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Wirtschaftswunderjahre

Rechtsanspruch auf öffentliche Fürsorge

1954 urteilt das Bundesverwaltungsgericht: Bürger*innen haben einen Rechtsanspruch auf öffentliche Fürsorge. In der Folge beschließt der Bundestag ein neues Bundessozialhilfegesetz (BSHG), welches 1962 in Kraft tritt und bis 2004 bestehen bleibt. Sozialhilfe wird dabei als Hilfe zum Lebensunterhalt oder als Hilfe in besonderen Lebenslagen gewährt. Sie soll ein menschenwürdiges Existenzminimum in persönlichen Notfällen sicherstellen, wenn alle anderen Hilfen versagen.

Neue Wege für den Paritätischen

In den Zeiten der Wirtschaftswunderjahre steigt die Zahl der Studierenden an, die getrieben, vom gesellschaftlichen Wandel und getragen vom wachsenden Wohlstand der Wirtschaftswunderjahre, neue Diskurse und so auch neue soziale Wege ebnen.

Zur selben Zeit spiegeln sich in den Debatten des Paritätischen auch die gesellschaftlichen Veränderungen in den Familienstrukturen und Geschlechterrollenbildern wider. Vor allem die steigende Berufstätigkeit von Müttern und die Hilfe für unverheiratete Mütter werden thematisiert.

Der Verband entwickelt sich in den 1960er Jahren immer mehr zu einer Anlaufstelle für neue Bürger*inneninitiativen, die Mitgliedschaft wächst. Es entstehen Organisation wie pro familia, die sich für sexuelle Aufklärung und Beratung zur Schwangerschaftsverhütung einsetzt. Pro familia wird 1966 Mitglied im Paritätischen Gesamtverband und spielt auch eine wichtige Rolle bei den Debatten um das Abtreibungsverbot.

Eine moderne Geschäftsstelle und Fortbildungsstätte

Am 9. Juli 1962 wird nach knapp zweijähriger Bauzeit das Wilhelm-Polligkeit-Institut eingeweiht. Mit dem Bau in der Heinrich-Hoffmann-Straße in Frankfurt-Niederrad entsteht eine moderne Fortbildungsstätte, die zugleich auch Sitz der Geschäftsstelle des Paritätischen Gesamtverbandes ist.

Ursprünglich sollte das Institut bis Oktober 1961 fertiggestellt sein, was aber nicht gelingt. Folglich finden Bildungsveranstaltungen im Gebäude bereits vor der eigentlichen Fertigstellung statt. Im ersten Halbjahr 1962 nehmen bereits mehr als 600 Bildungsinteressierte an den Lehrgängen teil.

Namensgeber des Instituts ist der 1949 zum Ehrenvorsitzenden des Paritätischen Gesamtverbandes ernannte Jurist, Sozialplaner sowie Sozial- und Kommunalpolitiker Wilhelm Polligkeit. Ende der 1990er Jahre erfährt Polligkeits hohes Ansehen eine Revision und das Wilhelm-Polligkeit-Institut wird in Haus der Parität umbenannt. Erfahren Sie mehr zu Wilhelm Pollgkeit und seiner Rolle im Nationalsozialismus.

Hilfe für Kinder mit körperlicher und kognitiver Beeinträchtigung

Bereits zuvor, Ende der 1950er, schließen sich Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen zusammen. Sie sind meist auf sich allein gestellt, ihre Kinder innerhalb der Gesellschaft weitgehend unsichtbar. Darüber hinaus wird die Ermordung von Menschen mit Beeinträchtigungen im Nationalsozialismus gesamtgesellschaftlich nur zögerlich aufgearbeitet.

Dabei gehe es den Eltern laut Helga Kiel, ehemalige Vorsitzende des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. (bvkm), um ein „Anerkennungsrecht und Therapien für ihre Kinder“ sowie das „Ernstgenommen-Werden im Krankenbereich“. Der bvkm wird im Oktober 1959 unter dem Namen Verband Deutscher Vereine zur Förderung und Betreuung spastisch gelähmter Kinder (heute Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V.) gegründet, 1958 die Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind und weitere Elterninitiativen. Sie alle werden über die Zeit wichtige Partner des Paritätischen – der heutige bvkm wird bereits im April 1965 Mitglied im Gesamtverband.

