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Ausgabe 05 | 2022: Selbsthilfe
Schwerpunkt
Annbell Fugmann
Die meisten Teilnehmer:innen kommen derzeit aus der Ukraine.

Hilfe auf Russisch

Eine andere Sprache oder eine andere Kultur sind oftmals Barrieren, die von einer vollumfänglichen Hilfe abhalten können. Beim Verein „Die Sputniks“ helfen russischsprachige Menschen anderen russischsprachigen Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen – und bilden so Brücken.

Inna Feygelmann spricht russisch, während sie Zettel an andere Frauen in der Runde verteilt. Sie steht an einer Tischgruppe, die voll mit Keksen, Schokolade und Kuchen beladen ist – jeder hat was mitgebracht. Rundherum sitzen andere Frauen und einige Kinder, einer trägt ein ukrainisches Fußballtrikot. Alle hören ihr zu. Wie Oksana, die übersetzt: „Wir sollen drei Wörter aufschreiben, was ist wichtig, was beschäftigt euch und ist aktuell?“ Wir befinden uns in Dortmund Nord in einem integrativen Kindergarten. Er dient heute als Treffpunkt für die Selbsthilfegruppe für russischsprachige Frauen mit Kindern mit Beeinträchtigungen.

Alle rücken auf: Eine große, blonde Frau kommt rein, Irena, sie ist extra aus einem kleinen Dorf bei Coesfeld gekommen, um bei der russischsprachigen Selbsthilfegruppe dabei zu sein. Im Kinderwagen schiebt sie ihren dreijährigen Wladimir, ein sichtlich beeinträchtigtes Kind, der seine Hände in einer ungewohnten Art hochhält. Später werden wir erfahren, er hat eine Cerebralparese, eine frühkindliche Störung im Gehirn, die mit motorischen Einschränkungen einhergeht.

Oksana trägt ihre Wörter vom Zettel vor: „Sonne, Neuigkeiten, Erwachsensein (Veränderung)“, beim letzten Wort ginge es um ihren Sohn. Die Wörter der Frauen bleiben meist unkommentiert und schon steht der nächste Tagesordnungspunkt an. Die NRW-Geschäftsführerin von den Sputniks, Elena Grabskaya, steht auf und berichtet über den Verein. Der Anlauf ist groß und seit dem Ukrainekrieg noch größer: In den letzten fünf Jahren haben sich etwa 2000 betroffene Familien aus zirka 400 Orten aus allen Bundesländern an Sputnik gewandt, heißt es im Netz. In den letzten fünf Monaten seien 2000 Geflüchtete aus der Ukraine dazugekommen, weiß Grabskaya. Eltern unterstützen sich gegenseitig im Peer-to-Peer-Verfahren (Kommunikation unter Gleichen), bei Behördengängen, Arztbesuchen, Wissensvermittlung und der Pflege ihrer Kinder. Insgesamt gibt es 42 Selbsthilfegruppe, die in Dortmund ist eine davon.

„Es fehlt im System die Beratung für Menschen mit Kindern mit Beeinträchtigung“, berichtet Elena vorher bereits bei einem digitalen Vorgespräch. Dabei seien Kinder mit Beeinträchtigung ein komplexes Thema mit komplexen Beratungsbedarf. Momentan nimmt der Verein an einem Projekt von Aktion Mensch für ukrainische Geflüchtete teil, haben sogenannte Sputnik-Losten ausgebildet, selbstbetroffene Peers, die die Geflüchteten telefonisch oder vor Ort beraten. Momentan hätten sie auch die dreifache Arbeit. Elena weiß Bescheid, hat selbst eine besondere Tochter. „Wir laufen einen Lebensmarathon mit den Stationen: Überlastung, Diagnose, Kliniken, Pflege, Ärzte, Papiere und mehr“, sagt die gebürtige Russin. Bei dem Prinzip der Peerberatung, sei die gemeinsame Identität sowie der russischsprachige Hintergrund eine zusätzliche Stütze für Betroffene, genau wie auch das gemeinsame Schicksal.

Annabell Fugmann
Elena Grabskaya erklärt den TeilnehmerInnen von dem Vereinsleben in Deutschland

Die Schicksale sind vielfältig: wie jene der Familien, die aus Tschetschenien nach Deutschland kämen. „Dort gibt es noch viel Aberglaube und Verurteilung rund um Kinder mit Behinderungen“, berichtet die gebürtige Russin. Solche Kinder gelten als Bestrafung, dass man zu viel Sünde begangen hätte. „Ich habe viele Geschichten gehört von Menschen, die dadurch einfach immer zuhause bleiben.“ Manchmal hat der Verein auch Kontakte zu Menschen im russischsprachigen Raum und versucht, sie herzuholen. Wie Geflüchtete aus der Ukraine oder beispielsweise Freunde von Elena aus Moskau, die trotz zwei sehr guter Akademikerjobs hergekommen sind. Sie durften kommen, da ein Elternteil Spätaussiedler ist. Hier bekommt die Familie bessere Medikamente für ihr Kind, was die Lebenserwartung um zehn Jahre erhöhe.

