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Ausgabe 01 | 2024: 100 Jahre Der Paritätische
Schwerpunkt
Reiner Zensen / Reiner Zensen
Josef Schädle 2009 im Berliner Abgeordnetenhaus. Gefeiert wurden 20 Jahre Armutsbericht des Paritätischen.

Interview mit Josef Schädle

Der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Gesamtverbandes und Vorsitzende des Paritätischen Bildungswerks steht Rede und Antwort.

Herr Schädle, Sie wurden schon des Öfteren als „Urgestein“ des Paritätischen bezeichnet. Was empfinden Sie, wenn Sie das hören?

Josef Schädle: Dann fühle ich mich fürchterlich alt. (lacht) Nein, ich kann es verstehen, weil ich ja auf eine mehr als 40-jährige Verbandsgeschichte zurückblicken kann. Ich denke schon, dass ich an vielen wichtigen Entscheidungen in den letzten Jahrzehnten im Paritätischen beteiligt war. Aber ob ich ein Urgestein bin, weiß ich nicht.

Für die wenigen Menschen, die Sie vielleicht nicht kennen: Können Sie denen einen kurzen Abriss ihrer Biographie geben?

Ich wurde 1946 geboren, bin also ein richtiges Nachkriegskind. Ich habe, von meinen vier freiwilligen Jahren im Internat abgesehen, eine relativ normale Schulbiographie. Meine Schwerpunkte, die mir sehr zugute gekommen sind, waren Sport und Musik. Anschließend habe ich einen für heutige Verhältnisse etwas abenteuerlichen Studiengang hinter mir. Von 1966 bis 1978 habe ich mit ein paar arbeitsbedingten Unterbrechungen Philosophie, Theologie, Mathematik und Soziologie studiert. Anschließend war ich in Tübingen zunächst Leiter in einem Jugendzentrum und habe in Stuttgart-Stammheim als Gefängnisseelsorger gearbeitet. Mit meiner damaligen Frau bin ich dann nach Wunsdorf ans niedersächsische Landeskrankenhaus gegangen und war dort bis 1980 Geschäftsführer von einem kleinen psychiatrischen Hilfsverein. 1981 bin ich an die psychiatrische Klinik nach Offenbach gegangen und habe dort 27 Jahre als Pädagoge gearbeitet.

Wie sind Sie dann bei ihrer Studienfachauswahl im sozialen Bereich gelandet?

Das war ein Zufall. Zunächst einmal habe ich ein Referendariat als Gymnasiallehrer gemacht. Es war mir aber schon relativ schnell klar, dass dies nicht meine Berufskarriere sein wird. Ich kam zwar mit den Schülern, aber mit dem System Schule nicht zurecht. (lacht) Dann wurde mir angeboten, das Jugendzentrum im Gemeindezentrum der katholischen Kirche in Tübingen zu übernehmen. Das hat mir auch viel Spaß gemacht, aber dann irgendwann habe ich für mich beschlossen, dass ich nicht als Berufsjugendlicher enden will, sondern, dass es schon eine altersgerechte Affinität zu den Menschen geben soll, mit denen ich arbeite. Deswegen habe ich das dann aufgegeben. Mein Mathematik-Studium war übrigens eher ein Hobby. Mathe war schon in der Schule mein Lieblingsfach. Aber mein Interesse an anderen Menschen war immer relativ groß, was sich auch daran zeigt, dass ich in den 60er, 70er und 80er-Jahren relativ viel in der Weltgeschichte rumgereist bin, zum Teil auf abenteuerlichen Wegen, die viele Menschen heute so nicht mehr bereisen würden. Hinzu kommt, dass ich aus einer Großfamilie stamme. Ich habe sieben Brüder und daher ist es naheliegend, dass man einen sozialen Impetus entwickelt.

Bevor Sie stellvertretender Vorsitzender des Paritätischen wurden, waren Sie bei der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP). Jetzt habe ich gelesen, die galt damals politisch sehr weit links. Wie muss man sich das vorstellen?

