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Ausgabe 01 | 2022: GemEinsamkeit
Schwerpunkt

Einsam sind immer die anderen?

Wie die Howe-Fiedler-Stiftung die Ältesten unserer Gesellschaft sieht und unterstützt.

Tanja Bollmann wird während ihres Einsatzes als Kieler Senioren-Lotsin täglich überrascht. In ihrer Arbeit besucht sie Senior*innen in Kiel, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind, nur eine geringe Altersrente beziehen oder Hilfe benötigen. “Wir agieren im Einzelfall und nach individuellem Bedarf. Was gebraucht wird, ergibt sich im persönlichen Gespräch. Je nachdem, was die Person mir erzählt, kann ich tätig werden”, sagt Tanja. Die mögliche Unterstützung, die von der Howe-Fiedler-Stiftung organisiert wird, reicht von der Beratung über Wohn- und Pflegehinweise, dem Angebot von Aktivitäten, über Hausbesuche, gemeinsame Spaziergänge, bis hin zur Hilfe bei der Bewältigung des Alltags und finanzieller Unterstützung bei Anschaffungen.

Doch vielen der über 65-jährigen Menschen, mit der die Stiftung in Kontakt tritt, fehlt es an etwas, für das es keine kurzfristige Lösung, kein Produkt und kein Rezept gibt. Sie fühlen sich sozial isoliert und sind unfreiwillig allein.

Laut einer Forsa-Umfrage fühlt sich jede fünfte Seniorin und jeder fünfte Senior ab 75 Jahren häufig oder zumindest hin und wieder einsam. Diesem Gefühl liegen Umstände zugrunde, die genauso unaufhaltsam, wie vorhersehbar sind. Die körperliche und geistige Flexibilität sinkt, das soziale Netzwerk schrumpft und die Dynamik der Außenwelt und des gesellschaftlichen Zusammenlebens verändert sich so stark, dass die älteren Menschen ihre Lebensqualität, in Anpassung an ihre neuen Bedürfnisse, nur schwer eigenverantwortlich beeinflussen können. Dann ist es eine Frage des Zugeständnisses an sich selbst, sich seiner Situation bewusst zu werden, neu zu orientieren und Hilfe anzunehmen. Für alte Menschen ein denkbar schwerer Prozess, der oftmals mit einem Schamgefühl einhergeht.

“Wir haben eine Zeit lang ganz häufig an die Zeitung Artikel über unsere Arbeit gegeben. Darauf ist aber nicht so eine richtige Resonanz gekommen. Viele Senior*innen lesen die Artikel und behalten sie dann aber erst mal einige Monate in der Schublade, bevor sie die dann raussuchen und uns fragen, ob wir ihnen helfen können.”

Die persönliche Wohnsituation spielt im Prozess der sozialen Isolation eine maßgebliche Rolle. Viele ältere Menschen in langjährigen Partnerschaften können mit zunehmendem Alter immer weniger in ihre sozialen Beziehungen investieren. Der Kontakt zu Freunden und Bekannten, die sie im Laufe ihres Lebens an ihrer Seite hatten, bricht nach und nach ab oder aber der Tod entscheidet über das Ende der Beziehung. Neben den versendeten Trauerkarten und immer mehr durchgestrichenen Nummern im Telefonbuch, entstehen nur schwer neue soziale Kontakte, die auch neue Perspektiven mit sich bringen. Wenn der Partner oder die Partnerin verstirbt, ergibt sich zwischen Verlust und Neuorganisation des eigenen Lebens oftmals eine Lücke, die Menschen in hohem Alter erst lernen müssen zu füllen.

Zu erkennen, dass eine Person einsam ist, ist für Tanja mitunter gar nicht leicht. Es ist so menschlich, wie nachvollziehbar, dass die Verbalisierung des eigenen Leids gegenüber einer fremden Person schwer fällt. Somit wird der Unterstützungsbedarf der älteren Menschen oftmals erst in einem vertraulichen Gespräch sichtbar und das nicht unbedingt zu Beginn des Kennenlernens. 