Auch der Contergan-Skandal Anfang der 1960er Jahre lässt auf tragische Art und Weise die Anliegen an Dringlichkeit gewinnen. Schwangeren, denen der Wirkstoff Thalidomid gegen Übelkeit verabreicht wurde und Kinder mit Fehlbildungen gebären oder deren Kinder verstorben sind, organisieren sich mit ihren Partnern in Elterninitiativen wie dem Bundesverband Contergangeschädigter (1963). Nur sechs Jahre nach der Gründung wird der Verband Paritätische Mitgliedsorganisation.

Zudem wird aufgrund dieses Elternengagements 1964 eine Initiative ins Leben gerufen, die bis heute ein wichtiger Partner des Paritätischen ist. Die Aktion Sorgenkind – seit dem Jahr 2000 Aktion Mensch – ist eine Sozialorganisation, die sich durch Lotterieeinnahmen finanziert. Bereits im ersten Jahr ihres Bestehens können rund 1 Million D-Mark Spenden und etwas über 5,3 Millionen D-Mark Lotterieeinnahmen generiert werden. Nur gut zehn Jahre später sind bereits 188 Millionen D-Mark, die an Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen gespendet werden können.

Von der Bildungsexpansion, auch im Paritätischen

Mit der Gründung des Bildungswerkes geht der Paritätische neue Wege: Mitgliedsorganisationen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zeigten seit jeher Interesse daran, zusätzlich zum regulären Angebot auch Bildungsarbeit zu leisten. Jedoch besteht das Problem der Finanzierbarkeit, da es sich bei Bildungsarbeit nicht um Wohlfahrtsarbeit im klassischen Sinn handelt. Aus diesem Grund kommt es 1962 zum Zusammenschluss unterschiedlicher Mitgliedsorganisationen des Paritätischen zum Paritätischen Bildungswerk, welches 1964 schließlich als eigener Verein aufgestellt wird. Um das Problem der Finanzierbarkeit zu lösen, erweitert man den Begriff von Wohlfahrtsarbeit für den Paritätischen Wohlfahrtsverband: Bei Wohlfahrtsarbeit handle es sich nicht mehr ausschließlich um ein Betreuungsverhältnis, sondern auch um die Qualifikation zu selbstständiger Prävention und Nachsorge. Das Bildungswerk stellt damit auch an sich selbst den Anspruch, eine Form der Ermächtigung zur Selbsthilfe für Initiativen zu sein.

Das Programm des Bildungswerks orientiert sich frühzeitig an den Bedürfnissen der Selbsthilfebewegung und gibt in deren Richtung unterstützende Impulse. So ist es etwa maßgeblich an der Frankfurter Krippentagung beteiligt, die 1967 im Wilhelm-Polligkeit-Institut stattfindet und als wesentlicher Ausgangspunkt der Kinderladenbewegung gilt, die sich in dieser Zeit zu formieren beginnt.

Eltern-Kind-Initiativen im Paritätischen

Im Oktober 1967 findet im Wilhelm-Polligkeit-Institut in Kooperation zwischen dem Paritätischen und dem Deutschen Studentenwerk (heute: Deutsches Studierendenwerk), einer Mitgliedsorganisation des Paritätischen, eine Tagung zum Thema Tagesstätten für Kinder von Studenten statt. Der Hintergrund: Nur in drei deutschen Städten gibt es zu diesem Zeitpunkt Kinderkrippen, die auf die Aufnahme der Kinder von Studierenden spezialisiert sind. Im Institut präsentieren die Studierenden nun erstmals Lösungen, die weitgehend auf dem Selbsthilfe-Ansatz basieren.

Die Epizentren dessen, was schließlich unter dem Begriff der Kinderladenbewegung zusammengefasst werden wird, sind mit Stuttgart, Hamburg und Berlin (West) auch die Mittelpunkte der studentischen Protestbewegungen der Zeit. Das Ziel von Kinderläden ist dabei, durch Kollektivierung von Sorgearbeit auch Geschlechterrollen aufzubrechen und Frauen Handlungsspielräume zu eröffnen. Seit Mitte der 1970er Jahre streben die Kinderläden vermehrt die Aufnahme im Paritätischen an. Die weltanschauliche Offenheit des Verbandes erleichtert die gegenseitige Annäherung.

2011 veröffentlicht der Gesamtverband eine Broschüre zu „Elterninitiativen und Elternvereinen als kleine Träger von Kindertageseinrichtungen“ und geht in dieser auch auf die Entstehung von Elterninitiativen in den späten 1960er Jahren ein.