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Ausgabe 01 | 2022: GemEinsamkeit
Schwerpunkt

Kay Raasch über Gemeinschaft, Fehlerkultur und die gesellschaftliche Anerkennung von Engagement in der Erwerbslosigkeit

Kay Raasch bezieht aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen seit 2014 Arbeitslosengeld II. Sein Alltag hat sich mit seiner Erwerbslosigkeit und den diversen finanziellen Einschränkungen grundlegend verändert. Und damit auch die Aktivitäten und Gespräche mit seinen sozialen Kontakten. Auch, wenn er nicht bewusst danach gesucht hat, geben ihm die Zusammenkunft sowie der Austausch mit Menschen ähnlicher Lebenswirklichkeiten ein Gefühl von Gemeinschaft und schützen ihn vor der Einsamkeit. Ob mit politischer Agenda oder ganz ohne gemeinsames Anliegen, hier lernt er viel über sich, andere und den Umgang mit der Erwerbslosigkeit.

Wie gehen Sie in Ihren Beziehungen mit Ihrer Lebenssituation um? Welche Gedanken und Gefühle prägen den Kontakt mit dem sozialen Umfeld?

Armut hat mit Geld zu tun. Wenn Wohnen und Essen gesichert sind, fragt man sich “Wo spare ich?” Man muss halt sparen, logisch. Das heißt, Freizeitaktivitäten, ob nun Fahrtkosten oder ein Restaurantbesuch, sind das erste, was wegfällt. Allein die ständige Beschäftigung mit den Fragen, “Wofür gebe ich mein Geld aus?” und “Was ist, wenn was kaputt geht?” prägen einen. Man ist nicht frei und es fehlt das Gefühl der Unabhängigkeit, wenn man arm ist. Ich fühle mich dann frei, wenn ich selbst finanziell über meine Dinge entscheiden kann. Aber das kann ich als Hartz IV-Empfänger, bei dem es gerade genug zum Leben ist, einfach nicht.

Also, wie geht man damit um? In meiner Nachbarschaft und meinem direkten sozialen Umfeld weiß jeder, dass ich erwerbslos bin. Es gibt genug Leute, die Hemmungen haben, dass im Bekanntenkreis bekannt zu machen. Die darf man auch haben. Ich habe Verständnis dafür, ohne Frage. Aber der Aspekt der Unfreiheit ist ja noch größer, wenn man sich verstellt und mit den Schwierigkeiten im Leben nicht offen umgeht. Ob die Schwierigkeiten dadurch gelöst werden, ist eine andere Frage aber sich damit zu verstecken ist ein großer Fehler.

Kay ist vielfältig engagiert und über sein Engagement in verschiedenen Netzwerken aktiv. Zum Beispiel im Erwerbslosenausschuss der Gewerkschaft ver.di. Hier bekommt er Orientierung gegenüber dem Jobcenter, knüpft Kontakte und kann sich austauschen. Was motiviert ihn in seinem persönlichen Engagement?

Ich glaube an die Demokratie. Der Kapitalismus und auch die Demokratie sind für mich das kleinere Übel. Da ich keine realistische Alternative kenne, muss ich mich für das kleinere Übel entscheiden. In dem Kontext hat Selbstorganisation einen großen Wert für mich. Die Sozialpolitik ist mit Sicherheit unheimlich relevant, allein, wenn man sieht, welchen Anteil das im Bundeshaushalt hat. Und wer soll darüber entscheiden? Nur die gewählten Abgeordneten? Oder gibt es auch Bürger*innen, die sich kundig machen, vernetzen, eine Meinung bilden und im Zweifelsfall auch auf die Politiker*innen zugehen? Um mitzubestimmen, braucht es meiner Überzeugung nach die Selbstorganisation der Personengruppe Erwerbslose. Nur, wie findet man Leute, die sich engagieren? Und wie vertragen sich die Leute und einigen sich auch auf gemeinsame Ziele und Vorgehen, Öffentlichkeitsarbeit etc.? Das ist eine unheimliche Herausforderung, die im Zweifelsfall auch frustrieren kann. Weil man tatsächlich entweder nicht genug Leute hat, die mitmachen oder sich nicht einigen kann. Die Hürden sind zahlreich. Aber ja, ich glaube halt dran!

Der Zusammenschluss bzw. die Solidarität mit Menschen ähnlicher Lebenswirklichkeiten kann auch davor schützen, sich innerhalb von der Gesellschaft ausgeschlossen zu fühlen.

Menschen brauchen soziale Kontakte, sonst verkümmern sie. Doch wie geht man damit um, bestimmte Lebensinhalte nicht mit seinem Umfeld teilen zu können? Fühlt man sich deswegen einsam oder auch nicht? Um sich als Mensch zu fühlen, brauche ich keine Reichtümer. Solange das Existenzminimum gesichert ist, ist entscheidend, dass man soziale Kontakte hat und diese angemessen pflegt. Das macht eigentlich das Leben aus.

