: 100 Jahre Der Paritätische
Schwerpunkt
Ein Plakat der Volkssolidarität aus dem Jahr 1959 aus der damaligen DDR. In der BRD musste die Volkssolidarität sich neu erfinden.

Von einem System ins andere

Die Volkssolidarität. In der DDR war sie eine Massenorganisation mit Monopolstellung, im wiedervereinigten Deutschland musste sie sich sprichwörtlich über Nacht neu erfinden und stand in Konkurrenz zu vielen anderen Wohlfahrtsangeboten. Der Prozess war nicht leicht. Zwei Zeitzeugen berichten.

Dr. Wolfram Friedersdorff ist nach wie vor vielseitig interessiert. Als er zum Interview angerufen wird, liest der ehemalige Vorsitzende und heutige Ehrenpräsident der Volkssolidarität gerade eine medizinische Studie. Er unterbricht seine Lektüre und berichtet ausführlich aus seinem bewegten Leben. Dr. Friedersdorff war schon einiges. Kommunalpolitiker, Staatssekretär, Bezirks- und Oberbürgermeister sind nur ein paar seiner Stationen. Zunächst einmal begann alles an der Uni, erzählt der 73-Jährige am Telefon: „Vor der Wende war ich Hochschullehrer für Ökonomie und Entwicklungsländer und Statistik.“ Mit der Volkssolidarität kam Dr. Friedersdorff schon früh in Kontakt. In seinem damaligen Wohngebiet war ein sogenannter „Club der Volkssolidarität“. Diese Clubs gab es im gesamten Staatsgebiet der DDR. Dort konnten besonders ältere Menschen Mittag essen oder an Bildungs- und Kulturangeboten teilnehmen. Dr. Friedersdorff selbst hielt auch gelegentlich Vorträge zu den Themen Statistik und Entwicklungshilfe in den Clubs. Mitglied der Volkssolidarität war er zunächst jedoch nicht. Erst als er in den 90er Jahren Bezirksbürgermeister von Lichtenberg war, intensivierte sich der Kontakt.

Ein Plakat der Volkssolidarität von 1986

­­Auch Dr. Bernd Niederland hat den Sozialverband geprägt. Er war 10 Jahre lang Direktor des Instituts für Lehrerbildung und hat in Potsdam Grundschullehrer*innen ausgebildet. Das Institut wurde mit dem Ende der DDR geschlossen. Über einen Umweg bei einem Bildungsträger fand er schließlich 1993 eine Ausschreibung für den Geschäftsführerposten der Volkssolidarität Brandenburg. „Da habe ich mich beworben und wurde genommen.“ Ab 1997 war Dr. Niederland dann auf dem Posten des Bundesgeschäftsführers des Verbandes und später auch im Vorstand des Paritätischen Gesamtverbandes. Im Gegensatz zu Dr. Friedersdorff war er bereits Mitte der 80er Jahre Mitglied der Volkssolidarität, „aber ohne größeres Engagement“, wie hinzugefügt wird. Tatsächlich waren auch viele Jüngere aus Solidarität mit der älteren Zielgruppe Mitglieder bei der Volkssolidarität. 2010 brachte er sein Buch „Soziales Sozialpolitik Solidarität Volkssolidarität“ heraus, in dem unter anderem jener Transformationsprozess beschrieben wird.

Dr. Wolfram Friedersdorff

Der Verband gründete sich, wie viele Wohlfahrtsverbände, nach dem 2. Weltkrieg, um die harten Folgen der Nachkriegszeit für die Bevölkerung zu lindern. Anfang der 50er Jahre wurden die Einrichtungen vom ostdeutschen Staat übernommen und hatten – abgesehen von ein paar kirchlichen Organisationen – das Quasi-Monopol auf Wohlfahrt in der DDR. Der Schwerpunkt lag bis zum Mauerfall auf der Hilfe für ältere Menschen. Der Monatsbeitrag lag bei leistbaren 20 Pfennig. In ihren Hochzeiten hatte die Volkssolidarität zwei Millionen Mitglieder. „Es gab Wanderbewegungen, es gab Chöre, es gab Briefmarkensammler, Hobbyfotografen, Maler und vieles anderes“, zählt Dr. Friedersdorff auf. Der Schwerpunkt lag dabei auf Teilhabe und Freizeit. Medizinische Dienstleistungen wie Altenpflege bot der Verband noch nicht an. „Wir waren für ältere Menschen ein Begleiter von der einen Gesellschaftsform in die andere. Das ist der Volkssolidarität in wesentlichen Teilen auch gelungen“, beschreibt Dr. Niederland die Bedeutung der Volkssolidarität in der für viele Menschen unsicheren Zeit nach dem Mauerfall. Hierbei erwähnt Niederland ausdrücklich, die mit großer öffentlicher, auch politischer Aufmerksamkeit bedachten, in Auftrag gegebenen Studien zur sozialen Lage in den ostdeutschen Bundesländern, welche die Volkssolidarität bis 2009 herausgaben.

