In Hessen droht eine gesellschaftspolitische Rolle rückwärts
Das Eckpunktepapier von CDU und SPD für die kommende Legislaturperiode hat den Paritätischen Hessen zutiefst alarmiert. Viele Vorhaben, die darin angekündigt werden, sind reaktionär, an einigen Punkten werden rechtspopulistische Forderungen übernommen. Der Tenor des Eckpunktepapiers spiegelt die Verschiebung der politischen Debatte wider, die auch bundes- und weltweit Anlass zur Sorge gibt. „Es droht in Hessen eine gesellschaftspolitische Rolle rückwärts“, sagt Dr. Yasmin Alinaghi, Landesgeschäftsführerin des Paritätischen Hessen.
Der Koalitionsvertrag, den das neue Regierungsbündnis beschlossen hat, ist im Tonfall gemäßigter als das Eckpunktepapier, trägt aber eine konservative Handschrift und lässt einen emanzipatorischen Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen vermissen. Positiv hervorzuheben ist, dass im Koalitionsvertrag ein Aktionsplan gegen Armut und ein Gesetz gegen Leerstand angekündigt werden. „Die Bekämpfung der Armut, insbesondere unter Kindern und Alleinerziehenden, sowie der Wohnungsnot müssen in der kommenden Legislaturperiode zentral sein“, betont Kristina Nottbohm, Referentin für Grundsatzfragen beim Paritätischen Hessen: „Daher begrüßen wir auch die Ankündigung, dass der soziale Wohnungsbau stärker gefördert werden soll. Allerdings darf die Erhöhung nicht nur symbolisch sein, sondern muss sehr deutlich ausfallen, um wirksam zu werden.“
Das Gesellschafts-, Familien- und Frauenbild des Koalitionsvertrags ist traditionell und teilweise widersprüchlich. So findet sich das Bekenntnis gegen Queerfeindlichkeit neben dem Genderverbot in öffentlichen Einrichtungen, obwohl beide unvereinbar sind. Nicht nur an dieser Stelle zeigt sich, dass der „neue Konsens“, den CDU und SPD im Vorwort des Koalitionsvertrags propagieren, einer Quadratur des Kreises gleicht, und noch ausgehandelt werden muss.
Migrationspolitisch kommt der Koalitionsvertrag einer Abkehr von der Genfer Flüchtlingskonvention und damit dem Menschenrecht auf Asyl gleich, Kindeswohl und Jugendschutz für minderjährige Geflüchtete sollen ausländerrechtlich ausgehebelt werden. Wir begrüßen, dass die vom Paritätischen Hessen schon lange für Flüchtlingsunterkünfte geforderten Mindest- und Gewaltschutzstandards eingeführt werden sollen. Ebenso ist gut, dass eine professionelle Struktur der Einzelfallberatung für Migrant*innen in Hessen gefördert werden soll, wie es in vielen anderen Bundesländern schon seit Jahren der Fall ist. Ein progressiver Aspekt ist, dass die künftige Landesregierung Barrierefreiheit als Ziel stark in den Fokus rückt.
Eine inhaltliche Lücke tut sich dagegen beim Thema Suchtberatung und -prävention auf. Beides muss angesichts der Cannabis-Legalisierung dringend gestärkt werden. Auch schweigt der Koalitionsvertrag dazu, dass die Förderung von Kindern mit Behinderung im Rahmen der Frühförderung weiterhin ein erklärtes Ziel der Landesregierung ist. Dieses Bekenntnis wäre wichtig, weil es immer noch Finanzierungslücken in diesem Bereich gibt und die Förderung für Kinder mit Behinderung so früh und verlässlich wie möglich beginnen muss. Die Probleme, die in der Pflege angesichts des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels dramatisch zunehmen, werden im Koalitionsvertrag erkannt, ernst genommen und konkrete Gegenmaßnahmen angekündigt. Eher hilflos, am Thema vorbei und plakativ ist an dieser Stelle dagegen die Ankündigung, dass als Zeichen des Respekts und der Anerkennung in Hessen ein „Großelterntag“ eingeführt werden soll.
Barbara Helfrich ist Pressesprecherin beim Paritätischen Landesverband Hessen
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