“Die Erfahrung, die ich gesammelt habe, ist, dass manchmal Anträge für Anschaffungen bei uns gestellt werden - für irgendwas. Und dann erwähnt die Person im Erstgespräch nebenbei, dass sie auch nicht so viele soziale Kontakte hat. Dann setze ich natürlich dort an und versuche auch soziale Aktivitäten zu vermitteln.” 

Als gelernte examinierte Altenpflegefachkraft hat Tanja Bollmann über die Jahre ein Gespür für eine behutsame Gesprächsführung entwickelt. Über  ein unverbindliches Gespräch auf Augenhöhe erfährt sie mehr über die Lebenssituation des Menschen. Mit dem Wissen, was sie über die Senior*innen erhält, kann sie ihnen dann bedarfsgerechte Angebote machen. Wichtig ist dabei aber, dass sich die Person aus eigenem Antrieb für die Unterstützung entscheidet, ohne dazu gedrängt zu werden:  

“Ich kann Empfehlungen aussprechen aber die Person, die das Schiff steuert, entscheidet ganz alleine, was sie macht. Das ist ja auch total schön, dass man ein Angebot macht aber die Person auch nicht dazu überredet. In gewisser Weise funktioniert das ja bei älteren Menschen auch überhaupt nicht.” 

Mit Hunden gegen Einsamkeit

Betrübt macht Tanja, dass es immer wieder Senior*innen gibt, die ihren Unterstützungsbedarf nicht allein erkennen. Diese Menschen leben lange in dem Gedanken, sie wären immer noch jung und hätten die gleichen Voraussetzungen ihr Leben zu gestalten wie damals. Häufig verbleiben diese Personen viel zu lange in einer nicht tragbaren, gar menschenunwürdigen Lebenssituation. Tanja erzählt von “Menschen, die wirklich schwer erreichbar und in ihrer Situation handlungsunfähig waren. Sie waren den ganzen Tag zu Hause und konnten nichts mehr machen.” Diese Personen werden von Angehörigen, Freunden, Betreuer*innen oder auch Nachbar*innen an die Stiftung vermittelt. Doch dazu muss es zunächst jemanden im Umfeld des Menschen geben, der aufmerksam ist und die Dringlichkeit der Situation richtig deutet. 

Altersarmut und Einsamkeit

Viele der Senior*innen, die die Angebote der Howe-Fiedler-Stiftung annehmen, sind von Altersarmut betroffen und somit noch stärker in ihren Möglichkeiten beschnitten. Der Besuch im Museum oder Kino, ein Treffen zu Kaffee und Kuchen im Café sowie die damit verbundenen Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln - all das können von Armut betroffene Personen nicht ohne Weiteres wahrnehmen. Die fehlende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben begünstigt dabei die Einsamkeit dieser Menschen maßgeblich. Wer nach einem Leben, das von Arbeit und Selbstbestimmung geprägt war, in die Armut rutscht, muss möglicherweise lernen mit Gefühlen von Scham und Schuld umzugehen. Steht der von Armut geprägte Alltag, der Verzicht und die fehlende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im Konflikt mit der Selbstwahrnehmung, kann das zu einem Identitätsverlust bei den Personen führen. Naheliegend ist, dass sich die Betroffenen nach und nach von ihrem Umfeld entkoppeln. Mit dem schleichenden Rückzug und psychischer Instabilität wird auch das Pflegen sozialer Kontakte zu einem großen Kraftaufwand. Was die Personen erleben, wirkt ebenso nach innen wie nach außen, sagt Tanja. So entfernen sich Bezugspersonen im Umfeld mitunter, weil sich die Beziehung verändert oder sie mit der emotionalen Belastung überfordert sind. Gefangen in diesem Teufelskreis finden die alten Menschen keinen Weg zurück in eine soziale und gesellschaftliche Teilhabe, die sie aus der Einsamkeit bringen würde.

