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Ausgabe 04 | 2022: Wohlfahrt Kreativ
Schwerpunkt
Kreative Jugendliche in NRW

Kunst als existenzielles Ventil

Hiphop, Design, Film: Kreative Angebote sind in der Jugendarbeit fest verankert. Für die Jugendlichen ist dies meist mehr als nur ein Bildungsangebot. Für manche erwächst daraus sogar ein Berufswunsch.

„Alle wollen, dass ich helfe, dass ich Trost spende, aber niemand fragt, wie es mir dabei geht“, singt Ayşin alias Klaynmusic, sie sitzt in ihrem Rollstuhl in der Kinder- und Jugendeinrichtung Dachlow in Köln und hält ihren Kopf Richtung Mikrophon –  die 22-Jährige hat ihr Handy in der Hand, um ihren neuesten Text ablesen zu können. Ayşins Stil ist eine Mischung aus Rap und Gesangselementen. „Geht das noch etwas energischer?“, fragt neben ihr der Musiker Sako am Rechner. Hinter ihnen kommt Jugendclubleiter Erich die Treppen herunter, er hält einen Speicherstick in der Hand. „Ich hab‘ das neuste Video hier“, sagt er und übergibt Sako den Stick, der ihn prompt in den PC steckt.

Die Kinder- und Jugendeinrichtung Dachlow bietet Musikprojekte mit professionellem Musiker und Equipment bereits seit zwölf Jahren an. Jugendclubleiter Erich weiß, was diese kreativen Projekte den Jugendlichen bedeuten. Es sei ein Ventil. Er vergleicht das Angebot mit dem Erlebnis von Fußballfans: „Die gehen ins Stadion, grölen und lassen alles raus, was sie haben. Egal, ob das Ergebnis des eigenen Vereins gut oder schlecht ist, dann gehen die Fans nach Hause und können auch eine Woche ohne Gegröle überstehen.“ Sako denkt dabei speziell an einen Jugendlichen, „wenn der hier unten ist, dann weiß ich,  die nächste Stunde ist es oben ruhiger.“

Ayşin thematisiert ihre Behinderung in ihren Songs
Klayn - Menschen

Auf Sakos großem Bildschirm startet ein professionelles Musikvideo zu Ayşins eigenem Lied. In Köln Deutz steht die 22-Jährige mit ihrem Rollstuhl auf verschiedenen Ebenen der Treppen des Rheinboulevards und performt ihren Song. Zwischendurch zieht sie Grimassen, als würde sie der Gesellschaft den Spiegel vorzeigen. „Nein, wir sind nicht anders, glaub mir, ich kann das, weil ich keine Angst hab“, so der Refrain. Ayşin ist mit einer schweren Stoffwechselkrankheit zur Welt gekommen, Mukopolysaccharidose Typ IV (MPS IV). Mit 22 Jahren ist sie 1,14 cm groß, Symptome außerhalb des Skeletts und ihrer verkürzten Wirbelsäule sind bei der Krankheit Atemstörungen, oder Veränderungen der Herzklappen, sowie Hornhauttrübung.

„Ich kam früher ja nicht mit meiner Behinderung klar“, erinnert sich Ayşin. Musik habe der 22-Jährigen dabei geholfen. Seitdem sie 16 Jahre alt ist, schreibt sie. Beim Hiphop-Angebot des Jugendclubs kann sie an der Seite eines Musikers ihre Texte performen und hat hier eine freie Entfaltungsmöglichkeit, wobei der Kölnerin sonst so viele genommen wurden. Denn Ayşin konnte weder auf eine „normale“ Schule noch einer „normalen“ Arbeit nachgehen, obwohl sie es eigentlich wollte und es ihr an Intelligenz nicht durch die Krankheit fehlt. „Ich bin geboren mit der Diagnose MPS, doch das heißt nicht, dass mein Leben zu Ende ist“, rezitiert die 22-Jährige einen ihrer Songs. Wenn es Ayşin schlecht geht, dann schreibe sie etwas dazu auf. Das sei auch etwas wie eine Therapie: „Wenn es das Angebot hier nicht gäbe, würde ich in Selbstmitleid zerfallen und zuhause kaputt gehen.“

Sako gibt Ayşin Tipps beim Singen

Sako ist Musiker und eben kein Pädagoge, bekommt hier „aber so einiges mit“. So einfach das auch sei, aber: „Wenn die Jugendlichen nicht hier wären, wären sie sonst auf der „Neusser“, auf der Straße“, sagt der Musiker. Und zum Einzugsgebiet der Kinder- und Jugendeinrichtung gehört eben auch das Problemviertel Chorweiler. Der Kölner habe keinen pädagogischen Auftrag und lasse die „Kids“ so sein, wie sie sind und auch das helfe. Und dazu gehöre manchmal eben auch derbere Sprache wie im Hiphop üblich. „Das ist eben deren Sprache“, sagt Sako. Erich ergänzt: „Es geht hier alles über Beziehungsarbeit.“ Ayşin kenne er beispielsweise seit mehr als zehn Jahren und hier könne sie sein und wirken.

