Ulla Klapproth im Interview
Frau Klapproth, wie sind Sie eigentlich in die Wohlfahrt gekommen? Können Sie uns da einen kleinen biographischen Abriss geben?
Das ist eine ziemlich schlichte Geschichte. Ich bin in Frankfurt am Main in relativ bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen und war dort auf einem humanistischen Gymnasium. Die Lehrer dort waren eine eigenartige Mischung aus alten Nazis und jungen engagierten Lehrer*innen. Einer der jüngeren hat eine Theater-AG gemacht, da haben wir ein Stück des sozialkritischen Theatermachers Harold Pinter gespielt. Das war 1968. Das wollten wir spielen, wo es die Leute auch betrifft und haben es im Jugendknast in Rockenberg bei Frankfurt aufgeführt. Ich mit meinem bürgerlichen Hintergrund war vor Ort ob der Verhältnisse sehr geschockt, weil ich dachte, so etwas gibt es nur im Film. Dann habe ich mit meinem Helfersyndrom erst einmal eine Brieffreundschaft mit einem von den Knackis angefangen. Das war im Prinzip der Anfang meines sozialen Engagements. Vorher war ich auch ein bisschen in der Kirchengemeinde aktiv, habe das aber dann schnell beendet. Dann war klar, in welche Richtung ich studieren möchte und habe in Frankfurt Erziehungswissenschaften studiert und da schon parallel in einer Mädchenwohngruppe gearbeitet, was Anfang der 70er Jahre etwas völlig Neues war.
Wie sahen Ihre ersten beruflichen Stationen nach dem Studium aus?
Ich habe verschiedene Stationen durchlaufen, war zunächst Bildungsreferentin des Christlichen Jugendwerkes Deutschlands in Stuttgart. Der dortige Chef hat mich gefragt, warum ich nicht mehr in der Kirche sei und ich habe ihm geantwortet, dass die Kirche in meinen Augen eine der unchristlichsten Vereine ist, die es so gibt. Daraufhin hat er mich sofort eingestellt. (lacht). Dann war ich die einzige Mitarbeiterin im CVJM ohne Kirchenmitgliedschaft. Nachdem dieser Chef weg war, habe ich zurück in Frankfurt in einer Modelleinrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung gearbeitet, die im Team geleitet wurde. Das war zum ersten Mal ein Konzept, das Selbstversorgung in Wohngruppen vorsah und keine Leitung. Ich war u.a. auch zuständig für die Entgeltverhandlungen mit dem Landeswohlfahrtsverband. Dann gab es einen Konflikt zwischen dem formalen Vorgesetzten und mir, weil wir im Konzept stehen hatten, dass die Bewohner*innen natürlich auch einen Anspruch auf das Ausleben ihrer Sexualität haben. Das passte aber einer Angehörigen nicht. Bei der Besprechung der Beschwerde habe ich lockere Sprüche gebracht und dem Vorgesetzten gesagt, ich würde ja auch nicht kontrollieren, was sich in seinem Schlafzimmer abspielt. Das war dann das Ende meiner Tätigkeit dort und ich bin aus formalen Gründen entlassen worden. Den Arbeitsgerichtsprozess habe ich aber gewonnen und habe, wie es damals so üblich war, eine Abfindung bekommen.
Warum haben Sie dann kurzzeitig Deutschland verlassen?
Ich habe überlegt, was mich noch interessiert und habe mich für Entwicklungspolitik entschieden. Mit einem Stipendium der Karl Duisberg-Gesellschaft bin ich ein halbes Jahr nach Burkina Faso gegangen und habe dort in einem sozialen Projekt gearbeitet. Mein Mann hat mich damals auch begleitet. Ein halbes Jahr Trennung wäre ihm zu lang gewesen. Er ist mitgekommen, aber ohne formalen Status, was dann dazu geführt hat, dass ich in Afrika oft gefragt wurde, ob es in Europa üblich wäre, dass der Mann den Haushalt macht.
Gemeinsam haben wir ein Konzept entwickelt für ein Medico Soziales Zentrum. Das haben wir sowohl beim DED als auch bei der GTZ vorgestellt. Dann haben die aber gesagt, wir könnten das in Afrika nur machen, wenn wir heiraten würden. Außerdem würde nur einer von uns einen Arbeitsvertrag bekommen. Das wars dann für uns und wir sind zurück nach Deutschland. Mein Mann hatte in Hannover, ich in Frankfurt studiert. Quasi in der Mitte haben wir nördlich von Kassel eine alte Mühle ausgebaut. 1986 haben wir uns, in West-Deutschland neu, als Medico Soziales Zentrum niedergelassen.
Welche Angebote machte das Medico Soziale Zentrum?
Mein Arbeitsschwerpunkt zu Beginn war Dyskalkulie- und Legasthenie-Therapie sowie Erziehungsberatung. Ich hatte diverse Honorarjobs, mit denen ich mich finanzieren konnte. Mein Mann hat sich als Allgemeinarzt niedergelassen und aus dieser Konstellation ist 1989 der kleine Verein Treffpunkt entstanden, der inzwischen ganz schön groß geworden ist und der von Anfang an einen integrativen Ansatz hatte. Ich kam aus Frankfurt am Main und war schockiert, was es in Niedersachsen alles nicht gibt. Wir haben den integrativen Ansatz nach anfänglichen Schwierigkeiten auf dörflicher Ebene ganz gut hingekriegt, inzwischen ist die Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigungen selbstverständlich. Gleich nach Gründung haben wir uns als Verein dem Paritätischen angeschlossen.
Warum ausgerechnet dem Paritätischen?