“Es gibt die Menschen, die aufgrund ihrer Armut nichts unternehmen und nur zu Hause sind. Sie bedauern ihre Situation so sehr, dass sie handlungsunfähig und immer einsamer werden.”

Selbstbestimmt zu mehr Lebensqualität im Alter

Einsamkeit kann als ein Dauerschmerz beschrieben werden, der dramatische Auswirkungen auf die Gesundheit eines Menschen hat. Körper und Geist sind dabei einem permanenten Stress ausgesetzt, der die Funktion des Immunsystems herabsetzt und eine Reihe von Krankheiten wie Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigt. Ist dieser Zustand dauerhaft und dazu unfreiwillig, kann Einsamkeit sogar zu einem früheren Tod führen. Eine Lösung für diesen Umstand zu finden, ist gar nicht so einfach. Denn der Teufelskreis aus Ängsten, Emotionen und den persönlichen Einschränkungen einer Person, ist von Außen schwer zu durchbrechen. 

Hier jedoch ist die aufsuchende Arbeit der Howe-Fiedler-Stiftung ein wirkungsvoller Ansatz. Tanja und ihre Kolleg*innen arbeiten daran, den Senior*innen mehr Lebensqualität im Alter zu ermöglichen, indem sie zunächst einmal von jemandem mit ihren individuellen Bedarfen gesehen werden. Die Stiftung sieht dies als die Basis für den Weg in eine selbstbestimmte Lebensführung. Neben der finanziellen Unterstützung bei Anschaffungen oder administrativen Handgriffen, wie der Organisation der Lebens- und Wohnsituation, steht dabei ganz stark die soziale Vernetzung der alten Menschen im Mittelpunkt der Stiftungsarbeit. Neben Tanja sind noch 5 Ehrenamtliche in der Howe-Fiedler-Stiftung aktiv und betreuen verschiedenste interaktive Angebote. 

 

Von Spaziergängen über individuelle Hausbesuche stehen wechselnde Veranstaltungen für die Senior*innen im Stiftungsnetzwerk zur Verfügung. In Zusammenarbeit mit der Anlaufstelle Nachbarschaft im Stadtteil Gaarden, kann ein offener Kreis zum Spielen, Basteln und gemütlichem Zusammensitzen bei Kaffee und Tee besucht werden. Auch die regelmäßigen, monatlichen Ausflüge sind beliebte Events für Erleben, Austausch und Beisammensein. Auch im eingeschränkten Angebot während der Corona-Pandemie finden Ausflüge statt, z.B. ins Senioren-Kino.

 

Weiter kooperiert die Howe-Fiedler-Stiftung zeitweise mit unterschiedlichen Vereinen und Institutionen im Raum Kiel. So erweitert und verändert sich das Angebotsspektrum stetig um Aktivitäten, die die Bedarfe der Zielgruppe aufnehmen.

Im Projekt “Kalle kommt” zum Beispiel haben die Klient*innen in Zusammenarbeit mit der tiergestützten Ergotherapie Kunststücke mit einem Hund geübt. Neben dem Austausch über das Erlebte, schulten sie ihre Feinmotorik beim Leckerli geben, ihre Grobmotorik, während sie über den Hund stiegen und mussten sich auch kognitiv betätigen, als sie alle Ballwürfe zusammen zählten. Tanja erzählt, dass das Tandemprojekt KulturistenHoch2 besonders gut anlief, welches Schüler*innen ab 16 Jahre in Kooperation mit Kieler Schulen mit Senior*innen zusammenbringt, um gemeinsam ins Theater oder auch zu einer Sportveranstaltung zu gehen. 

Ob Bewegungsangebot oder kulturelles Event, die Senior*innen kommen durch die Angebote wieder in Kontakt mit anderen Personen, woraus mitunter sogar Freundschaften entstehen. Ein gemeinsames Erlebnis bringt zudem genügend Gesprächsstoff mit sich, um ein Gefühl der Verbundenheit zu erzeugen und die erste Hürde zu überwinden.