Links war sie nicht im Sinne von einer parteipolitischen Bindung, sondern eher im Sinne von für damalige Verhältnisse radikalen linksalternativen Vorstellungen, wie Gesellschaft sein könnte, müsste und funktionieren sollte, also schon antikapitalistisch. Wir nutzten damals auch schon das Schlagwort vom medizinkapitalistischen industriellen Großkonzernwesen. Und es gab auch eine relativ große Gruppe innerhalb der DGSP, die die ziemlich steile These aufgestellt hat, dass psychische Krankheiten zum großen Teil gesellschaftlich bedingt sind. Das ist ja ein Streit, der sich in kleineren Grüppchen heute noch durch die Psychiatrielandschaft zieht. Das war eine nicht einflusslose Gruppe, die gesagt hat, dass wenn man diese Krankheiten bekämpfen möchte, müsse man die Gesellschaft ordentlich umkrempeln. In dem Sinn waren wir sicher ziemlich linksalternativ.

Sie waren dann in den frühen 80ern lange in der Gremienarbeit des Verbandes aktiv. Sie haben das noch sehr lange begleitet. Wie hat sich die Arbeit im Verlauf geändert?

Als ich erstmalig 1983 in den Beirat des Paritätischen gekommen bin, war das ein ziemliches Kaffeekränzchen, wie ich es im Interview mit Gwendolyn Stilling schon einmal genannt habe. Das ist natürlich etwas bösartig. Aber der Beirat war ein Anlass, sich zweimal im Jahr zu treffen und zu plaudern. Bis Ende der 80er wurden dort keine tiefgreifenden Beschlüsse gefasst, die die Welt umgekrempelt hätten. Der Paritätische war damals ziemlich stark von den Landesverbänden dominiert. Und die überregionalen Mitgliedsorganisationen haben erst Ende der 80er Jahre angefangen, ihr Gewicht stärker in die Gremien zu bringen. Das ist dann aus diesem Doppelspiel der Wertediskussion Ende der 80er Jahre im ersten Armutsbericht und der Strukturveränderung im Verband entstanden. Der Beirat, in den man entsandt wurde, wurde dann ja abgeschafft und der Verbandsrat als gewähltes Gremium wurde neu geschaffen. Und dann hat sich das ein bisschen sortiert, wurde politischer und hat auch mehr Einfluss auf die Verbandsentwicklung insgesamt. So könnte man das beschreiben.

Josef Schädle

Sie haben es gerade schon gesagt: Ende der 80er kam schon der erste Armutsbericht, an dem Sie ja auch beteiligt waren. Jetzt ist Armut immer noch ein Dauerthema. Warum ist das Ihrer Meinung nach noch nicht politisch gelöst?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Der aus meiner Sicht schwerwiegendste und am schwersten zu bekämpfende ist das Vorurteil, dass Armut überwiegend selbst verschuldet ist. Das ist in weiten Kreisen der Bevölkerung immer noch da. Das merkt man sofort, wenn man mit Leuten direkt ins Gespräch kommt und mal nach eigenen Erfahrungen fragt, die sie entweder bei sich selber oder im Bekannten- und Freundeskreis gemacht haben. Dann kippt die Diskussion schnell. Sie wird dann realer und man stellt fest, dass es vielleicht doch ganz anders ist. Ein für mich eindrückliches Erlebnis war es, als einer meiner jüngeren Brüder für eine Zeit arbeitslos war und meine Mutter bis dahin auch glaubte, arme und arbeitslose Menschen sind selbst schuld. Danach ist ihre Einstellung bei dem Thema völlig gekippt, denn sie hat erkannt, dass er nichts dafür konnte. Die Firma ist pleite gegangen und er musste ein halbes Jahr suchen, bis er wieder einen halbwegs akzeptablen Arbeitsplatz hatte. Diese Erfahrung hat die Einstellung meiner Mutter korrigiert. Das ist ein grundlegendes Problem und sehr schwer zu bekämpfen. Das hat man auch 2015 gemerkt, als viele Geflüchtete kamen. Es war ja nicht die erste Erfahrung, die die Gesellschaft mit Geflüchteten gemacht hat. Die kam aber schlagartig und hat bei vielen Menschen einen Impuls des Helfens geweckt, der aber wieder verebbt ist. Irgendwann dachte man, die können sich doch um sich selber kümmern, so wie man es ja auch selbst tut. Solche Einstellungen sind natürlich nicht nur unterschwellig bei den politischen Entscheidungsträgern vorhanden, und zwar sowohl im Parlament als auch, was ich für viel schwerwiegender halte, in Verwaltung und Bürokratie. Da sehen sie dann die eigentlichen Auswirkungen. Ich habe immer gesagt: In der Armutspolitik muss man mit einem ganz kleinen Handbohrer ein ganz dickes Brett bohren. Dafür braucht es Geduld und Zeit. Ich denke schon, dass wir viel bewegt haben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendwann einmal eine Gesellschaft ohne Armut gibt. Hinzu kam um 1990 noch das herüberschwappen der neoliberalen Welle und des angloamerikanischen Kapitalismus, der ja schon etwas anders war, als der bis dahin in Deutschland vorherrschende etwas sozialere rheinische Kapitalismus. Das macht es einfach schwer. Wenn man die Kommentare, die Ulrich Schneider immer auf Twitter zu seinen Äußerungen bekommt, liest, kann man ja unschwer erkennen, was da für Einstellungen vorhanden sind, sogar bei ernstzunehmenden Menschen.