Da gibt es im Prinzip eine Antwort im Ausschlussverfahren. Das DRK war uns politisch zu neutral. Das ist überhaupt nicht mein Stil. Kirche kam auch nicht in Frage. Die AWO war zu parteiorientiert und da blieb nicht mehr viel übrig. Positiv formuliert war der Paritätische damals schon der einzige Wohlfahrtsverband, der bereits eine dezidiert politische Aussage tätigte. Von daher war das für uns völlig klar, dass wir dem Paritätischen beitreten. Und dann ging das relativ schnell. Bereits 1990 haben wir integrative Jugendbildungsmaßnahmen im Rahmen des Paritätischen Jugendwerks gemacht. Das war damals eine völlige Novität. Das gabs nicht. 1991 hat der niedersächsische Landesbehindertenbeauftragte, der in Niedersachsen den Rang eines Staatssekretärs hat, damals durchgesetzt, dass die gehandicapten Mitarbeiter einer Werkstatt auch Anspruch auf Bildungsurlaub haben. Dafür gab es aber keine Angebote. Daraufhin haben wir mit einem Partner diese Bildungsangebote geschaffen.
Wo ist bei Ihren Angeboten der Unterschied zu denen, die ich in jedem Reisebüro buchen kann?
Wir haben im Verein Treffpunkt e.V. die Grundprinzipen Partizipation und Teilhabe. Das heißt, wir haben immer die Menschen mit Beeinträchtigung gefragt, was sie interessiert. Der rote Faden, der sich daraus ergab, war, dass sie wissen wollen, wie behinderte Menschen woanders leben. So haben wir das immer als ein Schwerpunkt-Thema gehabt. Wir haben Bildungsurlaube in Deutschland, aber auch in Italien und in Frankreich durchgeführt. Daraus sind auch informelle Partnerschaften zu Behinderteneinrichtungen dort entstanden.
Wie ging Ihre Karriere im Paritätischen Gesamtverband dann weiter?
Beim Paritätischen selbst war ich zunächst auf Kreisverbandsebene aktiv und bin später in den dortigen Beirat gewählt worden. Dann kam 1996 in Niedersachsen die Strukturreform. Seitdem haben wir einen gleichberechtigten hauptamtlichen Vorstand, damals schon paritätisch männlich und weiblich besetzt. Da waren wir auch, glaube ich, Vorreiter in Niedersachsen. 1996 wurde ich damals altersentsprechend als Vertreterin des Paritätischen Jugendwerks in den Verbandsrat gewählt, (s. Foto). Seit 2004 bin ich in der Landesvorsitzendenkonferenz aktiv, dann wurde ich auch in den Verbandsrat des Gesamtverbandes entsandt.
Warum wollten Sie in den Vorstand des Gesamtverbandes?
Das war nicht unbedingt mein Ziel. Es musste aber jemand aus den Landesverbänden rein und dann bin ich von Kollegen angesprochen worden. Wenn man mir das zutraut und mir sagt, dass ich reden und ganz gut formulieren könne und finden, ich solle das doch mal machen, sage ich auch nicht „Nein.“ So bin ich im Vorstand gelandet. Was ich jedoch total wichtig finde: Ich habe jetzt meinen beruflichen Schwerpunkt in meiner Beratungsstelle als rechtliche Betreuerin. D.h., dort und in dem Verein, in dem ich als Honorarkraft arbeite, bekomme ich hautnah die Probleme vor Ort mit. Die kann ich dann auf Landesebene transportieren und einbringen, aber auch durch den Vorstand auf Gesamtverbandsebene öffentlich machen. Das ist es, was mich reizt. Ich habe nicht die Illusion, dass wir wer weiß was in Berlin ändern können. Mein Interesse ist es aber, dass mir zumindest keine Politiker sagen können, sie hätten es nicht gewusst. Ich kann durch meinen Vorstandsposten hier wirklich den Daumen in die Wunde legen und aufmerksam darauf zu machen, woran es hakt und welche Konsequenzen das haben kann. Ebenso reizt mich der sozialpolitische Ansatz, der sich erweitert hat um den ökologischen Aspekt.
Haben Sie es schwer gehabt, sich als Frau durchzusetzen?
Man darf als Frau nicht zu schüchtern sein. Als Frau braucht man eine offensive Herangehensweise und dann funktioniert das auch. Der Paritätische war natürlich klassisch strukturiert und männlich dominiert. Ich weiß noch genau, wie ich zum ersten Mal in der Landesvorsitzendenkonferenz war. Frau Stolterfoth war die Vorsitzende und richtig euphorisch und erfreut, dass es eine weitere Frau in der Vorsitzendenkonferenz gab. Damals gab es in diesen ganzen Funktionen einen großen Männerüberhang. Aber inzwischen ist auch der Vorstand paritätisch besetzt. Daher denke ich auch, das ist ein bisschen Schnee von gestern. Wir Frauen haben natürlich auch eine andere Art, uns durchzusetzen. Es sind nicht so sehr die Ellenbogen. Zumindest habe ich das beim Paritätischen nicht so erlebt, oder nur ganz selten.
Was könnte heute aus Frauenperspektive verbessert werden?
Der Ausbau der Netzwerke, wo es gemeinsame Interessen gibt und wo auch noch mehr Vernetzung nutzen kann. Aber ich glaube, es funktioniert schon ganz gut.
Und welche Wünsche haben Sie noch an den Verband?
Ich hoffe und wünsche dem Paritätischen, dass wir gemeinsam die konsequente Ausrichtung auf eine menschengerechte Welt und den Kampf gegen die soziale Spaltung weiterhin erfolgreich leisten!
Das Interview führte Philipp Meinert