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Ausgabe 01 | 2024: 100 Jahre Der Paritätische
Schwerpunkt
Archiv Bank für Sozialwirtschaft / Paritätischer Gesamtverband, Martin Wißkirchen
Das Wohlfahrtshaus (links), in dem sich die Geschäftsstelle des Verbandes bis zu seiner Auflösung 1934 befindet. Der Neubau an gleicher Stelle wird 2003 wieder Ort der Geschäftsstelle des Paritätischen Gesamtverbandes (rechts).

Der Paritätische im Spiegel der Zeit

Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Paritätischen Gesamtverbandes werfen wir einen Blick zurück auf Höhepunkte und Meilensteine der Entwicklung des Verbandes hin zu einem Dachverband von über 10.800 eigenständigen gemeinnützigen Organisationen im Sozial- und Gesundheitsbereich. Und nicht zuletzt auf die wachsende Bedeutung des Paritätischen als sozialpolitischer Akteur in krisenhaften Zeiten.

Aufbruch und Pragmatismus: Ein neuer Wohlfahrtsverband entsteht

Als am 7. April 1924 eine Gruppe von Gleichgesinnten aus unabhängigen Krankenanstalten und Reha-Einrichtungen im Kaiserin-Auguste-Viktoria-Haus in Berlin-Charlottenburg zusammenkommt, um die Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands e. V. zu gründen, stehen zunächst pragmatische Motive im Vordergrund. Angesichts des verlorenen Ersten Weltkrieges, von Inflationserfahrungen und der allgemeinen Krisenhaftigkeit der Weimarer Republik gilt es, die materielle Existenz der eigenen Mitgliedsorganisationen sicherzustellen.

Bereits 1920 unternimmt man deshalb den ersten Schritt zur reichsweiten Organisation und gründet die Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands. Doch um die von der Reichsregierung angekündigten Zuschüsse für anerkannte Wohlfahrtsverbände erhalten zu können, muss die noch junge Vereinigung in allen Bereichen der Wohlfahrtspflege reichsweit aktiv sein. Mit dem Gründungsakt im Kaiserin-Auguste-Viktoria-Haus im April 1924 erweitert sich perspektivisch das Wirkungsfeld neben der Gesundheitsfürsorge um die Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge, die Bedingungen zum Erhalt der Zuschüsse sind somit erfüllt.

Den Vorsitz übernimmt wie bereits bei der Vorgängerorganisation Leopold Langstein, einer der führenden Kindermediziner der Weimarer Republik und Leiter der Reichsanstalt zur Bekämpfung der Kinder- und Säuglingssterblichkeit.

Archiv Paritätischer Gesamtverband
Zentrale Persönlichkeit des Verbandes in der Weimarer Republik: Leopold Langstein (1876-1933)

Von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Vereinigung, die sich nur wenige Monate nach der Gründung in Fünfter Wohlfahrtsverband umbenennt, ist die Fusion mit der Humanitas – Verband für Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge e. V. und der Beitritt des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Bayern als Organisation auf Landesebene. Der noch junge Verband kann dadurch seine Aktivitäten in der Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge nachhaltig ausbauen.

Archiv Paritätischer Gesamtverband
Prägende Frauen für den Fünften Wohlfahrtsverband: Luise Kiesselbach (1863-1929), auf deren Initiative Anfang der 1920er Jahre der Paritätische Wohlfahrtsverband Bayern entsteht und Anna von Gierke (1874-1943), Begründerin des Humanitas-Verbandes.