Wieder wird gerückt, ein Ehepaar kommt und bringt selbstgebackene Kekse und Mirabellen mit – auch Elena rückt etwas auf. „In Deutschland ist das Vereinsleben sehr populär“, erzählt sie in der Runde, Oksana übersetzt. Selbst für Kindergärten oder Schulen hätten die Deutschen Vereine. „Wir brauchen zusätzlich die Mitgliedsbeiträge der Eltern“, sagt sie, um zusätzliche Projekte zu finanzieren. Sie zählt die Vorhaben des Vereins auf, wie die Fahrt einmal im Jahr zu einem Hotel. Auch gäbe es Yoga, Psychologische Unterstützung oder Workshops.

Inna redet jetzt, der offizielle Teil sei vorbei. Jetzt gehe es um das Thema Pflege, übersetzt Oksana. Inna reicht wieder Blätter herum. Eine Formularvorlage: „Antrag zur Hilfe zur Pflege einer ukrainischen Familie mit einem behinderten Kind“. Inna erklärt die unterschiedlichen Schritte, die man in Deutschland gehen muss. Normalerweise sei die Krankenkasse zuständig, aber da die Ukrainer nicht bereits zwei Jahre in die Kasse gezahlt hätten, würde das Jobcenter übernehmen. Ein Mann holt seine Brille heraus und schreibt alles mit, was Inna sagt. Irena schaut neugierig auf den Zettel. Ihr Sohn sitzt auf ihrem Schoß und guckt auf dem Handy Videos mit animierten Händen, die Bewegungen machen.

Annabell Fugmann
Irena ist extra mit Wladimir aus dem Münsterland nach Dortmund gekommen, um sich über die Selbsthilfegruppe zu informieren.

Irena ist im März mit ihren zwei Kindern, darunter der schwerbehinderte Wladimir und ihrem Mann, 3000 km in einem Renault Twingo nach Westdeutschland gefahren. „Das war eine sehr schwierige Reise“, erinnert sie sich später. Ihre Freunde, die sie bei Coesfeld haben, helfen ihnen in vielen Dingen, wird sie später berichten, nur eben ein behindertes Kind hätten sie nicht. Über Facebook habe sie über die Selbsthilfegruppe in Dortmund erfahren.

Wladimir hat mit seinen drei Jahren schon sechs Operationen am Herzen hinter sich. Jetzt hat er seit langem seine Routineuntersuchungen versäumt, die Mutter sorgt sich. Etwas länger dauert es noch bis zum Ultraschall-Termin. In der Ukraine hätte es immer sofort Termine gegeben, dafür musste man vieles selbst bezahlen. Vieles habe sich da gerade erst entwickelt.

Zurück zur Tischgruppe: In der Selbsthilfegruppe erklärt Inna weiter. Nach dem Antrag gäbe es eine Art Kommission, die zur Familie nach Hause käme und den Pflegegrad der Kinder einschätzt, damit man weiß, was sie brauchen und bekommen. Einige Teilnehmerinnen sprechen von ihren Erfahrungen dazu. Gegenüber von Irena sitzt Svitlana. Sie sagt: „Es ist alles gut, schnell und einfach gelaufen.“ Bei anderen Schritten habe sie aber auch lange gewartet, wird sie später berichten.

Svitlana aus Charkiw hat drei Kinder, ihre Tochter hat Diabetes und ihr Sohn Epilepsie und Cerebralparese. „Als wir herkamen, gab es viele Schwierigkeiten, weil wir zum Beispiel nicht wussten, wie wir an Insulin für meine Tochter kommen.“ Ihr habe eine ehrenamtliche Lotsin sehr geholfen, auch bei der Vermittlung einer Wohnung sowie bei den Besorgungen der Medikamente oder der Erstellung der Unterlagen. Dabei wurde deutlich: „Hier ist alles ganz anders“, sagt sie. In Deutschland gäbe es alles, sodass man sich wohlfühlen könne, aber die Wege dahin müsse man erstmal finden. In der Ukraine sei aber alles ein bisschen schneller. In Deutschland würde es dauern: „Unsere Hauptaufgabe war es, warten zu lernen.“

Annabell Fugmann

Bei Menschen mit Migrationsgeschichte ist die Idee der Selbsthilfe nicht sehr bekannt. Das möchte das Projekt „Kultursensible Selbsthilfe: Chancen ermöglichen, Potenziale heben – Anregung und Stärkung gesundheitsbezogener Selbsthilfearbeit“ des Paritätischen NRW ändern. In Selbsthilfegruppen erfahren Menschen mit Erkrankungen oder sozialen Problemen Unterstützung durch Gleichgesinnte. In der aktuellen Projektphase geht es darum, Begegnungen zwischen Selbsthilfeaktiven, Selbsthilfeinteressierten und Selbsthilfeprofis zu ermöglichen. Informations- und Austauschformate sowie Netzwerk- und Kooperationsarbeit sollen den Boden dafür bereiten, kultur- und sprachübergreifend in der Selbsthilfe aktiv zu werden.

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