Auch die Selbstorganisation von Betroffenen ist ein Akt der sozialen Kommunikation und somit lebenserhaltend sowie lebensnotwendig. In der Praxis zeigt sich aber, dass es für die Selbstorganisation auch Unterstützung braucht. Und dafür haben wir im Erwerbslosenausschuss z.B. Hauptamtliche, die uns helfen uns zu organisieren.

Vereine, politische Initiativen oder auch Gewerkschaften und Verbänden bieten Raum für gezielte Vernetzung, doch. physische Orte, an denen man sich ohne ein konkretes Anliegen begegnet, gibt es dagegen zu selten. Kay erzählt von seiner positiven Erfahrung bei dem Besuch eines Erwerbslosen-Frühstücks.

Vor Corona wurde einmal im Monat ein Erwerbslosen-Frühstück angeboten, wo ich regelmäßig hingegangen bin. Das war ein bunter Haufen, durchschnittlich waren 20 Leute im Laufe des Vormittags anwesend. Und von diesen 20 Personen gehörte ich immer zu denjenigen, die am meisten politisiert haben. Ich weiß, dass ich mich disziplinieren muss, um mit meinen politischen Anliegen nicht alle Gespräche zu dominieren. Das kassiert in so einem Rahmen sonst Unmut.

Es hat sich dennoch für mich gelohnt zu Treffen zu gehen, bei denen die meisten Leute keine konkreten politischen Anliegen haben. Für mich gehört zum Engagement dazu, dass ich mich mit allen Lebensverhältnissen und Lebenssituationen auseinandersetze und keine Berührungsängste habe. Und die Menschen so nehme, wie sie sind, ohne ihnen wertend zu begegnen. Was ich ja auch von anderen mir gegenüber erwarte.

Im Erwerbslosenbereich ist es häufig schwer die Leute zu motivieren sich zu treffen. Während Corona ist es ja noch tausendmal schwieriger, wenn alles digital stattfindet. Aber bei so einem Frühstück ist das so niederschwellig und eigentlich auch so spontan. Man muss sich nicht groß vorbereiten und kann über dieses und jenes reden und trifft mal diesen und jenen. Und anschließend ist man begeistert, dass man da jemanden getroffen und näher kennengelernt hat, an den man vorher gar nicht gedacht hat.

Die Motivation der Menschen, zu dieser Veranstaltung zu gehen, war durchaus unterschiedlich. Vielleicht sind es konkrete Sorgen, die auf den Schuh drücken. Wie kommt man durch den Alltag, wie organisiert man die alltäglichen Probleme? Man kann diese Dinge nicht unbedingt immer mit Freunden diskutieren. Aber man möchte sich diesen Problemlagen ja auf die eine oder andere Weise annähern. Und das war vielleicht auch der größere Zusammenhang bei dem Frühstück. Wenn ich mit Freunden ins Restaurant gehe, 30 Euro ausgebe und nette Gespräche führe, dann ist das ein anderer Kontext.

Kay Raasch

Seit seiner Erwerbslosigkeit hat Kay über 600 Bewerbungen geschrieben. Das Abhängigkeitsverhältnis mit dem Jobcenter mit all den Erwartungen und alltäglichen Verpflichtungen, vergleicht er mit der Beziehung zu seinem früheren Arbeitgeber. Anders ist, dass ihm in seiner Erwerbslosigkeit immer wieder vermittelt wird, dass er keine Fehler machen darf.

Ich denke für das vorurteilsbelastete Bild von Menschen mit Armutserfahrungen spielt die mediale Skandalisierung eine entscheidende Rolle. Wenn ein sogenannter Hartz IV-Betrüger erwischt wird, wird das im Zweifelsfall skandalisiert und verallgemeinert. Das verzerrt die öffentliche Debatte und wirkt auf die Betroffenen, da sie plötzlich zum Gesprächsthema werden. Das ist natürlich einschüchternd. Aber deswegen ist es auch wichtig, dass Betroffene eine eigene Stimme in der Öffentlichkeit formulieren. Diese Forderung hört sich schön an, aber es ist unheimlich schwierig das in der Praxis umzusetzen.

Was könnte der Ausgrenzung von Menschen in Armut entgegenwirken?

Es sollten mehr Optionen für das Zusammentreffen geschaffen werden. Dazu gehört auch, dass jemand die Fahrtkosten zu den Treffen übernimmt. Wie soll sich jemand im sozialpolitischen Kontext engagieren, wenn er sich die Fahrt nicht leisten kann? Da beißt sich die Katze in den Schwanz.

Die politischen, demokratischen Rahmenbedingungen fallen uns nicht in den Schoß und  müssen immer wieder neu erkämpft werden. Ich denke, gerade nach der Corona Krise müssen einige soziale Kontakte und gesellschaftliche Rahmenbedingungen wieder ein Stück weit neu geknüpft werden, die während der Pandemie heruntergefallen sind. Man wird sehen, wie die Demokratie mit diesen Krisen zurechtkommt. Fakt ist, dass Menschen noch viel zu oft ausgegrenzt werden, ob es jetzt die von Armut Betroffenen oder andere Personengruppen sind. Und hier könnten Betroffene selbst einen sinnvollen Beitrag zur Überwindung dieses Umstands leisten.