Dunkle Schatten: Der Paritätische im Nationalsozialismus

Für den Fünften Wohlfahrtsverband, der seit 1932 den Namen Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband trägt, bedeutet das Jahr 1933 tiefgreifende Veränderungen. Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler und dem Erlass des Ermächtigungsgesetzes forcieren die Nationalsozialisten umfangreiche Maßnahmen zur Etablierung ihres Herrschaftssystems und der Absicherung der Alleinherrschaft. Auch im Paritätischen setzt ein Prozess der „Gleichschaltung“ ein, an dessen Anfang der schrittweise personelle Umbau des Verbandes steht. Auf der Vorstandssitzung des Paritätischen am 29. April 1933 muss Leopold Langstein sein Amt als geschäftsführender Vorsitzender niederlegen. Obwohl Langstein zum evangelischen Glauben konvertiert, gilt er nach nationalsozialistischer Definition als jüdisch. Auch Anna von Gierke hat aus ähnlichen Gründen keine Zukunft mehr in der Verbandsleitung. In den Landes- und Provinzialvertretungen treten im Laufe der Jahre 1933 und 1934 zudem zahlreiche Amtsträger*innen zurück.

Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) gewinnt folglich innerhalb des Paritätischen immer mehr Einfluss und hat in Person von Langsteins Nachfolger Albrecht Freiherr von Pechmann einen treuen Erfüllungsgehilfen. Dieser wird die zentrale und handlungsleitende Figur bei der Überführung des Paritätischen in die NSV und der Selbstauflösung des Verbandes. Im September 1933 tritt zudem Erich Hilgenfeldt, Leiter der NSV und ab 1934 auch des Hauptamtes für Volkswohlfahrt, dem Vorstand des Paritätischen bei. In den folgenden Monaten wird die „Gleichschaltung“ des Verbandes auf allen Ebenen zügig vorangetrieben. 

Am Ende der Entwicklung steht die Selbstauflösung 1934, ohne große Gegenwehr. Zuvor ordnet Erich Hilgenfeldt Ende Mai die Auflösung des Paritätischen als „selbständige juristische Persönlichkeit“ und die Löschung des Verbands aus dem Vereinsregister an. Den Schlusspunkt bildet die Mitgliederversammlung am 23. Juni 1934, die die Selbstauflösung formal beschließt.

Alles auf Anfang: Die Wiedergründung des Paritätischen Gesamtverbandes

Aufbauarbeit ist gefragt, nicht nur in den zerstörten Städten, sondern auch beim Paritätischen. Anders als bei der Verbandsgründung 1924, erfolgt der Wiederaufbau des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands diesmal auf föderaler Basis. Bereits 1946 entsteht der Landesverband Bremen, ein Jahr später wird der Landesverband Württemberg-Baden gegründet, weitere Landesverbände folgen, zuletzt u. a. 1950 Rheinland-Pfalz und Berlin.

Am 8. Oktober 1949 kommt es in Frankfurt am Main zur Wiedergründung des Gesamtverbands unter dem Namen Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband e. V.
Die Grundlage bildet der im April 1948 gefasste Beschluss zur Gründung einer Paritätischen Arbeitsgemeinschaft in der amerikanischen Besatzungszone. Die Leitung der nun auf die gesamte Westzone ausgedehnten Arbeitsgemeinschaft obliegt dem Hessischen Landesverband, Frankfurt am Main wird Ort der entsprechenden Zentralstelle.

Über finanzielle Mittel verfügt der wieder gegründete und bei manchen in Vergessenheit geratene Verband kaum, die Zahl der Mitgliedsorganisationen ist zunächst gering. Für die meisten der im Paritätischen organisierten Mitglieder stellt die Flüchtlingshilfe einen bedeutenden Teil ihrer Arbeit dar, so betreiben beispielsweise Mitgliedsorganisationen 1955 zwölf „Heime für Heimatvertriebene und Flüchtlinge“. 

Trotz der schwierigen Startbedingungen entwickelt sich die Anzahl der Mitgliedsorganisationen positiv. 1951 zählt der Paritätische 377 Mitglieder, nur vier Jahre später sind es bereits 556 mit 2.440 angeschlossenen Einrichtungen, die den Weg in den Paritätischen gefunden haben. 

Soziale Bewegungen verändern den Verband

In der Folge ist und wird der Paritätische geprägt durch die stete Auseinandersetzung mit neuen sozialen Bewegungen, die zum Teil als Ergänzung, zum Teil aber auch als explizite Alternativbewegung zur Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik entstehen.