Um 1990 herum verließen viele Mitglieder die Volkssolidarität. „Viele sahen keinen Sinn mehr darin, Beiträge zu bezahlen und sich zu engagieren“, erinnert sich Dr. Friedersdorff. Letztendlich hatte die Volkssolidarität Anfang der 1990er Jahre noch ca. 800.000 Mitglieder. Das war immer noch eine sehr große Zahl, aber in Relation zu einstiger Größe ein deutlicher Verlust. Der Verband stand nun im marktwirtschaftlichen Deutschland vor Herausforderungen: Die zahlreichen Clubs der Volkssolidarität wurden nicht mehr staatlich subventioniert und mussten frei finanziert werden. Vielen gelang das nicht und sie mussten geschlossen werden, etwa 650 existierten weiter. Der fahrbare und stationäre Mittagstisch, den die Volkssolidarität seit vielen Jahren anbot, konnten dank finanzieller Zuwendung der Übergangsregierung aufrechterhalten werden. Nach Auffassung von Niederland war das in gewisser Weise die Keimzelle der sozialwirtschaftlichen Entwicklung der Gliederungen des Verbandes unter den neuen Bedingungen.

Gleichzeitig kamen neue Aufgaben. Man bot bei der Volkssolidarität nun auch unter anderem Altenpflege und Kindertagesbetreuung an. Dafür musste der Verband seine Strukturen professionalisieren. Viele Angebote wurden bisher von Ehrenamtlichen geleistet. Dies war nicht mehr möglich und es mussten Fachkräfte für die neuen Aufgaben eingestellt werden. „Das Spannungsverhältnis bestand lange Zeit im Verhältnis zwischen Mitgliederverband und professioneller Struktur“, so Dr. Friedersdorff.

Doch nicht alle wollten die Volkssolidarität erhalten. „Vom damaligen CDU-Ministerpräsidenten Vogel gab es die klare Aussage: Weg damit!“ erinnert sich Dr. Friedersdorff und lacht. Die Volkssolidarität galt bei einigen als der Wohlfahrtsverband der SED, der im vereinigten Deutschland nichts zu suchen hatte. In der Mitgliedschaft war die Meinung geteilt: Einige Mitglieder schlossen sich anderen Wohlfahrtsverbänden wie der AWO an, andere wollten die Tradition der Volkssolidarität erhalten. Dr. Friedersdorff erinnert sich an ein Beispiel für eine besonders kämpferische Mitgliedschaft: „In Rostock hat es damals eine starke Mitgliederbewegung gegeben. Es gab sogar eine Demonstration für den Erhalt der Volkssolidarität. Das waren engagierte Leute, die deutlich gemacht haben, dass sie nicht von den anderen Wohlfahrtsverbänden geschluckt werden wollen.“

Dr. Niederland bei einer Plakataktion im Jahr 2008

Kurios war es in Chemnitz, dem früheren Karl-Marx-Stadt. Dort wurden die bislang staatlichen stationären Pflegeeinrichtungen an Verbände und private Träger vergeben, die Volkssolidarität ging leer aus. Dann aber wurde ein privater Pflegeanbieter insolvent und die Volkssolidarität übernahm. Nun war sie weiterhin trotz anderer politischer Pläne in der sächsischen Großstadt präsent. „Die haben das übernommen und schwarze Zahlen geschrieben. Inzwischen ist es sogar ein riesiger Betrieb mit vielen Einrichtungen und einem hohen Umsatz geworden“ freut sich Dr. Friedersdorff heute noch. Ein Verdienst des damaligen lokalen Geschäftsführers Andreas Lassek, ergänzt er noch. Der ehemalige DDR-Wohlfahrtsverband kann also auch im Kapitalismus bestehen.