Am Konrad-Heresbach-Gymnasium (KHG) in Mettmann sitzen Clara und Nejla an einem Schultisch – vor ihr sind ihre gesammelten Werke, ihre selbstgenähten Taschen, ausgelegt. Nejla hat aus einem alten Hard-Rock-Café-T-Shirt eine Einkaufstasche genäht. „Ich wollte eine neue, aber keine kaufen, deswegen habe ich eine genäht. Das war nicht so kompliziert“, sagt sie, jetzt versuche sie sich an schwierigeren Modellen. Ihre Freundin Clara plant alles mit Entwürfen genau durch, beide sind sichtbar stolz auf ihre Werke. Die 13-Jährigen nehmen an dem Projekt „Upcycling mit Generation Z“ vom Integration-Kulturzentrum (IKZ) Mettmann teil. Es handelt sich um die Bundesförderung "Kultur macht stark", die durch die Paritätische Bildungsakademie im Programm "JEP - Jung Engagiert Phantasiebegabt" gefördert wird. Die Jugendlichen entwickeln hier mit dem Modedesigner CHANG13 Kostüme aus alten Sachen, die nicht mehr gebraucht werden. Neben der kreativen Arbeit wird hier der Aspekt der Nachhaltigkeit in den Fokus gerückt.

Clara und Nejla präsentieren ihre selbstgenähten Taschen

Den Anfang des Projekts begann CHANG13 mit einer Challenge. Er steht neben dem Tisch von Nejla und Clara, hat lange silberne Haare und wirkt selbst wie eine Mode-Ikone: „Wir haben uns eine ganze Zeit nur über Zoom gesehen und die Frage war, wie wir gemeinsam eine Challenge machen können“, sagt der 50-Jährige. Er wollte die Kinder herausfordern. CHANG13 hat den Mädchen die Aufgabe gegeben, aus einem und demselben Hoodie neue Kleidungsstücke entstehen zu lassen. An der gegenüberliegenden Schrankwand des Kunstzimmers hängen drei unterschiedliche Kleidungsstücke, gemacht aus dem zuerst gleichen Ursprungshoddie. Bemerkenswert für ihn: Bei jedem kam was anderes raus: „Jacke, Rock, Zweiteiler“. Jeder ginge anders an die Aufgabe heran. Zunächst stand also die Kreativität im Vordergrund, dann, nach und nach zeigte der Modedesigner den Jugendlichen auch, wie sie Schnitte, Zeichnungen und Materialien verwenden.

Hinten im Kunstraum steht eine Schneiderpuppe, ein weites Tuch-Kleid ist um sie gehüllt, Bepinas Werk. Die 13-Jährige kommt ursprünglich aus Kroatien, das Strandkleid hat sie für ihre Tage am Meer aus einem Vorhang genäht. „Schon mit vier Monaten bin ich am Meer gewesen,“, erinnert sie sich. Jedes Jahr fahre sie nach Kroatien, auch ihre Großeltern wohnen noch bei Split. Ihre Oma sei beruflich Näherin gewesen, sie sei stolz gewesen, als sie gehört habe, dass ihre Enkelin auch näht. Auch Bepina wirkt stolz auf ihre selbstgenähten Sachen. Kann kreatives Schaffen das Selbst stärken? CHANG13 bejaht das: „Kunst kann das eigene Ich zeigen. Gerade im jugendlichen Alter setzen wir uns viel mit unserer Identität und den Pronomen auseinander, haben Vorbilder“. Der jugendliche Ausdruck könne mit einer starken Selbstfindung einhergehen, die zur Selbstständigkeit führe: Die Suche nach der Identität, des Pronomens, die Diversität könne über Kreativität zur Visibilität führen, die sie wiederum resistenter gegen die vielen Dinge macht, die alltäglich auf sie einprasseln.

Am anderen Tisch näht Wilma an einer Nähmaschine, die Freundin neben ihr schaut auf ihr Handy – Clara und Nejla kommen und verabschieden sich, sie wollen früher gehen. „Wir schreiben morgen eine Englischarbeit und müssen noch lernen“, sagen sie. Die Atmosphäre zeigt, hierbei handelt es sich nicht um ein Schulangebot: Lilia Schröder vom Integration-Kulturzentrum (IKZ) dazu: „Hier sollen sich die Kinder ausdrücken und sein, wie sie wollen“.

Akzeptanz, Relevanz, Selbstvertrauen, Sinnhaftigkeit? – Zum Abschluss sollen die Jugendlichen am 17. September bei einer Modenschau ihre Werke zeigen und somit vielleicht auch ein Teil von sich. Und auch Erich von der Jugendeinrichtung Dachlow drängt seine ProjektteilnehmerInnen regelmäßig zu Auftritten. „Diese Dame hier geht überall hin, wo es nur geht, ist immer auf der Bühne“, sagt er in Richtung Ayşin. „Zuerst hatte ich Lampenfieber“, sagt die junge Rapperin, aber letztens habe sie sogar auf der Bühne über die vielen Barrieren gesprochen, die es immer noch in Köln gibt, zum Beispiel, wenn sie mit der Bahn fahre. Inklusion sehe anders aus. „Vielleicht gehe ich in die Politik“, hat sie da verkündet. Mit einer Abgeordneten hat sie sich jedenfalls schon einmal getroffen.

Annabell Fugmann

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