Die Gesellschaft kommt in Bewegung, Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen beginnen sich in den 1950er Jahren zusammenzuschließen und fordern Unterstützung und Sichtbarkeit für ihre Kinder. Später entstehen in deutschen Großstädten erste Kinderläden. Durch Kollektivierung von Sorgearbeit sollen auch Geschlechterrollen aufgebrochen und Frauen mehr Handlungsspielräume eröffnet werden. Sehr viele dieser Bewegungen finden schließlich Aufnahme unter dem Dach des Paritätischen und gestalten den Verband in der Folge mit, auch aus dem Bereich der Selbsthilfegruppen und Initiativen, die in den 1970er Jahren im Zuge der Selbstorganisation von Betroffenen im Gesundheitsbereich entstehen. 1972 wird beispielsweise die Deutsche ILCO e. V. gegründet, bereits fünf Jahre später ist diese Mitglied im Paritätischen. Nach intensiven Debatten und der Aufnahme vieler Selbsthilfeinitiativen und Organisationen in den 1970er und 1980er Jahren artikuliert der Paritätische sich selbstbewusst als “Verband der Bürgerinitiativen und Selbsthilfeorganisationen”. 

Meilensteine für soziale Gerechtigkeit

Mit der Veröffentlichung des ersten Armutsberichts am 9. November 1989 unter dem Titel „…wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land….“ bezeichnet der Paritätische 3,1 Millionen Sozialhilfebeziehende in der Bundesrepublik als arm, damals ein Skandal. Erstmals bezieht der Verband dabei lobbyistische Positionen, die über das Fachpolitische im engeren Sinne hinausgehen, darunter für obdachlose Menschen, für Alleinerziehende, für Arbeitslose, für psychisch erkrankte Menschen und schließlich für Millionen von Sozialhilfebezieher*innen. Besonders auf lange Sicht zeigt sich der Erfolg des Formats. Obwohl es fast fünf Jahre braucht, bis der nächste Armutsbericht veröffentlicht wird, werden diese zur festen Instanz einer sozialkritischen Berichterstattung und finden in der breiten Öffentlichkeit Gehör.

Cover des ersten Armutsberichts von 1989.

Kurz zuvor werden im Oktober 1989 nach langen innerverbandlichen Debatten die Grundsätze der Verbandspolitik verabschiedet, für die Identität des Verbandes von herausragender Bedeutung: Getragen von derIdee der Parität, das heißt der Gleichheit aller in ihrem Ansehen und ihren Möglichkeiten, getragen von Prinzipien der Toleranz, Offenheitund Vielfalt, will der Paritätische Mittler sein zwischen Generationen und zwischen Weltanschauungen, zwischen Ansätzen und Methoden sozialer Arbeit, auch zwischen seinen Mitgliedsorganisationen. 

Nach dem Mauerfall: Der Paritätische in West und Ost

Nach anfänglicher Hilfestellung und Beratung, u. a. von sozialen Initiativen aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), geht der Paritätische dazu über, die Gründung eigener Landesverbände vorzubereiten. Der erste Schritt hierzu ist, dass sich am 13. Mai 1990 mehrere in der DDR tätige überregionale Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege zu einer republikweiten „Paritätischen Arbeitsgemeinschaft in der DDR“ zusammenschließen. Ihr Ziel ist dabei, die satzungsmäßigen Aufgaben des Paritätischen als Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege auf dem Gebiet der DDR ausüben. 

Noch bevor das Bundesland gegründet ist, entsteht 1990 der Paritätische Landesverband Brandenburg. Es folgen die Landesverbände Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Zwei Tage nach dem offiziellen Vollzug der Deutschen Einheit und damit endgültigem Ende der DDR, wird der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern gegründet.
Zudem setzt in den 1990er Jahren eine von Politik und Verwaltung forcierte Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen ein. Für private und renditeorientierte Anbieter eröffnen sich neue Geschäftsfelder, Ausschreibungen ersetzen immer häufiger Wahl- und Mitgestaltungsmöglichkeiten der Betroffenen. Der Paritätische ist und bleibt herausgefordert, Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im und gegen den Wettbewerb zu behaupten.