Ab Mitte der 1990er entspannte sich auch das Verhältnis zur Politik, erinnert sich Dr. Niederland: „Der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe von der SPD war der Volkssolidarität gegenüber aufgeschlossen.“ Zweifler gab es bei den Sozialdemokraten weiterhin, aber die setzten sich nicht durch.

Bereits Anfang der 1990er Jahre entstanden auch erste Kontakte zum Paritätischen Gesamtverband. Paritäter*innen reisten durch Ostdeutschland und halfen bei westdeutschen Formalitäten, etwa bei der Gründung einer GmbH in den Kreisorganisationen. „Da war der Paritätische auch immer ein weitsichtiger und kluger Wohlfahrtsverband mit den richtigen Persönlichkeiten“, lobt Dr. Niederland. Besonders hervor hebt er den Vorsitzenden, Prof. Dr. Dieter Sengling. Spätere Vorsitzende wie Barbara Stolterfoth und Dr. Eberhard Jüttner hat er ebenfalls in guter Erinnerung. Vielgestaltige Unterstützung erhielt der Bundesverband der Volkssolidarität auch durch die Hauptgeschäftsstelle des Paritätischen Gesamtverbandes und deren Mitarbeiter*innen, namentlich durch den Hauptgeschäftsführer Herrn Dr. Schneider.

Dr. Friedersdorff

Auch wenn die Volkssolidarität im neuen Jahrtausend thematisch breit aufgestellt ist, liegen ihr die älteren Menschen noch besonders am Herzen. Dies ist auch ein Verdienst von Dr. Friedersdorff. Als er 2014 Präsident der Volkssolidarität wurde, trieb ihn das Thema besonders um: „Mich hat zu diesem Zeitpunkt auch –zugespitzt gesagt– die Diskriminierung und Diffamierung von Älteren gestört.“ Dies begründet er mit den Erfahrungen vieler Menschen mit Frühverrentungen, den immer wiederkehrenden Rentendebatten und einem gesellschaftlichen Blick auf die ältere Generation als bloßer Kostenfaktor. Die Leistungen älterer Menschen im Ehrenamt, für den familiären Zusammenhalt und ihr kreatives Potenzial finden bestenfalls in Sonntagsreden Erwähnung. Schließlich machte Dr. Friedersdorff dies zu seinem Thema als Präsident des Verbandes, auch um es in die Breite zu tragen: „Die Möglichkeit zu haben, bundespolitisch noch einmal Einfluss zu nehmen, war mir schon wichtig.“ So trieb er in seiner Amtszeit vieles um das Thema Altern voran, unter anderem auch die Wertschätzung der Pflegearbeit, insbesondere für tarifliche Strukturen in der Pflege. Auch Niederland betont, dass es die Volkssolidarität war, die das Thema Rentenpolitik im Gesamtverband gestärkt habe, denn: „Es spielte zunächst eine eher untergeordnete Rolle.“ Auch in der Pflegepolitik hat sich die Volkssolidarität zunehmend mit ihren Vorstellungen zur Verbesserung der Situation ein gebracht.

Bis heute ist die Volkssolidarität ein Ostverband. Lediglich zwei Standorte in NRW, in Ratingen und Castrop-Rauxel, gibt es in Westdeutschland. Versuche der Westexpansion gab es immer mal wieder, erklärte Dr. Friedersdorff, jedoch gab es vielerorts auch schon Wohlfahrtsverbände vor Ort, die den Markt besetzt haben. „1990 wäre es möglich gewesen, ein Spitzenverband zu werden. Aber dagegen stand vieles, bis hin zu den Interessen des Paritätischen“, lacht Dr. Friedersdorff.

Dr. Niederland

Ist die Transformation trotz Überpräsenz im Osten dennoch gelungen? „Ich glaube ja, auch wegen der (notwendigen) vollzogenen strukturellen Veränderungen“ meint Dr. Niederland. „Das ist schon eine gelungene sozialgeschichtliche Leistung der Volkssolidarität und das sei ausdrücklich gesagt: auch mit Hilfe des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.  Als Sozial- und Wohlfahrtsverband hat die Volkssolidarität in der sozialen bzw. sozialpolitischen Landschaft ihren unverwechselbaren Platz gefunden.“

Philipp Meinert

Weitere Infos

Die Homepage der Volkssolidarität

Die Volkssolidarität auf Facebook, Twitter, Instagram und Youtube.

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