Laut Kay sollten neue Möglichkeiten des Austauschs und der Mitsprache von Armutsbetroffenen gestaltet und persönliches Engagement ermöglicht und unterstützt werden. Er gibt zudem ein Beispiel dafür, wie die unterschiedlichen Bedürfnisse einer Gesellschaft in einem demokratischen Prozess ausgehandelt werden können.

Ich engagiere mich in der Debatte um die Atommüll-Endlager. Das Standortauswahlgesetz (Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle) forderte eine Selbstorganisation der zivilen Bürgerschaft, in der ich nun tätig bin. Zusammen mit NGOs, Wissenschaftler*innen und Bürger*innen haben wir Fragestellungen diskutiert und Entscheidungen ausgehandelt. Und natürlich gab es hier auch genug Klagen und Kritik an den Vorschlägen. Aber am Ende hat man immer wieder den Konsens gefunden. Diese Selbstorganisation wird als ein “lernendes System” bezeichnet. Wenn man es schafft, so mit Fehlern umzugehen und eine Fehlerkultur zu etablieren, dann macht man es richtig.

Ich habe mich dann gefragt, wie das Jobcenter zu einem lernenden System werden könnte. Die Industrie setzt auf das Prinzip lernender Systeme, sonst kann sie ihre Produkte langfristig nicht auf dem Markt behaupten. Daimler Benz z.B. hat eine Qualitätssicherung, weil sie ihre Autos irgendwie funktionsfähig auf die Straße bekommen müssen. Das Jobcenter braucht so etwas nicht, um zu funktionieren - aber ist das gerecht?

Kay ist in keiner  geförderten Maßnahme und kann sich daher aktuell voll seinem Engagement widmen.  Ehrenamtliches Engagement Erwerbsloser sei auch ein Beitrag für die Gesellschaft, für den es mehr Anerkennung und Wahrnehmung brauche. 

Die eigentliche Frage ist, welchen sinnvollen Beitrag können Langzeitarbeitslose für die Gesellschaft leisten? Als Langzeitarbeitsloser in Hartz IV profitiert man ja von den Leistungen unseres Sozialsystems. Man kann dafür auch dankbar sein, auch wenn sie in vielen Fällen die Existenz nicht ausreichend sichern. Deswegen ist es ja nicht unberechtigt zu fragen: “Welchen Dienst können Langzeitarbeitslose im Gegenzug der Gesellschaft leisten?”. Bislang ist die Antwort nur die, dass über den sozialen Arbeitsmarkt zu regeln. Aber wir müssen auch übers Ehrenamt reden. Wir müssen fragen, welche freiwilligen Beschäftigungen werden von Langzeitarbeitslosen ausgeführt und wie kann man für diese Gruppe das Ehrenamt stärker in den Mittelpunkt stellen?

Viele Erwerbslose engagieren sich freiwillig. Gott sei Dank! Mich hat ein Arbeitsvermittler gefragt, wie viele Stunden ich ehrenamtlich tätig bin. Weil es im SGB II die Maßgabe gibt, wöchentlich nicht mehr als 15 Stunden ehrenamtlich tätig zu sein. Sonst ist man nicht anspruchsberechtigt. Ich finde, die positiven persönlichen und gesellschaftlichen Effekte von ehrenamtlichem Engagement sollten mehr diskutiert und aktiv gefördert werden.

Welche Chancen und Herausforderungen bringt die Digitalisierung bei dem Kampf gegen Ausgrenzung mit sich?

Meine digitalen Möglichkeiten sind unheimlich wertvoll. Also ich kann es glaube ich gar nicht genug betonen. Eine Corona Krise ohne meine digitalen Möglichkeiten könnte ich mir gar nicht vorstellen. Was ich beobachte, ist es quasi die Diskrepanz zwischen der Selbstverständlichkeit und der Herausforderung, damit umzugehen. Wer das Know-how hat, der behaupte ich mal, kann sich relativ gut in einem preislich erschwinglichen Rahmen digital vernetzen.

Aber Personen, ob es jetzt mit dem Smartphone ist oder auch beim Computer, dieses Know-how zu vermitteln, ist eine Herausforderung. Das wird von politischer Seite sicherlich zu sehr vereinfacht. Dann wird gesagt “jetzt kauf dir doch für 100 Euro ein Smartphone und damit ist gut.” Aber woher weiß der Mensch, welcher Tarif der vernünftigste ist, wie er kostengünstig kommuniziert, welche Programme er nutzen sollte? Wenn man sich niemals richtig damit auseinandergesetzt hat, dann ist man schlicht und weg überfordert. Das wird aber von der Politik nicht ausreichend bewertet und nicht ausreichend anerkannt.

Dazu gehört auch eine Offenheit, zu sagen: Ja gut, ich habe vielleicht mal einen Brief auf dem Computer geschrieben, aber deswegen kann ich ihn eigentlich trotzdem nicht bedienen. Das zuzugeben und zu sagen: Also ich brauche Hilfe! Das ist kein leichter Schritt.

Lilly Oesterreich

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