JR: Jennifer Ruske / Jennifer Ruske, jennifer.ruske@t-online.de
Ein (kleinerer) Hund gegen die Einsamkeit

Da die Stiftung besondere Rücksicht auf ihre vulnerable Zielgruppe nehmen muss, hat sie ihre Angebote während der Corona-Pandemie stark reduziert und strenge Vorsichtsmaßnahmen für Begegnungen bei Spaziergängen getroffen. Das soziale Netzwerk rund um die Howe-Fiedler-Stiftung war zunächst wie zerschlagen und der Kontakt mit Bekannten blieb für viele Personen aus. Das agile Team rund um Tanja hat sich trotzdem etwas einfallen lassen. So verschickte es regelmäßig Briefpost mit Rätseln oder Gedichten, um in Kontakt mit den Klient*innen zu bleiben. Die eingerichtete Telefonkette sorgte dafür, dass die Senior*innen wieder ins Gespräch miteinander kamen. Mit der Schließung der Ausgabestelle der Kieler Tafel entfiel für viele Personen eine wichtige Unterstützung in ihrer Grundversorgung. Als die Stiftung davon erfuhr, schnürte sie Care-Pakete und bewarb diese in der Zeitung.

Die Senior*innen gehen sehr unterschiedlich mit den Einschränkungen um. Viele von ihnen sind traurig und gestresst, weil sie Angst haben sich anzustecken und deshalb das Haus nicht verlassen. Andere sagen: “Ach, eigentlich ist das ok für mich, dass wir gerade eine Pandemie haben. Wenn mich früher jemand gefragt hat, ob ich dazu komme, habe ich aus sozialen Gründen ja gesagt, obwohl ich das gar nicht wollte. Jetzt kann ich wegen der Ansteckungsgefahr auch mal nein sagen.” Tanja sagt, ob sich jemand einsam fühlt, kommt auch immer auf die persönliche Bewertung der Situation an: 

“Es ist so, dass es Menschen gibt, die wirklich einsam sind. Darunter verstehe ich dann einen Leidensdruck. Und dann gibt es Menschen, die alleine sind, aber nicht einsam, weil sie eine andere Definition von Glück haben.”

Psychisch erkrankte Menschen, welche verstärkt unter den Einschränkungen und den entfallenden Aktivitäten leiden und auf besondere Hilfe angewiesen sind, bleiben im Fokus der Akteur*innen und erhalten gegebenenfalls eine verstärkte Betreuung.

Der Zugang zu Senior*innen, die oftmals alleine leben, ist bei der Überwindung von Einsamkeit wohl eine der größten Herausforderungen. Daher sind aufsuchende Angebote, wie das Lotsenprojekt der Howe-Fiedler-Stiftung, so wichtig, um die Menschen zu erreichen. Auch digital geht schon einiges, doch die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung unter pandemischen Bedingungen nutzen laut Tanja bisher eher die Jüngeren der Zielgruppe. Unter den 65- bis 70-Jährigen wächst  das Interesse an digitalen Zugängen stetig. Die Stiftung hat schon das ein oder andere digitale Endgerät unterstützt, damit die Senior*innen über Videotelefonie noch besser in Kontakt mit ihren Familien bleiben können und die Möglichkeit zur Vernetzung erhalten. Vor Corona wurden die Smartphone- und Tablet-Kurse bei Kaffee und Kuchen immer beliebter. Aus dem wachsenden Bedarf sind weitere Angebote, wie das Tandem-Projekt “Patenenkel” des Kieler Ehrenamtsbüro entstanden. Hier geben Studierende Hilfestellungen zu konkreten Fragestellungen rund um die Nutzung von Smartphone und Co.

Lilly Oesterreich

Weitere Infos

Die Homepage der Howe-Fiedler-Stiftung

Wie ist die Lebenssituation älterer Menschen in Deutschland und wie groß ist das Problem der sozialen Isolation und Einsamkeit? Hier geht es zur Forsa-Umfrage

Broschüre: "Schwierige Zugänge älterer Menschen zu Angeboten der Sozialen Arbeit"

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