Was war damals eigentlich ihre Motivation, 2004 stellvertretender Vorsitzender des Paritätischen zu werden?

So genau kann ich das gar nicht mehr sagen. Ende der 90er gab es nach dem Tod von Dieter Sengling eine relativ kurze, aber heftige Diskussion in den Verbandsgremien über eine tiefgreifende Strukturveränderung. Es sollte einen Vorstand und kleine straffe Gremien geben, so wie es viele Landesverbände im Laufe der Jahre ja auch eingeführt haben. Das hat dazu geführt, dass es zum ersten Mal im Verbandsrat zwei Fraktionen gab. Auf der einen Seite die Landesverbände und auf der anderen Seite die überregionalen Mitgliedsorganisationen. Da haben wir als ÜMOs zum ersten Mal gemerkt, dass wir eine Mehrheit haben. Wenn alle da sind, ist das Gremium ja gleichwertig besetzt und wer den Vorsitz hat, hat sozusagen die ausschlaggebende Stimme. Und dann haben wir uns, nach einer ganz, ganz langen Nacht in Frankfurt, mit den Landesvorsitzenden darauf verständigt, dass alle Gremien möglichst paritätisch besetzt sind, was heißt, dass Landesverbände und ÜMOs immer gleich stark repräsentiert sind. Das funktioniert bis heute. Es gab und gibt immer mal wieder kleinere Geplänkel, aber das war nichts Tiefgreifendendes. Ich finde diese Struktur auch wichtig, um sich gegenseitig ernst zu nehmen. Eine Struktur für sich selber hat ja keine große Bedeutung, aber sie schafft einen Rahmen zur Auseinandersetzung und zur Verständigung gleichzeitig. Und ich denke, das haben wir ganz gut hinbekommen. Und ich wurde dann einfach gefragt, ob ich nicht Lust hätte, stellvertretender Vorsitzender zu werden. Wobei: Überredet hat mich die Barbara Stolterfoht.

Gibt es etwas, was Sie rückblickend mit Ihrem heutigen Wissen im Paritätischen anders gemacht oder anders entschieden hätten?

Nichts Gravierendes. Ich denke, wir haben angemessen auf die Bedürfnisse reagiert, vielleicht nicht immer rechtzeitig, aber wir haben immer versucht, auf dem aktuellen Level der gesellschaftspolitischen Diskussion zu bleiben. Das ist uns, glaube ich, ganz gut gelungen. Ich denke, es gibt Bereiche, die wir vorangetrieben haben. Die Diskussion um Armut zum Beispiel, aber auch um den ökosozialen Umbau der Gesellschaft. „Ökosozial“ ist einer der Schlagworte, die wir gepusht haben, was ich nach wie vor für sehr richtig halte. Und auch die Auseinandersetzungen, die sowohl im Verband als auch in der Gesellschaft sehr schwierig sind. Es gibt heftige Debatten um Diversität, Identität und Geschlechterzuschreibung oder eben Nichtzuschreibung. Da sind wir sozusagen mittendrin.

Seit zwei Jahren sind Sie nun raus. Wie genießen Sie ihre Rente?

Ich habe endlich Zeit zum Lesen und höre viel Musik. Ich kümmere mich in Maßen um meine Gesundheit und interessiere mich nach wie vor, was der Paritätische so treibt.

Angenommen, Sie müssten dem Verband zum 100. eine Glückwunschkarte schreiben. Was sollte da drinstehen?

Er soll sich selber treu bleiben. Das ist, glaube ich, das Entscheidende.

Das Interview führte Philipp Meinert

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