Angekommen in der Berliner Republik

2003 erfolgt der Umzug der Fachabteilungen des Paritätischen Gesamtverbands nach Berlin, die Finanzabteilung verbleibt zunächst in Frankfurt am Main. Der Paritätische Gesamtverband bezieht seine Geschäftsstelle in der Oranienburger Straße 13/14 in Berlin-Mitte. Genau an dem Ort, an dem sich bereits bis 1934 die Geschäftsräume des Verbandes befanden.

Die Debatten um die Einführung des Arbeitslosengeldes II und die Folgen der Agenda 2010, stärken das Profil des Verbandes als sozialanwaltschaftlicher Akteur. Im Mai 2003 heißt es in einer vom Vorstand veröffentlichten Erklärung: „Der Paritätische fordert die Bundesregierung auf, ihre Agenda 2010 unter den Kriterien der Solidarität, der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs zu überarbeiten.“

Auch darüber hinaus bringt sich der Verband mit seiner hohen fachpolitischen Kompetenz immer wieder in öffentliche Debatten ein und begleitet Gesetzesvorhaben kritisch im Sinne seiner Mitgliedsorganisationen. So zum Beispiel in Fragen der Gesundheits- und Rentenpolitik, im Bereich Migration sowie in der Pflege und für die Belange von Menschen mit Beeinträchtigungen.

Neue Bündnisse, neue Aktionsformen

Die 2010er Jahre stehen im Zeichen großer sozial- und gesellschaftspolitischer Herausforderungen, Verteilungsfragen spitzen sich in Folge von Finanz- und Wirtschaftskrise zu. Auch soziale Infrastruktur gerät damit in Gefahr. Der Paritätische wählt nicht zuletzt deshalb neue Aktionsformen und engagiert sich verstärkt in zivilgesellschaftlichen Bündnissen. Den Auftakt bildet 2011 das Engagement im Bündnis „Umfairteilen – Reichtum besteuern“ als gesellschaftliche Bewegung für soziale Gerechtigkeit, um der ungleichen Verteilung von Vermögen im Angesicht weltweiter Krisen eine Plattform zu geben.

 

Stephanie von Becker / Foto: Stephanie von Becker
Erstmals dabei bei der Pride-Demonstration in Berlin am 22. Juli 2023 unter dem Motto “Vielfalt! Offenheit! Toleranz!”: Der Paritätische mit vielen seiner Mitgliedsorganisationen.

Auch der Einsatz gegen Rechtsextremismus, Rassismus und alle Ideologien der Ungleichwertigkeit und für Vielfalt, Offenheit und Toleranz bleibt ein wichtiges Anliegen des Verbandes. 2023 beteiligt sich der Paritätische Gesamtverband mit zahlreichen Mitgliedsorganisationen erstmals an der Berlin Pride | CSD Berlin.

Es geht nur ökosozial

Die Folgen des Klimawandels werden immer stärker wahrnehmbar, auch in Deutschland. Der Paritätische erhebt in dieser Situation seine Stimme: Für einen wirksamen Umwelt- und Klimaschutz und sozialen Ausgleich. Einen Meilenstein markiert in dieser Hinsicht die Mitgliederversammlung des Paritätischen Gesamtverbandes am 27. April 2023: Nachdem der Paritätische sich 2019 auf Initiative entwicklungspolitisch aktiver Mitgliedsorganisationen erstmals in einem Grundsatzpapier zu klimapolitischen Fragen positioniert hat, ist das Thema nun in der Mitte des Verbands angekommen. Das Projekt „Klimaschutz in der sozialen Arbeit stärken“ widmet sich beispielsweise der Unterstützung Paritätischer Mitgliedsorganisationen auf dem praktischen Weg der sozial-ökologischen Transformation.

Stefanie Köhler

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